Als Kaiser Wilhelm II. am 19. Juli 1911 seine Unterschrift unter die Reichsversicherungsordnung setzte, war dies kein großer Schritt für die Deutschen. Das neue Gesetz räumte vielmehr mit der Wucht von 1.805 Paragraphen in sechs sogenannten Büchern mit juristischen Zweifelsfällen der Bismarck‘schen Sozialgesetzgebung auf. Der damalige Präsident des Reichsversicherungsamtes äußerte allerdings schon seinerzeit die Befürchtung, dass das komplizierte Gesetzeswerk „die Vertrautheit der Massen“ mit der Materie erschweren würde.



Die Reichsversicherungsordnung gilt noch heute. Sie ist nach Paragraph 68 SGB Erstes Buch noch immer ein „Besonderer Teil“ des heute geltenden Sozialgesetzbuches, auch wenn nur noch wenige Paragraphen ihre Gültigkeit behalten haben. In mehr als 110 Jahren wurde von allen Regierungen immer wieder kräftig reformiert. Und ab 1975 überführte man Regelungen der Reichsversicherungsordnung abschnittweise in das Sozialgesetzbuch – ein Prozess, der bis zum Ende der 1980er Jahre intensiv betrieben, aber letztlich nie völlig zum Abschluss gebracht wurde.
Von Beginn an heftige Auseinandersetzungen
Änderungen waren meist heftig umstritten, schon, weil die Versicherten befürchten mussten, Leistungen nicht mehr bezahlt zu bekommen. Aber auch, weil sich die Machtverhältnisse schnell zementierten: Bereits 1923 übernahm der Reichsausschuss der Ärzte und Krankenkassen die Aufgabe, über die Wirtschaftlichkeit von Verordnungen und Behandlungen zu wachen – bis heute die Aufgabe seines Nachfolgers, des Gemeinsamen Bundesausschusses.
Die Kassenärztlichen Vereinigungen wurden 1931 gegründet. Sie verhandelten fortan die Honorare mit den Krankenkassen und übernahmen im Gegenzug den „Sicherstellungsauftrag“, also die Aufgabe, eine bedarfsgerechte Versorgung der Versicherten sicherzustellen.
Nach mehr als einem ganzen Jahrhundert voller Reformen ist vieles beim Alten geblieben: Der Gemeinsame Bundesauschuss hat zwar die Krankenhäuser aufgenommen, aber nicht die Versicherten. Keine geringere Institution als das Bundesverfassungsgericht äußerte daher Zweifel an der demokratischen Legitimation des Gremiums. Die Kassenärztlichen Vereinigungen verhandeln bis heute hart um Honorare, kommen aber nach Ansicht vieler Experten ihrem Sicherstellungsauftrag nicht ausreichend nach – wie Ärztemangel, Aufnahmestopps für Neupatienten und lange Wartezeiten auf Arzttermine zeigen. Und das Sozialgesetzbuch ist auf 13 sogenannte „Bücher“ angewachsen – der Präsident des Reichsversicherungsamtes würde sich vermutlich im Grabe umdrehen.
Immer dicker, kleinteiliger und voller Fehlanreize
Das SGB wird immer wieder aufs Neue fortgeschrieben und weiter detailliert. Zum Beispiel mit einem anachronistischen, kafkaesken ärztlichen Vergütungsrecht, das kaum noch jemand versteht. Wer mag, schlage nach in den Paragraphen 85 folgende des Sozialgesetzbuches.
Reformen sind immer schwerer durchzusetzen – und das Gesundheitswesen leidet darunter. Während in Dänemark oder Schweden tiefgreifende Reformen nach ausführlichen, gesamtgesellschaftlich geführten Diskursen möglich sind, schleppt sich Deutschland mit Reformen der Krankenhausstruktur, der Digitalisierung oder einer effizienten Organisation der Gesundheitsversorgung dahin.
Kurzum: Das Sozialgesetzbuch hat sich zu einem bürokratischen Monstrum entwickelt, das das Gesundheitswesen über das gesunde Maß hinaus reguliert, ohne die Qualität der Versorgung der Patientinnen und Patienten spürbar zu verbessern.
Fehlanreize führen zu immenser Verschwendung von Ressourcen: In Deutschland gibt es je 100.000 Einwohner 776 Krankenhausbetten – in Schweden genügen hingegen 200, in Spanien 296, in Dänemark 251 und in Italien 312. Natürlich kämpfen die deutschen Kliniken mit ihrer Rentabilität – und sind überwiegend nahezu pleite.
Maximale Verwirrung bei minimaler Vernetzung
Verzahnung und Vernetzung - wen wundert es bei dieser Entstehungsgeschichte des Gesetzes - gehören nicht zu den Stärken des Sozialgesetzbuches. Und so ist es ebenfalls nicht verwunderlich, dass unsere heutige Versorgungslandschaft noch weitgehend aus „Sektoren-Silos“ besteht. Nebeneinander statt Miteinander ist die Devise. Versorgungsnetzwerke und Versorgungspfade entlang von Prävention, Versorgung, Rehabilitation und Pflege, die den Menschen einen spürbaren Nutzen und mehr Sicherheit bei der Navigation durch den Versorgungsalltag bieten würden, haben es in einem solchen Setting schwer.
Übrigens: Auch die strukturelle Trennung von gesetzlicher Krankenversicherung (GKV) und sozialer Pflegeversicherung (SPV) - ebenfalls historisch begründet - schlägt in die gleiche Kerbe.
Die Konsequenz: immense Verschwendung von Ressourcen
Konsequenz ist ein weiterer Fehlanreiz: Patienten werden hierzulande oft stationär behandelt, obwohl es auch ambulant möglich wäre. Aber der häufigere Einsatz minimalinvasiver Operationsmethoden in der ambulanten Medizin ist schwer durchsetzbar in einem System, in dem zu viele Betten warten und Krankenhäuser und Ärzte in verschiedenen Vergütungssystemen erbittert um knappe Budgets konkurrieren. Und so kommt es je 1.000 Einwohner in Deutschland zu 217 Krankenhauseinweisungen, in Dänemark aber nur zu 134. Und die durchschnittliche Krankenhausverweildauer je Einweisung liegt in Deutschland bei 8,8 Tagen, in den Niederlanden hingegen bei 4,5.
Auch bei der Zahl der Operationen zum Austausch des Hüftgelenks liegt Deutschland im EU-Vergleich an der Spitze, mit OPs für künstliche Kniegelenke an dritter Stelle. Kritische Stimmen bemängeln dabei eine Überversorgung, die durch finanzielle Fehlanreize in der Krankenhausvergütung mitverursacht wird.
Das System verschwendet teure und knappe Ressourcen – und ist dementsprechend teuer. Während die Gesundheit im Nachbarland Dänemark 10,6 Prozent des BIP kostet, sind es hierzulande 12,9 Prozent.
Das Sozialgesetzbuch muss neu geschrieben werden
Maßgebliche Experten des deutschen Gesundheitswesens bezweifeln die Reformierbarkeit des Sozialgesetzbuchs. Die Betriebskrankenkassen sehen das auch so und rufen dazu auf, das Gesetzeswerk neu zu schreiben und dem Sozialgesetzbuch einen anderen Geist einzuhauchen: transparenter, prägnanter, offen für Neues und Digitales und vor allem für eine bessere Versorgung.
Ein künftiges Sozialgesetzbuch muss folgende Prinzipien beachten:
Der einfache Zugang aller Versicherten zu medizinischen Leistungen muss als oberstes Prinzip festgeschrieben werden. Für Hilfebedürftige inakzeptable Wartezeiten sind auszuschließen. Medizinische Innovationen müssen allen Versicherten innerhalb kürzester Zeit zugänglich sein. Die Qualität der medizinischen Versorgung ist oberstes Gebot.
Die einzelnen Versorgungsbereiche - wie niedergelassene Ärzte, Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen - müssen verpflichtet werden, medizinische Leistungen gemeinsam zu erbringen und Einigkeit über den Verlauf der Behandlung eines Patienten herzustellen. Patienten müssen in jeder Phase einer Behandlung wissen, an wen sie sich wenden können. Eine solche vernetzte und integrierte Versorgung muss im Hinblick auf Qualität ständig evaluiert werden. Das bedeutet: Schluss mit den „Sektoren-Silos“ und hin zu Versorgungsnetzen und Versorgungspfaden, die den Patientinnen und Patienten Orientierung und Sicherheit geben.
Die Vergütung für die Leistungen von Ärzten, Krankenhäusern und anderen Leistungserbringenden muss nach einem einheitlichen Vergütungssystem erfolgen – unabhängig davon, ob die Leistungen ambulant oder stationär erbracht werden. Die Vergütung von Ärzten, Kliniken und anderen Leistungserbringern muss nach erbrachter Qualität erfolgen und überdies Anreize für die ressourcenschonendste Behandlungsform geben.
- Der Gesetzgeber muss den Krankenkassen die Möglichkeit geben, in einen Wettbewerb untereinander um die beste medizinische Versorgung zu treten, um so viele Innovationen wie möglich hervorzubringen. Nur mit mehr Beinfreiheit für Kassen kann sich das Gesundheitswesen mit dem medizinischen und technischen Fortschritt mit entwickeln.
BKK Magazin 1/2024: Editorial von Franz Knieps, Vorstandsvorsitzender des BKK Dachverbandes
https://www.bkk-dachverband.de/publikationen/bkk-magazin/bkk-magazin-1/2024Ärztezeitung vom 26.11.2019: Franz Knieps, Vorstandsvorsitzender des BKK Dachverbandes, fordert Neustart des SGB V
www.aerztezeitung.de/Politik/Knieps-fordert-Neustart-des-SGB-V-404439.html