Die Wies’n, das weltberühmte Oktoberfest, ist jedes Jahr auch Treffpunkt eines besonderen Events im Start-Up Ökosystem. Bits & Pretzels ist drei Tage lang Gastgeber für einen besonderen Hotspot der digitalen Transformation. Inspirierend zu sehen, wie Gründer, Investoren und Branchenführende aus der ganzen Welt in München zusammenkommen, um ihr Wissen und ihre Ideen zu teilen, innovative Ideen zu pitchen und sich zu vernetzen. Begeben wir uns auf eine Reise von der Wies’n zu Immanuel Kant.

Dr. Sabine Wiesmüller treibt die nächste Welle von KI-Startups an. Die Chefin des KI-fokussierten Startup-Inkubators Start2 Group, gefördert vom Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz, sieht ihre Digitalagentur als Begleiter und Wegbereiter bei der digitalen Transformation. Ihr Panel bei Bits & Pretzels 2024 hat nicht nur einen Einblick in Strategien für Start-Ups und Regierungen erlaubt. Sichtbar wurde vor allem, was Leadership Mindset bei der Digitalen Transformation von Industrie und Gesundheitswesen ausmacht: User Experience. Die absolute Priorisierung des eigenen Handelns auf positive Nutzererlebnisse.
Die Niederbayerin bekam im Juni für ihre Doktorarbeit den Max-Weber-Preis für Wirtschaftsethik verliehen – eine Dissertation über den ethischen Einsatz von Künstlicher Intelligenz mit dem Titel: „The Relational Governance of Artificial Intelligence – Forms and Interactions”. Es geht um den aus dem Einsatz von künstlicher Intelligenz (KI) in Unternehmen resultierenden Bedarf an Regulierung im privaten Sektor. Ein deep dive in die Herausforderungen für ein verantwortungsvolles Unternehmertum und eine Regierung, die den Rahmen zu setzen hat. Eine Auseinandersetzung mit der Hardware-Seite der Entwicklung, der Datenanalyse und eben auch die ethischen Seiten verantwortungsvoller KI-Innovation umfasst.
Spoiler: Menschen bleiben die Prüf-Instanz – so das Credo der KI Expertin. Sie betont die Bedeutung des „Human in the Loop“, also der menschlichen Aufsicht über KI-generierte Ergebnisse. In einem Umfeld von Angst und Skepsis gegenüber KI lenkt Sabine Wiesmüller den Blick auf die Chancen dieser Technologie.
Das schnelle Tempo der KI-Entwicklung geben die USA vor, wo Innovationen priorisiert werden, bevor man mögliche Einschränkungen in Betracht zieht. Die EU verfolgt einen Ansatz, bei dem Regulierung an erster Stelle steht. In der Präzisionsmedizin, insbesondere bei der Krebsfrüherkennung und der personalisierten Gen- und Zelltherapie in der Onkologie zeigt KI in Deutschland ihr enormes Potenzial. Obwohl in den Jahren zwischen 2021 und 2023 Startup-Finanzierungen um 57 % sanken, sieht man im GenAI-Bereich einen Anstieg um 363% auf 22,3 Milliarden Euro. Das rechnen die Autoren der Studie STARTUPS UND GENERATIVE KI vor, die der Bundesverband Deutsche Startups dieses Jahr herausgegeben hat. Gegen den Trend ist die Zahl neuer Unternehmen mit KI-Fokus in Deutschland 2023 gegenüber dem Vorjahr um 67 % deutlich angestiegen, so die Studie, die auch zeigt, welche Aufholjagd wir vor uns haben: „In den USA wird pro Kopf die 12-fache Menge an Kapital in GenAI-Startups investiert als in Deutschland. Der Abstand bei dieser Schlüsseltechnologie spitzt sich zu und ist etwa doppelt so groß wie bei Startup-Investments insgesamt.“ Dennoch blicken die Autoren selbstverständlich nach vorn: Ein neues Zeitalter beginnt – so der Untertitel der augenöffnenden Studie, die einen Impuls geben will, Chancen dieser neuen Welt zu erkennen und zu nutzen: „Startups gehen voran und sind dabei auf ein starkes Ökosystem angewiesen, das wir mit dieser Studie weiter voranbringen wollen.“
Schau’n wir uns die Roadmap an: Nicht einen Zeitplan, sondern eine strategische Skizze. Wir haben alles zu tun, um der Versuchung, der Überregulation zu widerstehen. Franz Knieps spricht im Leitartikel an, wo Leadership Mindset ansetzen muss: „Wir haben heute ein Übermaß an Bürokratie, die drauf ausgerichtet ist, zu sagen, was nicht geht, was man nicht darf. Der Wahn, jeden Einzelfall durch eine spezielle Vorschrift regeln zu können, führt in die Irre.“ (ab Seite 6) Besinnen wir uns also rasch auf eine Gesetzgebung, die Rechte und Möglichkeiten kodifiziert. Und nicht die Grenzen und Verbote.
Die Politik hat Grundlagen geschaffen. Durch das Digitale-Versorgung-Gesetz konnten wir im Gesundheitswesen endlich Fahrt aufnehmen. Die Weiterentwicklung der Gesetzgebung durch das Digital-Gesetz und das Gesundheitsdatennutzungsgesetz, trifft inzwischen auf eine motivierte digitale Gesundheits-Community und auf Offenheit für digitale Transformation in Krankenkassen, Krankenhäusern, Arztpraxen und in der Pflege. Etliche Startups adressieren diese Akteure und sehen sich dem Paradigmenwechsel hin zur patient journey verpflichtet. KI und cloudbasiertes Arbeiten sind nicht länger der industriellen Produktion vorbehalten. Was also ist zu tun? Es geht um Interoperabilität, und Zusammenarbeit. Um Zugang, Transparenz und Ethik. Die Hausaufgaben sind auf Seite 43 in fünf Punkten zusammengefasst.
Kipp-Punkte werden uns hierzulande als Teil von Bedrohungsszenarien in den Kopf gehämmert. Wie erreichen wir positive tipping-points für die digitale Transformation des Gesundheitswesens? Unterstützen wir die Ausbildung in Hochschulen und für den Arbeitsmarkt: große offene Trainingsdatensätze in den Universitäten sind ebenso erforderlich, wie KI-Ausbildungs- und Schulungsprogramme, um qualifizierte Arbeitskräfte aufzubauen. Unternehmen müssen strategisch investieren: Ressourcen in KI-Projekte lenken, die mit unseren Grundrechten, den eigenen Prioritäten und Wettbewerbszielen im Einklang stehen. Es gilt, Anreize für Innovation zu schaffen: Steueranreize für Start-ups und Unternehmen, die KI entwickeln und nutzen.
Das schnelle Tempo der KI-Entwicklung geben die USA vor, wo Innovationen priorisiert werden, bevor man mögliche Einschränkungen in Betracht zieht.
Ein Blick rüber ins polnische Lodz, das früher ein Zentrum für die Textilindustrie war, kann helfen. Der russische Zar lockte 1816 Bauern, Knechte und Handwerker mit Befreiung vom Militärdienst und sechs Jahren Steuerfreiheit an, um den industriellen Grundstein zu legen für das, was später das Manchester Polens genannt wurde. Lukrative Anreize, Baugebiete im Süden der Stadt und wiederum Steuerfreiheit haben 1823 die ersten deutschen Tuchmacher angezogen, die zumeist aus Sachsen, Böhmen und Schlesien kamen, wie Christian Friedrich Wendisch aus Chemnitz, der bei einer Mühle eine Baumwollspinnerei gründete. Nach dem zweiten Weltkrieg wurde Polen unter den Kommunismus gezwungen, die Textilindustrie wurde staatliche Industrie, die heruntergewirtschaftet wurde und in den 1990er Jahren brutal schnell zusammengebrochen ist. Wie in der Gründerzeit lenkt unser EU-Nachbar Polen seit 2000 globales Kapital und junge Köpfe in eine Sonderwirtschaftszone: Unternehmensgründer werden teilweise von der Körperschafts- und Immobiliensteuer befreit, der alte Bahnhof Łódź Fabryczna wurde als Neubau unter die Erde verlegt, auf dem freien Gelände darüber werden Unternehmen, Forschung und Entwicklung mit der Hochschule und einem Technologiepark gebündelt. Investoren in der Sonderwirtschaftszone Lodz – darunter auch deutsche Unternehmen aus den Bereichen Automobil, Pharma und Hausgeräte – ziehen Absolvent der Universitäten Lodz, Warschau und Breslau an. Universitäten, postsekundäre, technische und berufliche Schulen bilden jedes Jahr 19.000 Absolventinnen und Absolventen aus. In Lodz hat sich sehr gute Expertise angesammelt. Unternehmen wie Siemens, Bosch und Miele arbeiten dort mit einem außergewöhnlichen Talentpool und kombinieren das Potenzial von Start-ups mit dem von Großunternehmen. Polen ist ohnehin das Land mit den meisten IT-Studienabgängern in ganz Mittel- und Osteuropa, besonders stark auf Feldern wie Medizin 4.0 und Medizintechnik sowie Bauen 4.0 und Smart-City-Anwendungen. Wir sehen einen funktionierenden Cluster für eine innovative Community. Und geopolitisch interessant: Krisen enthüllen die Fragilität der Lieferketten. Die Region um Lodz profitiert vom Trend zum Nearshoring mit kurzen Lieferketten innerhalb Europas und als alternativer Standort zur Ukraine oder der Russischen Föderation.
„Es gehört zur Signatur des Humanismus, dass Menschen vor Probleme gestellt werden, die für Menschen zu schwer sind, ohne dass sie sich vornehmen könnten, sie ihrer Schwere wegen unangefasst zu lassen“, sagte Peter Sloterdijk am 17. Juli 1999 auf Schloss Elmau in Oberbayern. Die Rede, die eine intensive öffentliche Debatte über die Anwendung von Biotechnologie auf den Menschen ausgelöst hat, ist im selben Jahr als Buch erschienen: Regeln für den Menschenpark.
Konfuzius, George und Athene – so werden die KIs genannt, die das Leben auf der Welt steuern und die Entscheidungen aller Regierungen treffen. Machen wir mit Neil Sharpson, der in Dublin lebt und Theaterstücke schreibt, a great leap forward ins 23. Jahrhundert. Die Welt wird von Maschinen geregelt und jeder Mensch kann sich selbst digitalisieren und als Upload ewig leben. Menschen optimieren sich radikal zu einem „Contran“ durch eine schnelle und einfache Übertragung des Bewusstseins von einem physischen Körper auf eine Existenz in einer virtuellen Umgebung. Alle sind dann glückselig und frei – so das Versprechen. Damit einher geht die Aufhebung aller rechtlichen Unterschiede zwischen Menschen, die auf altmodische Weise geboren wurden, und denen, die früher als „künstliche Intelligenzen“ bezeichnet wurden – alle sind gleich. Die Welt hat sich überall transformiert. Die ganze Welt? Ein Land verweigert sich dieser Lebensweise. Es verbietet Maschinen, Computer, Software und erlaubt nur realen Menschen dort zu leben. Die Kaspische Republik schwört jedweder Maschine ab. Nur wahre Menschen leben dort. Doch für die Menschen, die dort leben, hat das einen hohen Preis. Denn die Gesellschaft, die sich selbst als letzten Außenposten der Menschheit betrachtet, ist eine zutiefst repressive: Sie zwingt ihre sterblichen Bürger zum Widerstand gegen „die Maschine“, die Regierung lenkt die Bevölkerung mit Angst und Einschüchterung in die gewünschten Bahnen. Wer opponiert oder gar versucht als Upload zu fliehen, riskiert die Auslöschung. Sieht so das Ende unseres Weges mit der KI aus? Balancierend zwischen einer düsteren Retro-Gesellschaft und den Möglichkeiten einer utopischen Zukunft hat Neil Sharpson eine sehr eigene Fusion aus GATTACA und 1984 geschrieben. Ein fesselndes und zutiefst beunruhigendes psychologisches Kammerspiel.
Wie kommen wir da wieder raus? Vom verstörenden Roman „Ecce Machina“ zur Zuversicht, dass wir gemeinsam mit Hilfe von KI im Gesundheitswesen eine personalisierte, werteorientierte, empathische Medizin der Zukunft schaffen können? Ein Gesundheitswesen, das die patient journey gestalten möchte. Und Kassen, die nicht nur bei Krankheitsereignissen bezahlen, sondern ihre Versicherten lebenslang begleiten auf einem Weg, den sie möglichst lange gesund zurücklegen können. Hinterfragen wir auch in den spannenden Debatten über die Chancen und Möglichkeiten der Nutzung von KI die Einseitigkeit, mit der westliche Kultur sich seit Jahrhunderten der Idee der Rationalität unterwirft und das offene Rätsel ausblendet, dass der Mensch, das Leben, die Existenz bleibt. Wolfram Eilenberger hat ein wundervolles Buch geschrieben und im September seine Trilogie einer ungewöhnlichen Philosophiegeschichte mit dem Band über die „Geister der Gegenwart“ großartig vollendet. Gedanken die uns auch in aktuellen Debatten um die Digital-Gesetzgebung der EU wappnen. Es geht darum, Menschen und ihre Rechte in den Mittelpunkt der digitalen Transformation zu stellen. Blicken wir dabei nur auf die technische, instrumentelle Seite der Aufklärung, die Natur zu unterwerfen, den anderen zum Zweck unserer Interessen zu machen, sich höher zu stellen, Normen vorzugeben? Oder können wir in die High-Tech Welt unserer nahen Zukunft ein Erbe der Aufklärung mitnehmen, das wir mit Mündigkeit verbinden? Der Fähigkeit eines jeden Menschen, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen? Damit sind wir bei Kant angekommen und der Frage: Worauf dürfen wir noch hoffen? Darauf zu beharren, dass der Mensch frei ist. Unverfügbar.