Nachhaltigkeit im Gesundheitswesen

Ein Plädoyer für eine ganzheitliche Perspektive

von Dr. Gertud Demmler (Vorständin SBK) und Elke Ruppert (Kommunikation SBK)

Das wichtige Thema Nachhaltigkeit ist längst auch bei uns Betriebskrankenkassen angekommen. Gut so! Der verantwortungsvolle Umgang mit knappen Ressourcen ist eine der zentralen Herausforderungen unserer Zeit. Das gilt ganz besonders auch für das Gesundheitssystem, wo wir seit längerem schon die Auswirkungen knapper werdender Ressourcen spüren. Wirksame Antworten haben wir bisher darauf jedoch nicht gefunden. Gleichzeitig ist das Gesundheitswesen mit einem Anteil von vier bis fünf Prozent an den weltweiten Emissionen von Treibhausgasen ein relevanter Mitverursacher der Klimakrise. Deren Folgen für die Gesundheit wiederum werden das System jetzt und in Zukunft immer stärker belasten.

Dr. Gertrud Demmler, Elke Ruppert (SBK)

Doch was bedeutet diese Entwicklung für uns Betriebskrankenkassen und für das Gesundheitswesen allgemein? Dieser Frage sollten wir uns stärker widmen. Nur mit einem klaren Verständnis eines „nachhaltigen“ Gesundheitswesens können wir uns sinnvoll engagieren und echte, nachhaltige Veränderungen erreichen.
Der Begriff „Nachhaltigkeit“ wird vor allem in seiner ökologischen Dimension verstanden. Doch er reicht sehr viel weiter, wie das häufig genutzte „Drei-Säulen-Modell“ proklamiert. So heißt es in der Veröffentlichung des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestags aus dem Jahr 2004: „Die drei Säulen Ökologie, Ökonomie und soziale Ziele sollen gleichberechtigt und gleichwertig zueinanderstehen und so eine dreidimensionale Perspektive für eine nachhaltige Gesellschaftspolitik formen. Ziel dabei ist die Sicherstellung und Verbesserung ökologischer, ökonomischer und sozialer Leistungsfähigkeit. Diese bedingen einander, so die Kommission, und können nicht teiloptimiert werden.“ 
„Teiloptimierung“ jedoch ist das, was in unseren Augen an vielen Stellen geschieht. Einzelne Maßnahmen werden ergriffen und mit viel Engagement umgesetzt. Was fehlt, ist eine ganzheitliche Nachhaltigkeitsperspektive für das Gesundheitswesen, in der die sozialen und ökonomischen Aspekte gemeinsam mit den ökologischen gedacht werden und die Grundlage für das Handeln der Akteurinnen und Akteure bilden.

Nachhaltige Strukturen im Gesundheitswesen im Sinne unserer Versicherten 

Gerade wir gesetzlichen Krankenkassen sind gut beraten, den Nachhaltigkeitsbegriff weiter zu fassen und die Säulen Ökonomie und soziale Ziele in den Mittelpunkt unserer Bemühungen zu rücken. Denn unser ureigener Auftrag ist zutiefst nachhaltig, lautet er doch, „die Gesundheit der Versicherten zu erhalten, wiederherzustellen oder ihren Gesundheitszustand zu bessern.“ Diesen Auftrag lösen wir als Solidargemeinschaft, die allen Versicherten – unabhängig von ihren finanziellen Möglichkeiten – den Zugang zu Gesundheitsleistungen und medizinischer Versorgung sichert. Dieser Purpose hat sich seit Entstehen der Betriebskrankenkassen Mitte des 18. Jahrhunderts nicht geändert. Damals wurden die ersten Betriebskrankenkassen gegründet, „um eine soziale Absicherung für die Arbeiter und deren Familien gewährleisten zu können.“ An diese lange Tradition anknüpfend muss es für uns Betriebskrankenkassen unter dem Dach der Nachhaltigkeit auch und vor allem darum gehen, das solidarische Gesundheitssystem für die zukünftigen Generationen zu erhalten. Wir müssen uns für nachhaltige Strukturen einsetzen, die sicherstellen, dass die begrenzten Ressourcen des Systems so eingesetzt werden, dass für unsere Versicherten die qualitativ beste Versorgung heute und in Zukunft möglich ist. Dafür müssen wir Strukturen und Anreizsysteme hinterfragen und mit der Versichertengemeinschaft immer wieder neu verhandeln. Was möchten wir uns leisten? Wo möchten wir investieren? Wo können wir Abstriche machen? Es wird ein harter Prozess, aber wir sollten ihn zügig einläuten. 
Wichtig ist uns zu betonen: Wir verstehen unsere Perspektive, die alle drei Säulen der Nachhaltigkeit einbezieht, nicht als Gegenprogramm zum ökologischen Wandel der Gesellschaft und des Gesundheitswesens. Es ist selbstverständlich, dass wir Krankenkassen gemeinsam mit allen Akteurinnen und Akteuren unseren Beitrag zum Schutz einer gesunden Umwelt beitragen. Die damit verbundene unumgängliche Transformation des Gesundheitswesens sehen wir als Chance für einen Strukturwandel im Sinne unserer Versicherten. Wir plädieren dafür, nicht wieder in das bekannte Muster eines „Klein-Kleins“ verschiedener Maßnahmen verfallen. Die Notwendigkeit zur Nachhaltigkeit gibt einen Impuls zu einer tiefgreifenden Veränderung. Dafür brauchen wir einen ganzheitlichen Blick auf das System.

Ökölogische und soziale Veränderungen erfordern ein resilientes System

Dass diese Veränderung nötig ist, steht außer Frage. Die Herausforderungen, die die Zukunftsfähigkeit unseres solidarischen Gesundheitssystems bedrohen, sind vielfältig. Viele der Probleme sind seit Jahren oder gar Jahrzehnten bekannt und dennoch finden wir nach wie vor keine wirksamen Rezepte dagegen. Zum einen wachsen unsere Aufgaben durch eine alternde und damit kränkere Gesellschaft. Zum anderen trifft die erhöhte Zahl an Kranken und Pflegebedürftigen auf ein erschöpftes und schrumpfendes Personal in den Gesundheitsberufen. Hinzu kommt, dass sich das Krankheitsspektrum durch den Klimawandel erweitern wird, zum Beispiel durch eine Zunahme von Allergien, Hitzeschäden oder durch die zunehmende Gefahr weiterer Pandemien. Nicht zuletzt stehen wir vor steigenden Kosten der Gesundheitsversorgung, die sich bei einem verlangsamten Wirtschaftswachstum nur noch schwer auffangen lassen. 

Leitplanken eines nachhaltigen Gesundheitssektors


Wie entkommen wir nun also der Spirale aus immer mehr Herausforderungen, für die wir längst tragfähige Antworten hätten finden sollen? Wie schaffen wir nachhaltige Strukturen, die uns Lösungswege aufzeigen, Spielräume lassen für kreative Ansätze und in unsicheren Zeiten Zukunftssicherheit für die Versorgung bringen? Diese Fragen sollten wir im Kern der Diskussion um ein nachhaltiges Gesundheitswesen stellen, das ist unsere feste Überzeugung. Natürlich gibt es darauf keine einfachen Antworten. Wir glauben aber, dass es Leitplanken gibt, anhand derer wir langfristige Lösungen entwickeln können, um die sozialen, ökonomischen und ökologischen Säulen eines ganzheitlichen Nachhaltigkeitsbegriffs in Einklang zu bringen.

1. Fokus auf dem Menschen

Im Fokus einer Neuausrichtung des Gesundheitswesens stehen die Versicherten bzw. Patientinnen und Patienten. Der größtmögliche Nutzen für sie sollte die Richtschnur für die angestrebte Transformation sein. Das mag zunächst banal klingen. Konsequent umgesetzt, birgt ein am Versicherten ausgerichtetes Gesundheitswesen geradezu revolutionäres Potential: Sektorale Grenzen, Fallpauschalen, die Ausgestaltung der Telematikinfrastruktur sind nur einige Beispiele für Strukturen und Prozesse, bei deren Einrichtung nicht der Nutzen für den Patienten im Mittelpunkt stand. In einem am Versicherten orientierten System gehört die Ausgestaltung all diese Bereiche auf den Prüfstand.

Eine wichtige Voraussetzung für ein patienten- bzw. versichertenzentriertes System ist, dass Versicherte eine aktivere Rolle einnehmen, und in die Lage versetzt werden, Gesundheitsentscheidungen kompetent zu treffen. Dafür braucht es neben der eigenen Gesundheitskompetenz Menschen, die sie dabei begleiten. Diese Rolle fällt – je nach Situation – den Leistungserbringenden, den Pflegenden oder den Menschen in der Beratung der Krankenkassen zu. Sie sind der „Faktor Mensch“, der im Versorgungsgeschehen den entscheidenden Unterschied für die Versicherten macht. Denn die Fähigkeit des Menschen zur empathischen Interaktion ist in der Versorgung und Beratung unersetzlich. In einem nachhaltigen Gesundheitswesen sind wir gut beraten, die „Ressource Mensch“ mit Bedacht einzusetzen. Es gilt, Freiräume für Menschlichkeit sowie ein Arbeitsumfeld zu schaffen, in dem sich Menschen entfalten können. Dies kann nur gelingen, wenn wir Prozesse so digitalisieren, dass sie den Handelnden echte Entlastung bringen. Gleichzeitig müssen wir die Arbeitsaufteilung zwischen dem medizinischen Personal neu austarieren, um gerade den Pflegenden eine befriedigende und sinnstiftende Ausübung ihrer Tätigkeit zu ermöglichen. Ein solches Arbeitsumfeld, das legen auch Studien nahe, wäre eine wirksame Antwort, um den Fachkräftemangel in der Pflege abzumildern. Zudem – und hier kommen wir wieder zum Ausgangspunkt der Versichertenzentrierung – entstünde ein Versorgungsumfeld, in dem Heilung und Selbstbestimmung befördert werden.

Für uns Betriebskrankenkassen muss es unter dem Dach der Nachhaltigkeit auch und vor allem darum gehen, das solidarische Gesundheitssystem für die zukünftigen Generationen zu erhalten. 

2. Qualitätstransparenz als Grundlage eines bewussten Ressourceneinsatzes

Versicherten- bzw. Patientenzentrierung als Herzstück eines nachhaltigen Gesundheitswesens – dieser Forderung stimmen vermutlich sehr viele Akteurinnen und Akteure der Gesundheitspolitik zu. Doch über die Frage, was diese Forderung für Konsequenzen nach sich zieht, kann man trefflich streiten. Um wirklich versichertenzentriert zu agieren, ist es daher unumgänglich, Rückkopplungsprozesse mit den Versicherten in allen Bereichen des Gesund-heitswesens zu etablieren. Einfach gesagt: Nur, wenn wir die Versicherten fragen, wissen wir, was sie empfinden, was sie brauchen und ob es ihnen nach einem Kontakt mit dem Gesundheitswesen tatsächlich bessergeht. Auch das mag eine eher einfache Erkenntnis sein. Umso erstaunlicher ist es, dass Befragungen von Versicherten und Patientinnen und Patienten im Gesundheitswesen nach wie vor die Ausnahme sind. Wir leisten uns eines der teuersten Gesundheitssysteme der Welt, ohne systematisch zu verfolgen, welche Qualität dieses System für die Menschen liefert, die es versorgt.
Die Qualitätsmessung in allen Bereichen des Gesundheitswesens – für die wir neben Befragungen auch dringend verlässliche Qualitätsindikatoren etablieren und öffentlich machen müssen – steht für uns im Kern der Nachhaltigkeitsdebatte. Ist sie doch untrennbar verknüpft mit der „Mutter aller Nachhaltigkeitsfragen“, nämlich der nach dem Verbrauch und der Allokation knapper Ressourcen. Nur wenn wir verlässliche Daten darüber haben, welche Angebote, Therapien, Krankenkassen oder Leistungserbringenden eine gute Qualität im Sinne der Versicherten liefern, können wir sinnvolle Entscheidungen darüber treffen. Wo sind knappe Ressourcen gut eingesetzt? Wo müssen wir noch Verbesserungen erreichen? An welcher Stelle sollten wir besser keine Mittel mehr verwenden? Fundierte Antworten finden wir nur, wenn wir Transparenz über die klassischen Systemebenen Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität der Angebote im Gesundheitswesen ausbauen. Diese Indikatoren gilt es dann, mit den konkreten Erfahrungen und Bedürfnissen der Versicherten zu verbinden. Qualitätstransparenz ist somit eine wichtige Basis für die Entscheidung darüber, was wir uns in der Versichertengemeinschaft leisten möchten. 
Transparenz über Einsatz und Wirkung von Ressourcen ist auch ein scharfes Schwert im Kampf gegen die im Gesundheitswesen verbreitete Verschwendung. Wir alle kennen Geschichten von unnötigen Mehrfachbehandlungen, Medikamenten, die ungenutzt im Müll landen, Operationen, die im Ruf stehen mehr zu schaden als zu nutzen und jüngst von wertvollen Impfstoffen, die systematisch weggeworfen werden, während sie im Rest der Welt fehlen. Diese verbreiteten Beispiele von Fehl- und Überversorgung berühren alle drei Säulen der Nachhaltigkeit. Ihre Ursachen liegen oft in falschen Anreizen, die sich an bloßen Mengen und nicht an Qualität orientieren. Die fehlende Datenbasis über Wirksamkeit und Einsatz der Maßnahmen im „echten“ Leben verstärkt den fehlgeleiteten Verbrauch noch. 
Nicht zuletzt ist Qualitätstransparenz auch Voraussetzung für mehr Patientenzentrierung. Zum einen ermöglicht erst Transparenz mündige Entscheidungen der Versicherten und damit deren aktivere und selbstbestimmtere Rolle. Zum anderen rückt der Versicherte durch im System verankerte Feedbackprozesse automatisch stärker in den Mittelpunkt des Interesses.

Menschlichkeit und Qualität im Zentrum eines umfassenden Nachhaltigkeitsverständnisses für das Gesundheitswesen

Eine Qualitätsorientierung, die vom Menschen ausgeht, ist für uns der Wegweiser für ein nachhaltigeres Gesundheitswesen. Das bedeutet nicht weniger als die Abkehr von einem System, in dem vor allem Menge und der Einsatz von Ressourcen belohnt wird. Indem wir Qualität im Sinne der Patientinnen und Patienten zum Maßstab des Ressourceneinsatzes machen, begeben wir uns auf den Weg zu einem sozialeren Gesundheitswesen: Die Belange der Versicherten treten stärker in den Fokus. Auch die Interessen der Menschen, die im Gesundheitswesen arbeiten, werden aufgewertet. Denn ohne sie ist eine qualitative und menschliche Versorgung und Beratung nicht möglich. Auf der ökonomischen Ebene finden wir bessere Antworten auf die Frage, wofür wir unsere knappen Ressourcen einsetzen möchten. Können wir doch auf Basis von Indikatoren und Befragungen sehen, wie Ressourcen im Sinne der Menschen eingesetzt werden, und wo wir umsteuern müssen. Auf dieser Grundlage können wir auch wirksame Strategien gegen Verschwendung entwickeln, was neben der ökonomischen genauso eine ökologische Dimension hat. 

Betriebskrankenkassen als zentrale Akteurinnen des nachhaltigen Wandels

Wir Betriebskrankenkassen können und müssen in der nachhaltigen Transformation des Gesundheitswesens eine starke Rolle einnehmen. Dabei können wir an eine lange Tradition nachhaltigen Handelns knüpfen. Unser Geschäftsmodell ist seit jeher auf Nachhaltigkeit ausgelegt: Wir achten auf eine hohe Qualität der Versorgungsangebote bei gleichzeitig wirtschaftlichem Einsatz der eingezahlten Beiträge. Wir pflegen ein langfristiges Verhältnis mit unseren Versicherten und keine auf kurzfristige Gewinne ausgerichtete Geschäftsbeziehung. Deshalb und aufgrund unserer Position an der Schnittstelle zwischen Versorgung und Versicherten glauben wir fest daran, dass die GKV einen wesentlichen Beitrag leisten kann, unser Gesundheitswesen nachhaltiger zu gestalten. In dieser wichtigen Rolle dürfen wir den ganzheitlichen Blick auf die großen „Nachhaltigkeitsbaustellen“ des Gesundheitswesens nicht aus den Augen verlieren. Um sie anzugehen, müssen wir den Finger in die Wunden legen und mit konstruktiven Vorschlägen den Wandel des Gesundheitssystems prägen.