#REBOOTGKV

Nach der Krise ist vor der Krise

Von Sarah Kramer, Politik und Kommunikation

Deutschland hat gewählt. Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) hat angekündigt, sich in den ersten 100 Tagen der 21. Legislaturperiode vorrangig um die Themen Wirtschaft, Arbeitsmarkt und Migration kümmern zu wollen. In den Wochen seit der Wahl sind zudem sicherheitspolitische Fragen und die Zukunft Europas verstärkt in den Fokus der mutmaßlichen Regierungsparteien gerückt. Gesundheitspolitik indes spielt eine untergeordnete Rolle – dabei ist der Reformbedarf genau in diesem Bereich dringlicher denn je, auch mit Blick auf den sozialen Zusammenhalt in unserer Gesellschaft.

Deutschland steht nach dem Aus der Ampelkoalition im vergangenen Herbst vor einem politischen Neuanfang. Nach dem Wahlsieg der CDU/CSU sieht es so aus, als würde künftig wieder eine schwarz-rote Koalition aus CDU/CSU und SPD das Land regieren. Keine einfache Aufgabe, denn die Vorstellungen von Schwarz und Rot liegen an vielen Stellen weit auseinander. Es wird Zugeständnisse und Kompromisse geben müssen, auch bei der künftigen Ausrichtung der Gesundheitspolitik.

Milliarden schweres Sondervermögen soll Investitionen möglich machen

Unklar ist derzeit noch, wer künftig an der Spitze des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) stehen wird. Zudem ist offen, welchen Bereichen das Sondervermögen für Infrastruktur in Höhe von 500 Milliarden Euro zukommt, auf das sich die designierten Regierungsparteien bei ersten Sondierungsgesprächen Anfang März geeinigt hatten. Das Sondervermögen soll Investitionen in den kommenden zehn Jahren ermöglichen, wovon unter anderem auch die Krankenhäuser profitieren sollen. Auch war zum Redaktionsschluss dieses Magazins nicht sicher, ob sich die für den Einsatz des Sondervermögens nötige Zweidrittelmehrheit im „alten“ Bundestag der 20. Legislaturperiode für eine entsprechende Grundgesetzänderung findet.

Vorrang für GKV-Finanzen, Versorgungsverbesserungen und Prävention

Entgegen dieser Ungewissheiten ist aus Sicht der Betriebskrankenkassen bereits jetzt klar, welche drei Themen die neue Bundesregierung in der Gesundheitspolitik vorrangig und zügig angehen sollte: Die finanzielle Stabilisierung der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung, strukturelle Verbesserungen in der Versorgung und ein Richtungswechsel weg von der Kuration hin zu mehr Gesundheitsförderung müssen Vorrang vor allem anderen haben.

Gerechte und verfassungskonforme Finanzierung der GKV als oberstes Gebot

In den Kassen der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) klafft ein riesiges Loch: Die Statistik weist für 2024 ein Defizit von mehr als sechs Milliarden Euro aus. Grund für das dicke Minus sind vor allem massive Ausgabensteigerungen, ganz besonders im vierten Quartal. Damit fallen die Verluste noch höher aus, als der GKV-Spitzenverband im Herbst 2024 prognostiziert hatte. Und das bekommen auch die Versicherten zu spüren: Der höchste Anstieg der Krankenkassen-Zusatzbeitragssätze seit 30 Jahren Anfang 2025 hat den Bürgerinnen und Bürgern tief ins Portemonnaie gegriffen und schmälert bei vielen spürbar das Nettoeinkommen auf der Gehaltsabrechnung.

Bürgerversicherung und effizientere Nutzung der Versichertenbeiträge

Prognosen sagen voraus, dass die Beitragssteigerungen in der GKV in absehbarer Zukunft noch drastischer ausfallen werden, wenn die Politik nicht eingreift und durch eine umfassende Reform der GKV-Finanzierung dieser Entwicklung Einhalt gebietet. Ob dies in der neuen Legislaturperiode überhaupt und noch dazu schnell geschieht, erscheint allerdings aufgrund der vom Wahlsieger bereits proklamierten Priorisierung anderer Politikfelder und der außenpolitischen Gemengelage fraglich. Im Hinblick auf die GKV-Finanzen kündigen die Christdemokraten in ihrem Wahlprogramm lediglich an, diese „zukunftsfest“ machen zu wollen und dafür eine effizientere Verwendung der Versichertenbeiträge sowie mehr Wettbewerb zwischen den Krankenkassen anzustreben. Etwas konkreter sind die Aussagen der SPD zur Zukunft der GKV-Finanzen. Die Sozialdemokraten wollen hin zu einer „Bürgerversicherung“ und die privaten Krankenversicherungen (PKV) in den Risikostrukturausgleich zwischen den Krankenkassen einbeziehen. Außerdem will die SPD die sogenannten versicherungsfremden Leistungen, die eigentlich nicht in den Hoheitsbereich der Krankenkassen fallen, aber hohe Kosten verursachen, künftig „ausreichend“ aus Steuermitteln finanzieren. 

Steuerzahler sollten für versicherungsfremde Leistungen aufkommen

Wie viel das am Ende sein wird, bleibt abzuwarten. Grundsätzlich ist dieses Vorhaben ganz im Sinne der Betriebskrankenkassen: Versicherungsfremde Leistungen verfolgen sozialpolitische Ziele und sind daher eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, für die alle Bürgerinnen und Bürger gleichermaßen aufkommen sollten. Der Bundeszuschuss an die gesetzlichen Krankenkassen für versicherungsfremde Leistungen ist längst nicht mehr zeitgemäß und deckt die steigenden Ausgaben bei weitem nicht ab. Die Betriebskrankenkassen halten daher zum einen eine Dynamisierung des Bundeszuschusses für angemessen. Je nach Ausgestaltung und Kostenentwicklung könnte die GKV-Gemeinschaft damit um 300 bis 700 Millionen Euro pro Jahr entlastet werden.

Faire Finanzierung der Krankenkassenbeiträge von Bürgergeldbeziehenden

Zum anderen gehört auch die faire Finanzierung der Krankenkassenbeiträge für Bürgergeldbeziehende dringend auf die politische Agenda. Während Vollzeitbeschäftigte und ihr Arbeitgeber aktuell bereits in den untersten Lohngruppen einen Krankenkassenbeitrag von rund 350 Euro zu entrichten haben, gewährt der Bund sich nach wie vor einen satten Beitragsrabatt: Bei einem Beitrag von knapp 119 Euro liegt dieser bei mehr als 60 Prozent. Würde der Bund fair bemessene Beiträge zahlen, hätten die Beitragszahler der GKV im Gegenzug rund neun Milliarden Euro weniger aufzubringen – und könnten einen rund 0,5 Prozentpunkte niedrigeren Beitragssatz zahlen.

Die Pflege wieder auf solide Füße stellen

Unsere Gesellschaft altert rasant und macht Pflegebedürftigkeit für immer mehr Bürgerinnen und Bürger wahrscheinlich. Prognosen verschiedener Institutionen weisen bereits seit Jahren auf die sozialpolitisch herausfordernde demografische Entwicklung in Deutschland hin. Allerdings zeigt sich bereits heute, dass das BMG mit seinen Vorhersagen mit Blick auf den Eintritt des Pflegerisikos wohl zu optimistisch war: Seit dem Ende der Corona-Pandemie Ende 2022 weist die Statistik Zehntausende Pflegebedürftige aus, die in den langfristigen Prognosen des BMG nicht enthalten waren. Die Flut der Hilfebedürftigen lastet schwer auf der sozialen Pflegeversicherung (SPV) und bringt sie 30 Jahre nach ihrer Einführung an ihre finanziellen und strukturellen Grenzen.

Pflegekassen stehen unter erheblichem Druck

Bereits im vergangenen Jahr musste die damals noch amtierende Ampelkoalition der SPV mit einer Beitragssatzerhöhung um 0,2 Prozentpunkte unter die Arme greifen. Eine kurzfristige Maßnahme, die die Zahlungsfähigkeit der gesetzlichen Pflegekassen nach Berechnungen des BKK Dachverbandes gerade einmal noch bis Ende März absichert, da die Ausgaben die Einnahmen weiter überschreiten. Bereits im Frühjahr wird es zu einem weiteren Liquiditätsengpass kommen, der der neuen Bundesregierung bereits im April zu der von Merz avisierten Regierungsbildung vor Ostern auf die Füße fallen könnte (siehe Grafik).

Anfang März ist laut eines Medienberichts bereits der erste Finanzhilfeantrag einer Pflegekasse beim Bundesamt für soziale Sicherung (BAS) eingegangen, wie Amtschef Frank Plate bestätigt hat. Es sei zu erwarten, dass noch mehr Versicherer in Zahlungsnöte gerieten. Das System der Pflegeversicherung sei „chronisch unterfinanziert“, eine Pleite der SPV nur noch abzuwenden, wenn die neue Bundesregierung schnell handele. Als Sofortmaßnahme müsse der Bund den Pflegekassen die 5,2 Milliarden Euro zurückerstatten, die die Pflegekassen dem Bund für Maßnahmen in der Corona-Pandemie ausgelegt hatten.

Liquidität des Ausgleichsfonds 2025

Private Zusatzversicherung oder Finanzausgleich zwischen PKV und GKV?


Die Zeit drängt also. Doch die Lösung des Problems dürfte angesichts der sehr weit auseinanderliegenden Vorschläge der designierten Koalitionspartner schwierig werden. Während Friedrich Merz eine verpflichtende private Pflegezusatzversicherung einführen will, möchte Noch-Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) die Pflegefinanzen mithilfe einer „Solidaritätsverschränkung“ zwischen sozialer Pflegeversicherung (SPV) und privater Krankenversicherung (PKV) stabilisieren. In einem solchen System würden die privaten Pflegeversicherungen in den Risikostrukturausgleich aller Pflegekassen miteinbezogen werden. CDU/CSU schwebt dagegen eine von Arbeitgebern und Arbeitnehmern paritätisch finanzierte kapitalgedeckte Zusatzversicherung zur Finanzierung der Pflege vor, wie sie der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung bereits 2003 vorgeschlagen hatte. In ihrem Wahlprogramm hatten CDU/CSU zur Finanzierung der Pflege einen Mix aus gesetzlicher, betrieblicher und privater Vorsorge vorgeschlagen.

Betriebskrankenkassen für Risikoausgleich und Einbeziehung der PKV

Aus Sicht der Betriebskrankenkassen muss die Politik insbesondere in der Pflege eine Zeitenwende einleiten und diese auf eine solide finanzielle und strukturelle Basis stellen. Dabei sollte das bisher praktizierte solidarische Umlageverfahren der sozialen Pflegeversicherung beibehalten und nicht durch eine private Zusatzversicherung ausgehöhlt werden. Darüber hinaus halten die Betriebskrankenkassen einen finanzwirksamen Ausgleichsmechanismus für nötig, bei dem die privaten Pflegeversicherungen die ungleich verteilten Risiken bei der Pflegebedürftigkeit mittragen. Pflege ist eine Aufgabe, die auf entsprechend breiter Basis und unter Einbeziehung aller Versicherten (gesetzlich und privat) abgesichert werden sollte.

Rahmenbedingungen für pflegende Angehörige verbessern

Die künftige Bundesregierung sollte die finanzielle Stabilisierung der Pflegeversicherung mit strukturellen Veränderungen flankieren: Die Verbesserung der rentenrechtlichen und finanziellen Rahmenbedingungen für pflegende Angehörige, die hierzulande 86 Prozent aller Pflegebedürftigen versorgen und somit den größten Anteil der Pflegearbeit schultern, gehört dringend auf die Agenda. Darüber hinaus braucht die alternde Gesellschaft mehr präventive Maßnahmen, um den Eintritt von Pflegebedürftigkeit so lange wie möglich zu verhindern oder hinauszuzögern.

Die gesundheitliche Versorgung braucht eine Runderneuerung!

Die gescheiterte Ampelkoalition und deren Vorgänger haben zwar zahlreiche gesetzliche und kostenintensive Änderungen ins Gesundheitssystem gebracht, strukturell jedoch nur wenig an der Gesundheitsversorgung hierzulande verbessert. Im internationalen Vergleich ist diese nur Mittelmaß, was man unter anderem an der Lebenserwartung der Deutschen sehen kann: In Deutschland sterben Bürgerinnen und Bürger im Schnitt ein Jahr und acht Monate früher als die Menschen in anderen Staaten Westeuropas. Auch enden vergleichsweise viele Krankenhauseinweisungen nach einem Herzinfarkt hierzulande für Patienten mit dem Exitus statt mit Genesung. Das muss die künftige Bundesregierung dringend angehen und die brachliegende Versorgung runderneuern, so dass sie für die Bürgerinnen und Bürger spürbare und nachhaltige Verbesserungen bringt.

Arzttermine müssen für alle Patienten verfügbar sein

Dazu gehört vor allem, dass Patientinnen und Patienten flächendeckend und zeitnah Facharzttermine erhalten. Derzeit müssen viele Bürgerinnen und Bürger aufgrund des immer stärker um sich greifenden Personalmangels in der Ärzteschaft zum Teil Wochen oder gar Monate auf einen Arzttermin warten. Vier von zehn Deutschen fühlen sich mittlerweile davon betroffen; politischer Handlungsbedarf besteht hier offensichtlich dringend. Die designierten Regierungsparteien haben das Problem erkannt, bieten in ihren Wahlprogrammen allerdings sehr unterschiedliche Lösungsansätze an. So will die SPD eine Termingarantie der Krankenkassen und Kassenärztlichen Vereinigungen einführen und den Versicherten eine Beitragsreduzierung garantieren, wenn die Termingarantie nicht eingehalten wird. CDU/ CSU schlagen dagegen vor, Haus- und Kinderarztpraxen künftig mit einer größeren Steuerungsfunktion auszustatten und alle Berufsgruppen der Branche von bürokratischen Vorgaben zu entlasten, um Behandlungsprozesse besser zu koordinieren und Wartezeiten zu minimieren.

Terminvergabe muss schnell und diskriminierungsfrei erfolgen

Die Betriebskrankenkassen befürworten eine schnelle, diskriminierungsfreie Terminvergabe. Diskriminierungsfrei bedeutet, dass es keine Rolle spielen darf, ob Bürger etwa gesetzlich oder privat versichert sind. Auch dürfen bestimmte Merkmale der Terminsuchenden wie Alter, Vorerkrankungen oder ein zu erwartender höherer Behandlungsaufwand nicht zur Benachteiligung einzelner Personengruppen führen. Zudem muss eine neue Gesetzgebung hierzu auch Terminvergaben ausschließen, die an Zahlungen von Patienten, Leistungserbringenden oder Dritten geknüpft ist und diese aufgrund der Zahlungen priorisiert. Ebenfalls sollten Terminvergaben nicht zulässig sein, die auf Vergütungsoptimierung ausgerichtet sind oder sich an Verhaltensprofilen der Versicherten orientieren. Zu klären ist außerdem die Frage, wie Verstöße gegen die Vorgaben künftig sanktioniert werden.

Terminplattform für Ärzte und Leistungserbringende

Eine Beitragsreduzierung bei Nicht-Einhalten eines Arzttermins wie von der SPD vorgeschlagen halten die Betriebskrankenkassen nicht für zielführend und nicht umsetzbar; stattdessen schlagen sie eine gemeinsame Plattform vor, auf der Ärzte und Leistungserbringende ihre freien Termine melden können. Kassenärztliche Vereinigungen, Krankenkassen und private Terminvermittler könnten Termine aus dieser Plattform vermitteln.

Versicherte wünschen sich Krankenkassen als Lotse

Die Betriebskrankenkassen fordern seit langem von der Politik, Patienten gezielt zu steuern und auf ihrem Weg durchs Gesundheits- und Pflegesystem zu begleiten. Daher ist der Vorschlag von CDU/CSU für eine bessere Patientensteuerung grundsätzlich zu begrüßen. Versicherte wünschen sich laut Befragungen der Betriebskrankenkassen, dass die Krankenkassen in Zukunft verstärkt eine solche Lotsenfunktion übernehmen. Grundlage einer patientenzentrierten Steuerung sollte eine integrierte, sektorenübergreifende Versorgung sein, die neben Haus- und Fachärzten auch Gesundheitsberufe wie Heilmittelerbringer, Psychotherapeuten, Pflegekräfte, Kliniken und Pflegeeinrichtungen einbezieht.

Lesen Sie hier die Gesamtausgabe des BKK-Magazins Nr. 2 2025

BKK-Magazin "Gesundheitspolitik: Geisterschiff oder neuer Kurs?"

Klasse statt Masse: Ärztevergütung an Behandlungserfolg knüpfen

Aus Sicht der Betriebskrankenkassen ist es dringend von Nöten, in Zukunft die Qualität von ambulanten und stationären medizinischen Behandlungen durch niedergelassene Ärzte und Kliniken auch bei der Vergütung zu berücksichtigen. Klasse statt Masse sollte die Devise im Gesundheitswesen also künftig lauten. Derzeit ist die Branche mangels gesetzlicher Vorgaben meilenweit von diesem Credo entfernt: Tausende von Patienten hierzulande werden erwiesenermaßen massenhaft, unnötig und nur deswegen operiert, weil ein Eingriff viel Geld in die Kassen von Ärzten und Krankenhäusern spült. Dieser Fehlentwicklung sollte Deutschlands künftige Regierung dringend entgegenwirken! Das Bemühen um tatsächlichen Behandlungserfolg muss sich endlich lohnen. Die medizinischen Daten der Versicherten und ihr Feedback müssen dabei die wesentlichen Kriterien sein. 

Gesundheitspolitik braucht einen Paradigmenwechsel: Prävention vor Kuration

Derzeit geben die gesetzlichen Krankenkassen rund 97 Prozent aller ihrer Ausgaben für die Behandlung und Verwaltung von Krankheiten aus. Unser Gesundheitssystem ist also vor allem auf die kostenintensive Behandlung von Krankheiten ausgerichtet, während Prävention in Deutschland ein Nischendasein fristet. Letzteres hat gravierende Folgen für die Bevölkerung: Gemessen an den Pro-Kopf-Ausgaben für das Gesundheitswesen haben die Deutschen im internationalen Vergleich nicht nur eine vergleichsweise kurze Lebenserwartung, sondern sie sterben auch massenhaft aufgrund von unzureichender gesundheitlicher Vorsorge. Rund 124.000 Menschen sind es laut einer Studie der Europäischen Union – etwa so viele, wie Wolfsburg Einwohnende hat. Damit sich daran etwas ändert, fordern die Betriebskrankenkassen einen Paradigmenwechsel in der Gesundheitspolitik, weg von der Kuration und punktuellen Ansätzen zur Vermeidung einzelner Krankheiten, hin zur ganzheitlichen Gesunderhaltung und Gesundheitsförderung. Um Prävention und gesunde Lebenswelten in den Mittelpunkt zu rücken und so in der Lebensrealität der Bürgerinnen und Bürger zu verankern, gehört dieser Aspekt in allen Politikfeldern und jeder einzelnen Gesetzgebung mitgedacht. 

Für die Förderung von Gesundheit braucht es außerdem auch mehr Gesundheitskompetenz von klein auf, damit Bürgerinnen und Bürger Gesundheitsinformationen besser einordnen und die Notwendigkeit von Arztbesuchen besser abschätzen können.

Prävention: Jährlich 124.070 vermeidbare Todesfälle

Volkskrankheiten vorbeugen, mehr Beratung bei psychischen Erkrankungen

Ein entsprechender Richtungswechsel und damit einhergehend ganzheitliches Verständnis ist in den Wahlprogrammen der designierten Regierungsparteien allerdings nicht zu erkennen. Zwar kündigen sowohl CDU/CSU als auch SPD in ihren Wahlprogrammen an, der Prävention künftig einen höheren Stellenwert einräumen zu wollen, nennen aber nur wenige Details für dieses Vorhaben. Beide Parteien sehen in der Gesundheitsvorsorge vor allem die Chance, Volkskrankheiten wie Herzinfarkt oder Schlaganfall vorzubeugen. CDU/CSU wollen zudem die Präventionsangebote in allen Lebensbereichen verbessern und die Eigenverantwortung der Menschen und Gesundheitskompetenz stärken. Auch die SPD will insbesondere die Suchtprävention und die Prävention psychischer Erkrankungen zu stärken. Für junge Menschen in psychisch schwierigen Lagen wollen die Sozialdemokraten bundesweit niedrigschwellige, auch digitale Beratungsangebote etablieren.

Das Dickicht des Sozialgesetzbuches lichten

Das Sozialgesetzbuch (SGB) wird seit mehr als hundert Jahren immer weiter fortgeschrieben und hat sich mittlerweile zu einem bürokratischen Dickicht mit verschlungenen Detaillierungen in 13 Büchern entwickelt, welches kaum jemand in der Republik mehr zu durchdringen vermag. Es enthält immer mehr Regulierungen, die die Qualität der Versorgung aber nicht spürbar verbessern. Fehlanreize in dem Gesetz führen zu immenser Verschwendung von Ressourcen: So gibt es in Deutschland je 100.000 Einwohner 776 Krankenhausbetten – in Schweden genügen hingegen 200, in Spanien 296, in Dänemark 251 und in Italien 312. 

Sektorentrennung im Gesetz sieht Verzahnung und Vernetzung nicht vor

Auch die Verzahnung und Vernetzung unterschiedlicher Leistungserbringender kennt das SGB mit der ihm zugrundliegenden Silostruktur und einem ambulanten und einem stationären Sektor nicht. Versorgungsnetzwerke und Versorgungspfade entlang von Prävention, Versorgung, Rehabilitation und Pflege, die den Menschen einen spürbaren Nutzen und mehr Sicherheit bei der Navigation durch den Versorgungsalltag bieten würden, haben es in einem solchen Setting schwer.

© BKK Dachverband

Einfacher Zugang zu Leistungen und Miteinander statt Gegeneinander

Die Betriebskrankenkassen halten es daher für unerlässlich, dem Sozialgesetzbuch endlich einen neuen Geist einzuhauchen und das Regelwerk neu zu schreiben. Als oberstes Prinzip sollte die Politik dabei den einfachen Zugang aller Versicherten zu medizinischen Leistungen festsetzen. Zudem muss das neue Gesetzbuch niedergelassene Ärztinnen und Ärzte, Krankenhäuser Pflegeeinrichtungen und andere Leistungserbringende verpflichten, medizinische Leistungen gemeinsam zu erbringen und Einigkeit über den Verlauf der Behandlung eines Patienten herzustellen. Patienten müssen in jeder Phase einer Behandlung wissen, an wen sie sich wenden können.

Einheitliches Vergütungssystem für Leistungserbringende

Zudem sollten die künftige Bundesregierung und der Bundestag ein einheitliches Vergütungssystem für alle Leistungserbringenden auf den Weg bringen, welches nicht zwischen ambulant und stationär erbrachten Leistungen unterscheidet und die Qualität der erbrachten Leistungen berücksichtigt. Last but not least muss ein neues Sozialgesetzbuch die gesetzlichen Krankenkassen mit mehr Beinfreiheit ausstatten und ihnen die Möglichkeit geben, untereinander in Wettbewerb um die beste medizinische Versorgung zu treten. Konkurrenz ist der Motor für möglichst viele Innovationen, die das Gesundheitswesen medizinisch und technisch fortentwickeln.