Politik

Die Beiträge steigen, die Politik schweigt

Torsten Dittkuhn, Politik und Kommunikation

„Systemrelevant“ – ein Begriff, der während der Corona-Pandemie durch die Medien geisterte, als es um die Priorisierung der zu impfenden Berufsgruppen ging. Die überwiegende Mehrheit wird diesen Begriff im Rahmen der damaligen Medienberichterstattung zum ersten Mal gelesen oder gehört haben. Die Gesundheits- und Pflegeberufe gehören verständlicherweise dazu. Schließlich ging und geht es um die Aufrechterhaltung der Gesundheitsversorgung. In der Gesundheitspolitik geht es darum, die Rahmenbedingungen dafür zu schaffen. Und obwohl vom Gesundheitssystem – und von der Gesundheit insgesamt – sehr viel abhängt, was die Wirtschaft und den Geldbeutel der Beitragszahlerinnen und Beitragszahler beeinflusst, konnte man weder im Wahlkampf zur Bundestagswahl noch während der Sondierungsgespräche und Koalitionsverhandlungen und auch nicht im vorliegenden Koalitionsvertrag den Eindruck gewinnen, dass die Gesundheitspolitik im Berliner Politikbetrieb eine gewisse Systemrelevanz hat.

Applaus

Auf die gesetzliche Krankenversicherung kann man sich verlassen. Das zeigen auch Umfragewerte zum Vertrauen der Versicherten in ihre Krankenkasse. Hier ist die GKV eine „echte Bank“ – manchmal wird ihr das in gewisser Weise auch zum Verhängnis, weil die Politik dies wörtlich nimmt, wenn es beispielsweise um versicherungsfremde Leistungen oder politische Ideen geht, die aus Beitragsgeldern finanziert werden (sollen). Hier zeigt sich eine gewisse Diskrepanz zwischen Verlässlichkeit und der Wertschätzung dieser Verlässlichkeit durch die Politik. Die Frage, die sich nun zwangsläufig stellt, wenn man darüber nachdenkt, welchen Stellenwert gesundheitspolitische Themen und konstruktive Vorschläge aus dem GKV-System im Berliner Politikbetrieb haben, ist: Wie lässt sich das messen? Gibt es Parameter, an denen man das festmachen kann? Objektiv betrachtet eher nicht. Aber manchmal hilft bei den Überlegungen der Zufall, und jemand sagt etwas Erhellendes dazu. Zum Beispiel Ex-Gesundheitsminister Jens Spahn:

Ausgabendynamik und Arbeitsmarkt: Noch nie waren so viele Menschen sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Aber es ist unmöglich, so viele Menschen so schnell in Arbeit zu bringen, wie die GKV Ausgaben steigen, damit diese Rechnung aufgehen kann.

   

„Das muss man zugeben: Bei den sozialen Sicherungssystemen haben wir noch eine Riesenbaustelle“, sagte Spahn am 10. April im ARD-Morgenmagazin über den Koalitionsvertrag. Und er fügte den wichtigen Satz hinzu: „Wir haben uns auf das Allerdringendste konzentriert.“
Mit „das Allerdringendste“ sind hier Migration und Asyl sowie die Ankurbelung der Wirtschaft gemeint. Das ist schonungslos ehrlich und zeigt, dass Politikfelder Priorität haben, die sich zwar einerseits öffentlichkeitswirksamer „vermarkten“ lassen, die andererseits aber nebulös bleiben. Vor allem aber zeigen Studien des Rechtswissenschaftlers und Sozialexperten Thomas Klie, „dass vor allem in Regionen, in denen die gesundheitliche und pflegerische Versorgung nicht sichergestellt ist, das Systemvertrauen der Bevölkerung deutlich irritiert ist. Das betrifft auch das Vertrauen in die Demokratie. Die Frage, ob für mich gesorgt sein wird, wenn es mir schlecht geht und ich mit einer guten gesundheitlichen Versorgung rechnen kann, ist wesentlich elementarer als Zuwanderungsfragen und das durch ihre mediale Aufbereitung beeinträchtigte Sicherheitsgefühl,“ so Klie in einem Interview mit der Apotheken-Umschau am 15. April. Angesichts der Wahlergebnisse ist die von Jens Spahn angesprochene Schwerpunktsetzung der Koalitionsparteien CDU, CSU und SPD offensichtlich zwar geeignet zu polarisieren, sie geht aber an den eigentlichen Herausforderungen, die die Menschen unmittelbar bewegen, zumindest teilweise vorbei.

Hinzu kommt, dass sich die Wirkungen politischer Maßnahmen in diesen Politikfeldern bestenfalls langfristig zeigen. Das gilt natürlich auch für viele Reformvorhaben im Gesundheitswesen – so ehrlich muss man sein. Dennoch gibt es politische Maßnahmen, die die gesetzlichen Krankenkassen, die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler sowie die Wirtschaft kurzfristig und unmittelbar entlasten können. Einige davon liegen seit Jahren im Bundesgesundheitsministerium auf dem Tisch. Und einige davon standen auch schon mehrfach in einem Koalitionsvertrag, wurden aber letztlich nicht umgesetzt. Im aktuellen Koalitionsvertrag sind sie hingegen nicht mehr zu finden. Fast zu erwarten und eigentlich nur konsequent, wenn man so möchte. Konsequent deshalb, weil die gesamte Politik seit dem Ende der Ampel-Koalition die drängenden, gesamtgesellschaftlich relevanten Fragen von Gesundheit und Pflege schlichtweg ignoriert hat und so tut, als sei heute noch alles in Ordnung. Man hofft darauf, dass es morgen schon wieder gut wird und sich die Probleme quasi „über Eck“ lösen lassen. Eine Illusion, von der später noch die Rede sein wird.

Gesundheit und Pflege nur Randnotiz

Auch in den Inszenierungs- und Regieplänen der Medien und den vorbereiteten Statements der Kanzlerduelle, des Quadrells und auch in der TV-Schlussrunde des Bundestagswahlkampfes kamen die Themen Gesundheit und Pflege weitgehend nicht vor. Obwohl parallel viele Verbände und Berufsgruppen aus dem Gesundheitswesen sowie Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber auf die prekäre Situation unseres Solidarsystems hingewiesen und – auch im Wording – mehr als deutlich gemacht haben, dass wir im Prinzip nur drei Schritte vom Abgrund entfernt sind.

Zur Verdeutlichung kann man sich die Zahlen auf der Zunge zergehen lassen: Die drei genannten TV-Sendeformate hatten einen Umfang von fast sechs Stunden Sendezeit, aber nur magere 23 Minuten wurde über die Themen Gesundheit (10 Minuten) und Pflege (13 Minuten) gesprochen. Statistisch gesehen sind das gerade einmal 6,3 Prozent, obwohl man über diese Themen abendfüllend diskutieren könnte. Das ist eine eher traurige Bilanz in einer Zeit, in der das Gesundheits- und Pflegesystem vor gravierenden Problemen steht. Ein sehr lautes Schweigen im Wahlkampf.

Dabei zeigt die Degradierung zum Randthema mit einer „Darum kann man sich bei Gelegenheit immer noch kümmern!“-Haltung, dass die Tragweite der politischen Nicht-Entscheidungen offenbar nicht erfasst wird. Denn Tatsache ist, dass immer weiter steigende Sozialabgaben dem Wirtschaftsstandort Deutschland und seiner Wettbewerbsfähigkeit erheblichen Schaden zufügen. Im Rahmen der Kampagne #WasFehltZahlstDU haben die Betriebskrankenkassen errechnet, dass die Kosten pro Arbeitsstunde im verarbeitenden Gewerbe mit jedem zusätzlichen Beitragssatzpunkt um 15 Cent steigen. Das klingt auf den ersten Blick nicht viel, aber bei 62 Milliarden geleisteten Arbeitsstunden im Jahr sind das insgesamt 9,3 Milliarden Euro Mehrausgaben für die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber. Dieses Geld muss zum Ausgleich erwirtschaftet werden und fehlt den Unternehmen und Betrieben natürlich für weitere Investitionen – z. B. auch für die Einstellung weiterer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und damit für eine Stärkung ihrer Marktposition. Dabei ist es gerade in Zeiten des Strukturwandels wichtig, bei der Zukunftsfähigkeit nicht den Anschluss zu verlieren. Gerade Handwerksbetriebe, bei denen die Lohnkosten bis zu 80 Prozent der Gesamtausgaben ausmachen, sind davon besonders betroffen. Und es ist natürlich auch eine Frage der Konjunktur, die ebenfalls in Mitleidenschaft gezogen wird, wenn Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer immer weniger Netto vom Brutto haben.

Dass die Verantwortung dafür bei den Krankenkassen selbst liegen soll, mit dieser Aussage hat sich Ex-Gesundheitsminister Karl Lauterbach unbeliebt gemacht. Im Handelsblatt sprach er im Oktober 2024 davon, dass steigende Zusatzbeiträge „mathematische Berechnungen“ der Krankenkassen und „keine Entscheidung des Ministers“ seien. Im Klartext: Er wollte die Verantwortung für die Folgen seiner politischen Entscheidungen nicht übernehmen. In einem Interview mit der BILD-Zeitung legte er dann nur zehn Tage später nach und reklamierte für sich: „Somit bin ich, wenn man so will, der preisgünstigste Gesundheitsminister für die Krankenkassen.“ Dies zeigt, welchen Stellenwert die Gesundheitspolitik insgesamt hat und dass nicht nur der Wahlkampf das Bild prägte. Kommunikation und Themensetzung wurden auch nach der Bundestagswahl nicht besser. Angesichts von drei lapidaren und floskelhaften Sätzen ohne eine konkret skizzierte Idee zum Thema Gesundheit und Pflege im Sondierungspapier, waren wohl viele geneigt, aus Verzweiflung über so viel Ignoranz in die Tischkante zu beißen.

Die Milliarden-Illusion: Falsche Hoffnungen statt echter Reformen

Für einen kurzen Moment keimte nach der Bundestagswahl dann Hoffnung auf, als in einem Papier zur Vorbereitung des Koalitionsvertrages die Entlastung der GKV durch die Übernahme versicherungsfremder Leistungen aus Steuermitteln sehr detailliert dargestellt wurde. Milliarden sollten fließen. Das war schwer zu glauben und die Skepsis war dann auch berechtigt, wie sich zeigen sollte. Der sehr konkrete Finanzierungsplan ist nun einer Absichtserklärung und einer Kommission zum Opfer gefallen, die bis 2027 Ergebnisse liefern soll.

Wie sagte schon Theodor Fontane: „Ein Optimist ist ein Mensch, der ein Dutzend Austern bestellt, in der Hoffnung, sie mit der Perle, die er darin findet, bezahlen zu können.“ Das wird in etwa die Strategie der Kommission sein: Mit etwas Glück wird sich eines Tages alles zum Guten wenden. Die „politische Perle“ haben die Koalitionäre auch schon ausgemacht: Die Anhebung des Beschäftigungsniveaus. Sie soll nun erst einmal Teil der „Rettung“ der GKV-Finanzierung werden. Mit vielen bestellten „Maßnahmenaustern“ soll sie gefunden werden. Wer das glaubt, kann als „gesichert naiv“ eingestuft werden. Wir haben bereits Rekordbeschäftigung und dennoch können die Mehreinnahmen die Ausgabendynamik nicht ausgleichen. Die Rechnung, bei stagnierender Wirtschaft und fehlenden Investitionsmöglichkeiten mehr Menschen in Arbeit zu bringen, dadurch Kosten zu senken und gleichzeitig Mehreinnahmen in Milliardenhöhe zu generieren, ist eine Luftnummer. Nicht zuletzt auch, weil die Möglichkeiten in Form von offenen Stellen auf dem Arbeitsmarkt begrenzt sind.

Es ist geradezu utopisch, damit zu rechnen, massen- und dauerhaft Menschen aus dem Bürgergeldbezug heraus in Arbeit zu bringen, dadurch zusätzliche Beitragsgelder zu generieren und gleichzeitig Kosten zu sparen. Denn Langzeitarbeitslose haben im Vergleich zu Kurzzeitarbeitslosen deutlich geringere Chancen, die Arbeitslosigkeit wieder zu beenden. Nach Angaben des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) lag die monatsdurchschnittliche Abgangsrate in Beschäftigung im Jahr 2019 bei 1,4 Prozent. Allerdings sind von diesen Beschäftigten nach zwölf Monaten nur noch 57 Prozent sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Zudem verdienen ehemals Langzeitarbeitslose durchschnittlich 36 Prozent weniger, als Personen, die ohne zwischenzeitliche Arbeitslosigkeit den Job wechseln.

Doch das ist nur ein Teil des Problems. Viel gravierender ist, dass 95 Prozent der erwerbsfähigen Langzeitarbeitslosen mindestens ein Vermittlungshemmnis und 78 Prozent mehrere Vermittlungshemmnisse aufweisen. Dazu gehören u. a. der Langleistungsbezug selbst, ein schlechter Gesundheitszustand, fehlende Berufsabschlüsse, fehlende Schulabschlüsse, Care Arbeit (Mütter mit Kindern), Pflegetätigkeit von Angehörigen, Überschuldung, Sucht oder Sprachdefizite. Mit der Anzahl der Vermittlungshemmnisse geht eine deutliche Verschlechterung der Beschäftigungschancen einher. Als Faustregel gilt, dass sich mit jedem zusätzlichen Hemmnis die Abgangschancen halbieren. Ohne ein Vermittlungshemmnis liegt die Wahrscheinlichkeit, den Leistungsbezug innerhalb eines Jahres zu verlassen, bei etwa 32 Prozent (IAB-Zahlen). Bei bereits einem Hemmnis sinkt sie auf 18 Prozent und bei zwei Hemmnissen auf unter acht Prozent. Diese Zahlen sollten deutlich machen, dass diese halbfertig gedachte Idee, die uns jetzt als elementarer Bestandteil der ultimativen Finanzierungslösung verkauft wird, schnellstmöglich verworfen und durch einen seriösen Reformvorschlag ersetzt werden muss, der das eigentliche Problem – die Ausgabendynamik – benennt. Im vergangenen Jahr titelten die Medien „Rekordbeschäftigung“. Noch nie waren so viele Menschen sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Aber die Ausgabendynamik in der GKV frisst alle Mehreinnahmen auf wie das Krümelmonster die Kekse. Es ist unmöglich, so viele Menschen so schnell in Arbeit zu bringen, wie die Ausgaben steigen, damit diese Rechnung aufgehen kann.

Die neue Gesundheitsministerin Nina Warken ist um ihren Job nicht zu beneiden. Der neue Bundeskanzler Friedrich Merz bescheinigt ihr bereits, dass ihre Aufgabe „zu den schwierigsten zählt“. Diese Einschätzung spiegelt sich allerdings weder im Koalitionsvertrag, noch in der Kommunikation wider. Es wird darauf ankommen, wie die Zusammenarbeit insbesondere zwischen Nina Warken (Gesundheit), Lars Klingbeil (Finanzen) und Bärbel Bas (Arbeit & Soziales) funktioniert. Das Papier, das bei der Vorbereitung des Koalitionsvertrag entstanden ist, hat zumindest gezeigt, dass das Problem erkannt ist und für einen Moment auch als so wichtig eingeschätzt wurde, dass die finanziellen Mittel zumindest kurzfristig eingeplant wurden. Über die endgültige Höhe ist man dann wohl erschrocken.

Der unterschätzte Vertrauensverlust

Wir können es uns nicht leisten, das Thema einer Kommission zu überlassen, die uns im Jahr 2027 als Erkenntnisgewinn Probleme liefert, die wir schon seit Jahren kennen. Das kommt einer Ka – pi – tu – la – ti – on vor den Problemen gleich – die größte aller Niederlagen. Davon profitieren natürlich nur die Populisten, die schon heute vermeintliche Lösungen für die GKV-Finanzierung präsentieren. Und diese einfachen Lösungen haben immer etwas mit Asyl und Migration zu tun. Dabei stärkt Migration unsere Sozialsysteme durch demografische Effekte. Wenn also die Politikerinnen und Politiker der neuen Regierung endlich aufhören, sich teilweise auch über Nebensächlichkeiten zu streiten und das Gesundheitswesen nicht länger vernachlässigt wird, dann gibt es vielleicht auch konkrete Lösungen für sehr drängende Probleme. Und weniger Ausreden. Das würde auch jene politischen Akteure in Schach halten, die auf Vertrauensverlust und immer nur darauf setzen, dass die Politik es nicht hinbekommt. Es steht also viel auf dem Spiel.