Anmerkungen zur Zukunft von Versorgung und Versicherung

Die künftigen Rahmenbedingungen für die BKK

von Franz Knieps

Die Welt ist aus den Fugen geraten. Krieg im Nahen Osten und am Ostrand der NATO, die Weltwirtschaftsordnung demoliert zugunsten des digitalen Feudalismus der Tech-Milliardäre, Stagnation der Ökonomie des Exportweltmeisters Deutschland im dritten Jahr hintereinander: In turbulenten politischen und wirtschaftlichen Zeiten muss es gelingen, wesentliche Strukturprobleme der Kranken- und Pflegeversicherung sowie den Umbau der Versorgung entlang der medizinischen Paradigmenwechsel auf der politischen Agenda der neuen Bundesregierung zu halten. In seinen Anmerkungen zur Zukunft von Versorgung und Versicherung öffnet Franz Knieps den Blick von den herausfordernden Rahmenbedingungen hin zu Lösungsvorschlägen und Perspektiven für das deutsche Gesundheitssystem.

Franz Knieps beim Parlamentairschen Abend 2025

„Habemus contractum“ – wir haben einen neuen Vertrag. So ließen es uns die Spitzen von Unionsparteien und SPD Anfang April wissen, nachdem bereits vorher die Ergebnisse der Arbeitsgruppen im notorisch inkontinenten Berliner Politik- und Medienbetrieb durchgesickert waren. Wie ist das erzielte Ergebnis in Bezug auf Gesundheits- und Pflegepolitik insgesamt und speziell aus Sicht der Betriebskrankenkassen einzuordnen? Ist ein Politikwechsel zu erwarten oder droht ein „Weiter so“? Der folgende Beitrag versucht eine erste Bewertung speziell im Hinblick auf Weichenstellungen für die künftige Versorgung. Er beschreibt die Ausgangslage in turbulenten politischen und wirtschaftlichen Zeiten, analysiert die wesentlichen Strukturprobleme von Kranken- und Pflegeversicherung, skizziert Perspektiven zur Lösung dieser Probleme und versucht sich an einer vorläufigen Bewertung der gesundheitspolitischen Lage, nachdem eine neue Führung im Bundesministerium für Gesundheit etabliert wurde.

Eine Welt im Umbruch – Schwierige Ausgangsbedingungen für die Gesundheits- und Pflegepolitik

Wer in diesen Zeiten einen Blick auf das Land und über seine Grenzen wirft, der wird nicht umhinkommen zu konstatieren: Die Welt ist aus den Fugen geraten. Russlands räuberischer Eroberungskrieg gegen die Ukraine und damit verbundener Destabilisierung Europas bis hin zur unverhohlenen Bedrohung der  „westlichen“ Lebensart. Die Inbrandsetzung des Nahen Ostens nach einem Terrorangriff der palästinensischem Hamas auf Israel und kriegerischen Folgeaktionen in Gaza, im Libanon und im Iran. Die Zerstörung der Weltwirtschaftsordnung durch den wiedergewählten US-Präsidenten Donald Trump unter tatkräftiger Mitwirkung vieler Tech-Milliardäre mit spürbaren Folgen für die gesamte Welt. Die Stagnation der nationalen Ökonomie des Exportweltmeisters Deutschland im dritten Jahr hintereinander. Die rasant ansteigende Erderwärmung, die sich am stärksten in Europa messen lässt und eine Vielzahl von Naturkatastrophen zur Folge hat, gegen die der Mensch weitgehend machtlos erscheint. Wie verbessern wir wirtschaftliche, soziale und vor allem ökologische Nachhaltigkeit? Nach der Corona-Pandemie ist vor der nächsten Pandemie. Ohne eine kritische Aufarbeitung der Fehler im internationalen (Ist das Virus doch bei einem Laborunfall entwichen?)  und nationalen Kontext (Welche Maßnahmen waren evidenzbasiert wirksam und welche fügten dem sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft und vulnerablen Gruppen irreparable Schäden zu?). Diese und andere Entwicklungen lassen sich nicht allein auf nationaler Ebene beantworten.

Dagegen bedarf es überzeugender Antworten auf sozio-demografische, ökonomische und technologische Entwicklungen. Auch die treten nicht allein in Deutschland auf, müssen aber vor allem auf der nationalen Ebene beantwortet werden. Dabei kann man sich natürlich stärker auf internationale Erfahrungen und ausländische Beispiele beziehen. Von besonderer Bedeutung ist die demografische Entwicklung, die zu einer veränderten Sozialstruktur (Die Zahl der Einpersonenhaushalte steigt, nicht nur in städtischen Ballungsgebieten.) und zu einem steigenden Behandlungsbedarf führt, gleich ob man der Kompressionsthese (Steigende Lebenserwartung geht mit mehr gesunden Lebensjahren einher) oder der Medikalisierungsthese (Steigende Lebenserwartung verursacht höhere Leistungsausgaben.) folgt. Wahrscheinlich lässt sich in Deutschland einen Nebeneinander beider Trends in Abhängigkeit von der sozialen Lage beobachten.

Die Demografie beeinflusst wesentlich den Fachkräftebedarf und das entsprechende Angebot. Dabei ist Deutschland bei Gesundheit und Pflege insoweit auffällig, als das Land bei internationalen Vergleichen in der Relation von Gesundheitsberufen zu Einwohnern auf der Systemebene gut abschneidet, aber auf der lokalen und regionalen Ebene fast flächendeckend unbesetzte Stellen und Versorgungssitze mit der Folge von Zugangsbeschränkungen und Unterversorgung aufweist. Das gilt mittlerweile selbst in wohlhabenden Regionen und Stadtteilen. Bei der Ursachenanalyse stellt sich heraus, dass unter anderem die Vielzahl von Teilzeit-Beschäftigten und die steigende Bedeutung der Work-Life-Balance ebenso eine Rolle spielt wie die zunehmende Spezialisierung zulasten der Grundversorgung und die mangelhafte Attraktivität ländlicher Räume.

Schließlich sind auch interne Entwicklungen im Gesundheits- und Pflegesystem ursächlich für rasante Veränderungen. Dies lässt sich exemplarisch an zwei Punkten festmachen. Zum Einen stellt die digitale Transformation Gesundheit und Pflege vor große Herausforderungen. Die Standardisierung und Digitalisierung der Prozesse, der Einsatz von Künstlicher Intelligenz, die Nutzung und Zusammenführung von Versorgungs- und Abrechnungsdaten zu Big Data sowie die Auswirkungen des Vordringens der Plattformökonomie nicht nur im oligarchischen Oligopol aus dem Silicon Valley mögen als Stichpunkte an dieser Stelle genügen. Die digitale Transformation ist zum Anderen Voraussetzung für die Entwicklung und den Einsatz personalisierter Medizin auf der Basis neuer Instrumente wie frühzeitige Entdeckung von Risikofaktoren, Ausweitung von individualisierter Vorbeugung und Disease Interception sowie der Organisation von morbiditätsorientierten Prozessketten entlang von Patientenpfaden (Patient Journeys).

Strukturelle Probleme – Ungelöste Reformfragen im verkrusteten deutschen Gesundheitssystem

Die Probleme des deutschen Gesundheitswesens sind jedoch keineswegs nur von exogenen Faktoren bestimmt. Ein wesentlicher Teil ist vielmehr hausgemacht. Das Nebeneinander von gesetzlicher und privater Krankenversicherung mit sehr unterschiedlichen Strukturprinzipien (Umlagefinanzierung versus Kapitaldeckung, Solidarprinzip versus Äquivalenzprinzip, Sachleistung versus Kostenerstattung, Einzelleistungsvergütung versus Gesamtvergütung) hat nicht zu einem fruchtbaren und fairen Systemwettbewerb gefürt, sondern einen wesentlichen Beitrag zur Entsolidarisierung in der Bevölkerung und in der niedergelassenen Ärzteschaft gut leistet. Der juristische und/oder ökonomischer Zwang, sich für ein System zu entscheiden oder einen Wechsel zu einem anderen Anbieter zu unterlassen, hat zu einer einer Einschränkung und nicht etwa einer Ausweitung der Freiheit der Versicherten geführt. Die unterschiedliche Vergütung ambulanter ärztlicher Leistungen in GKV und PKV ist wesentliche Ursache dafür, dass gesetzlich und privat Versicherte unterschiedlich lange auf Facharzttermine warten müssen und zu bestimmten Behandlern keinen Zugang finden, es sei denn sie ordern überflüssige individuelle Gesundheitsleistungen (IGeL) oder erklären sich zum Selbstzahler.

Die künstliche Trennung und Aufsplittung der Versorgungssektoren ist zwar von der Entwicklung in der Medizin überholt, prägt aber wesentlich die ökonomischen Fehlanreize mit der Folge von Unter-, Über- und Fehlversorgung. Die sektoral getrennte Planung von Kapazitäten, die unterschiedlichen Finanzierungs- und Honorierungssysteme in Abhängigkeit von Ort und Form der Leistungserbringung und die zersplitterten und überbürokratisierten Regularien für die Qualitätssicherungen ersticken die Kreativität für neue, patientenzentrierte Versorgungsformen. Es mangelt politisch wie praktisch trotz einer Vielzahl von Brückenkonstruktionen an Kommunikation, Koordination und Kooperation. Sie begünstigen eine egoistische Optimierung von Institutionen und Sektoren zu Lasten einer allgemeinen Wirtschaftlichkeit. Betriebswirtschaft schlägt Volkswirtschaft. Das hat aber nichts mit „Ökonomisierung“ zu tun, sondern ist schlicht eine Folge von unklaren Aufgabenzuweisungen und Verantwortlichkeiten nicht nur zwischen Bund und Ländern, sondern auch im ordnungspolitischen Mix von staatlicher Administrierung, kollektivvertraglicher Steuerung über Selbstverwaltung und einzelwirtschaftlicher Entfaltung von Markt und Wettbewerb. Eine stringente Ordnungspolitik ist dem Gesundheitswesen längst abhanden gekommen.

Das deutsche Gesundheitswesen ist trotz Personalmangels nach wie vor einseitig auf Kompetenzen und Rechte der ärztlichen Profession fixiert. Zwar werden andere Gesundheitsberufe wie psychologische Psychotherapeuten, Pflegekräfte, Physiotherapeuten und andere mehr besser ins System integriert und auch schrittweise besser bezahlt,. Von einer echten Kooperation auf Augenhöhe kann zumindest rechtlich nicht die Rede sein. Bis zur eigenständigen Heilkundeausübung ist es noch ein weiter Weg. Zumindest für entsprechend qualifizierte Pflegekräfte hat die neue Bundesgesundheitsministerin Nina Warken, die sich noch nicht im Lobbygestrüpp verheddert hat, eine schnelle gesetzliche Normierung der Befugnis zur Heilkundeausübung angekündigt.

Das Finanzierungssystem der gesetzlichen Krankenversicherung ist in den Grundfesten fest in der Industriegesellschaft des 19. Jahrhunderts betoniert. Dies gilt sowohl für die beitragsrechtliche Fokussierung auf Löhne und Gehälter bzw. deren Ersatzleistungen (Renten, Krankengeld, Arbeitslosengeld…) und damit implizit die Nichtberücksichtigung anderer Einkünfte wie vor allem Kapitaleinkünfte. Neue Arbeitsformen und Erwerbsbiografien werden nur unzureichend erfasst. Speziell der Staat macht sich einen schlanken Fuß, indem er bei Transferleistungsempfängern nur unzureichend seinen Verpflichtungen nachkommt, für eine annähernd kostendeckende Beitragszahlung zu sorgen. Das wurde zwar schon dreimal in Koalitionsverträgen vereinbart, von zuständigen Fachministerien aber kalt lächelnd ignoriert. Im neuen Koalitionsvertrag kommt es folgerichtig erst gar nicht vor. Und im Gesetzentwurf zum  Bundeshaushalt 2025/26 ist nur von einem völlig unzureichenden kleinen Darlehen an Kranken- und Pflegeversicherung die Rede, nachdem der neue Kanzler, der neue Finanzminister und Frau Warken implizit oder explizit hier weitergehende Erwartungen geweckt hatten. Es grenzt schon an Unverschämtheit, wenn die Begründung zu diesem Gesetzentwurf die steile These aufstellt, die Steuerzahlenden könnten nicht zur Subventionierung von Defiziten in reformunfähigen Sozialversicherungen herangezogen werden. Dabei ist es doch gerade umgekehrt.  

Bund und Länder scheuen sich grundsätzlich nicht, die Sozialversicherungen zur Finanzierung öffentlicher Aufgaben heranzuziehen und vertrauen darauf, dass die Träger als Körperschaften des öffentlichen Rechts nicht grundrechtsfähig sind und so nicht in Karlsruhe klagen können. Hier könnte die Rechnung ohne den Wirt ausgestellt sein, denn in der Wissenschaft und bei den Sozialgerichten mehren sich die Stimmen, die die dreiste Überwälzung von versicherungsfremden Leistungen – wie zum Beispiel gehäuft in der Corona-Pandemie – oder die Vernachlässigung staatlicher Finanzierungsverpflichtungen per Vorlage an das Bundesverfassungsgericht abstellen wollen. Bedauerlich ist in jedem Fall der fehlende Mut der Politik, sich mit den Lobbyverbänden im Gesundheitswesen anzulegen und eine zukunftsfähige Finanzierungsreform anzugehen. Dazu soll bis 2027 eine Kommission entsprechende Vorschläge machen. Nicht nur der neuen Ministerin dämmert es, dass wir schnellere Lösungen brauchen, um die Kostenentwicklung zu bremsen und weitere Beitragssatzsteigerungen zu verhindern. Das bekannte Gebell der Pawlowschen Hunde bei der Frage nach einer Erhöhung von Versicherungspflicht- und Beitragsbemessungsgrenzen lässt ahnen, wie emotionsgeladen die Diskussion einzelner Optionen zur Stabilisierung der GKV-Finanzierung verlaufen wird. Dem Verfasser leuchtet im Übrigen nicht ein, warum seine Vorzimmerdame eine doppelt so hohe Beitragslast wie er tragen muss. Von Belastungs- oder Verteilungsgerechtigkeit sollten wir in der sozialen (!) Krankenversicherung besser nicht sprechen.
    
 

Die Versorgung der Zukunft wird dem Dreiklang digital vor ambulant vor stationör folgen

    
In der Pflegeversicherung wird wider besseres Wissen die Illusion aufrecht erhalten, dass diese eine umfassende Absicherung quasi als Vollkaskoversicherung gegen das Risiko der Pflegebedürftigkeit biete. Dabei ist schon fast wieder wie vor ihrer Einführung ab dem Jahr 1994 der Eigenanteil der Betroffenen so hoch, dass viele Menschen die Grundsicherung in Anspruch nehmen müssen. Zwar wurde in den letzten Legislaturperioden die Honorierung der Pflegenden verbessert, doch sprechen die sonstigen Arbeitsbedingungen einer modernen Arbeitswelt Hohn. Dabei sind die Babyboomer – anders als uns Karl Lauterbach weismachen wollte – noch gar nicht in dem Alter angekommen, in dem Pflegebedürftigkeit zu einem Massenphänomen wird. Der Handlungsbedarf für eine umfassende Finanzierungs- und Strukturreform ist unverändert hoch.

Lösungsvorschläge und Perspektiven – Digital vor ambulant vor stationär

Auch wenn die große und umfassende Gesundheitsreform mehr in den Köpfen von Journalisten und anderen externen Beobachtern als in der Realität eines komplizierten, oft komplexen Systems herumgeistert, lässt sich unzweifelhaft feststellen, dass es in unserem Land nicht an Konzepten und Vorschlägen für einen mehr oder weniger weitreichenden Umbau des Systems gibt. An der Spitze stehen sicherlich die umfassenden und exzellent begründeten Vorschläge des Sachverständigenrats für die Entwicklung im Gesundheitswesen (SVR Gesundheit) und die Initiative Neustart! der Robert-Bosch-Stiftung. Daneben haben zahlreiche Kommissionen, Arbeitsgruppen, Bündnisse und Verbände mehr oder weniger stark Interessen geleitete Vorschläge gemacht. Ganz gewiss gilt: Deutschland hat kein Erkenntnisproblem, sondern ein politisches Umsetzungsproblem.

Anders als bei der Finanzierung, wo neben der Vertagung auf 2027 nur der für alle Bereiche geltende Vorbehalt der (Gegen-)Finanzierung auffällt, finden sich im Kapitel Gesundheit und Pflege durchaus brauchbare Ansätze zur Umgestaltung von Versorgungsstrukturen und zur Optimierung von Versorgungsprozessen. Dabei gilt es, die knappen Ressourcen Personal, Zeit und Geld effizienter als bisher einzusetzen. Das wird nicht ohne Entschlackung der bisherigen Strukturen und der Nutzung gar nicht mehr so neuer Kommunikationswege gehen. Vielleicht müssen sogar einige heilige Kühe wie Arztvorbehalt oder freier Direktzugang zum Facharzt geschlachtet werden. Andere Länder aus Skandinavien oder dem Baltikum machen es uns vor, wie der Erstzugang, die regelhafte Weiterbehandlung und die Überwachung von Behandlungsverläufen ins Netz verlagert werden können. Die Versorgung der Zukunft wird dem Dreiklang digital vor ambulant vor stationär folgen. Auch in Deutschland wachsen zarte Pflänzchen neuer Praxisformen mit Phsician Assistents und Telemedizin wie zum Beispiel die Praxen von Lilian Care in unterversorgten Regionen. Ob es gleich ein Umstieg auf ein lückenloses Primärarztsystem sein muss, wie manche eine Passage des Koalitionsvertrags deuten, darf man zumindest hinterfragen. Weder haben alle Kassenärztlichen Vereinigungen einschließlich der KBV bisher überzeugende Ansätze zur flächendeckenden Primärversorgung entwickelt und implementiert, noch wären die Verträge zur hausarztzentrierten Versorgung finanzierbar, wenn sich alle Versicherten dort einschreiben. Schließlich ist Primärversorgung mehr als Allgemeinmedizin. Daher müssen sonstige Arztgruppen der Grundversorgung ebenso einbezogen werden wie andere Gesundheitsberufe, speziell die (akademisierte) Pflege. Durch eine Steigerung der Gesundheitskompetenz müssen die Menschen wieder in die Lage versetzt werden, geringfügige Gesundheitsprobleme (Husten, Schnupfen, Heiserkeit) wieder ohne Inanspruchnahme der professionellen Strukturen – etwa durch Selbstmedikation – in den Griff zu bekommen.

Eine neu ausgerichtete Grundversorgung muss eng mit der fachärztlichen Versorgung in der Niederlassung und im Krankenhaus vernetzt werden. Der Weg zu interprofessionellen Teams und zu Versorgungsnetzen muss konsequent weiter gegangen werden. Auch die Werksärzte und die arbeitsmedizinischen Dienste sollten stärker in die Versorgung einbezogen werden. Wesentliches Instrument zur Koordinierung der Versorgung (Auf das Wort Steuerung sollte besser verzichtet werden; Menschen sind keine Maschinen.) sollten dabei indikationsbezogene Patientenpfade unter Einbindung von Lotsen und Krankenkassen mit dem Ziel einer indikationsspezifischen Patient-Journey sein, die auch datenbasierte Risikoanalysen, gezielte Früherkennung und wirksame individualisierte Prävention vor Ausbruch einer Krankheit umfassen. Mit spezifischer Vorbeugung und unter bestimmten Bedingungen auch einer „Disease Interception“, also eine Krankheitsunterbrechung, soll der Eintritt einer manifesten Erkrankung hinausgezögert oder gar verhindert werden.

Am Ende einer solchen Patientenreise müssen soziale Angebote, Rehabilitation, Pflege, End-of-Life-Care, Schmerztherapie und Palliativversorgung einbezogen sein. Das Konzept von Value-based-Care sieht hier eine Vielzahl von neuen Instrumenten und Handlungsansätzen vor.

In der stationären Versorgung scheint die neue Koalition grundsätzlich den Weg der Ampel-Regierung weiterzugehen. Zwar wird der Zeitplan gestreckt und aus dem Bundeshaushalt kurzfristig Geld für eine Zwischenfinanzierung zur Verfügung gestellt. Der Krankenhaus-Transformationsfonds soll ebenfalls stärker aus Bundesmitteln und nicht von den Krankenkassen finanziert werden. Doch am grundsätzlichen Weg zur Konzentration der Krankenhäuser über sog. Leistungsgruppen gibt es allenfalls leichte Korrekturen zugunsten des pragmatischen Wegs von Nordrhein-Westfalen. Von der vor der Wahl proklamierten Umkehr der Reform kann keine Rede mehr sein.

Von herausragender Bedeutung und vom Koalitionsvertrag mit hoher Dringlichkeit versehen ist die schon fertig ausgearbeitete Reform von Notfallversorgung und Rettungsdiensten. Hier sind schwierige Gespräche mit den Bundesländern zu erwarten. Dort ist der Rettungsdienst in aller Regel bei den Innenministern ressortiert, die schon immer klare Vorstellungen von der Selbstkostendeckung durch die Krankenkassen hatten und haben.

Nur wenig lässt sich dem Koalitionsvertrag zur Zukunft der Arzneimittelversorgung im Allgemeinen und zur Bestimmung des Erstattungspreises für innovative Produkte, die nur für kleine Gruppen Patienten bestimmt sind, im Besonderen entnehmen. Die Ausnahme von sog. Orphan Drugs  aus den AMNOG-Regelungen zu Nutzenbewertung und Erstattungspreisen müssen ebenso überdacht werden wie die Zusammensetzung der Faktoren, die für eine faire Bestimmung der Erstattungspreise herangezogen werden. Wenn sogar in den USA die Renditen der Pharmaindustrie in Frage gestellt werden, müsste dies den Wohlfahrtsstaaten in Europa zu denken geben. Keinesfalls kann akzeptiert werden, dass Europa und Asien die Zeche für Trumps Interventionen zahlen sollen.  

Schließlich bekennt sich auch die neue Regierung – wie jede ihrer Vorgängerinnen – zu einer Stärkung von Prävention und Vorsorge. Ob daraus ein echter „Spurwechsel“ wird, werden erst die Detailarbeit im Gesetzgebungsverfahren zeigen. Schon in der Vergangenheit erwies es sich als Hindernis, dass der Bundesgesetzgeber keine allgemeine Kompetenz für die Gesundheitspolitik hat, sondern diese nur als Annex zu anderen Kompetenzfeldern wie Sozialversicherung oder Infektionsschutz ausüben kann.

An der Bundeskompetenz zur Reform der Pflegeversicherung, die nicht nur in bedrohlichen Finanznöten steckt, sondern auch strukturell mit den skizzierten demographischen Problemen überfordert ist, bestehen keine Zweifel. Aber der Weg zu Reformen über eine Bund-Länder-Kommission auf Ministerebene zu finden erscheint nicht nur dem Verfasser abwegig. Solange die Bundesländer ihre Verpflichtungen zur auskömmlichen Investitionsfinanzierung bei Krankenhäusern und stationäre Pflegeeinrichtungen nicht nachkommen, sollten allen Forderungen, die auf eine Finanzierung zu Lasten Dritter hinauslaufen, eine klare Absage erteilt werden. Die Gefahr ist groß, dass in der Pflege weiter nur an Symptomen herumgedoktert wird und auf die drängende Frage, wie soll die gesundheitliche und pflegerische Versorgung einer in Würde alternden Gesellschaft aussehen soll, keine schlüssige und gesellschaftlich akzeptierte Antwort gefunden wird.

Fazit – Welche Schlüsse sollte die BKK ziehen?

Für die Bewertung der politischen Rahmenbedingungen ist sicherlich festzustellen, dass Gesundheit und Pflege nicht zu den Top-Themen der neuen Bundesregierung gehört. Vor allem fehlen Vereinbarungen zur Finanzierung der Sozialversicherung. Ist dieses Politikfeld damit in die Landesliga abgestiegen, wie Beobachter mutmaßen? Allein aus der Zusammensetzung der Arbeitsgruppen lässt sich das nicht folgern. Denn bestimmte Probleme lassen sich – Koalitionsvertrag hin oder her – nicht ignorieren. Was nicht im Vertrag geregelt ist, wie etwa schnell wirksame Maßnahmen zur Begrenzung der Beitragssatzanstiege, kann trotzdem bald auf der politischen Tagesordnung stehen. Viel Zeit und Spielräume für ideologisch geprägte Veränderungen dürften die neuen Verantwortlichen nicht haben. Aber die wenigen Aussagen zur Versorgung lassen, auch wenn nur stark abstrakt formuliert, einen Willen zur koordinierten Patientenversorgung erkennen.

Die Betriebskrankenkassen sollten sich weder durch die knapp formulierten und unvollständigen Formulierungen des Koalitionsvereinbarungen noch durch irrlichternde Aussagen vornehmlich süddeutscher Politiker zu Kassengröße und Kassenzahl irritieren lassen, sondern konsequent den Mehrwert für ihre Versicherten und Betriebe steigern. Gerade ein System mit vielen Kassen unterschiedlicher Größe und Zusammensetzung ist es von überlebenswichtiger Bedeutung, dass alle Akteure, also Kassen, Landesverbände, Dachverband und spezialisierte Arbeitsgemeinschaften in einem Verbund zusammenwirken. Die moderne Organisationslehre hat längst nachgewiesen, dass Netzwerke starren Organisationsformen überlegen sind. Nur wenn überzeugend dargelegt werden kann, dass eine betriebliche Krankenversicherung mit einer vielfältigen BKK-Landschaft aus großen, mittleren und kleinen, allgemein für einen fairen Wettbewerb geöffneten oder unternehmens- und betriebsbezogenen Kassen spezifische Vorteile für das Gesundheitssystem bietet, wird die BKK politisch erfolgreich und wettbewerblich marktwirksam sein. Neben dem Markenkern  der Kombination von Arbeit und Gesundheit, insbesondere in der betrieblichen Gesundheitsförderung und in der Vernetzung mit der Arbeitsmedizin, müssen neue Formen der Unterstützung und Begleitung der Versicherten über alle Lebenslagen hinweg  entwickelt und implementiert werden. Eine besondere Rolle werden dabei Datenanalytik in der Zusammenführung von klinischen Daten, sozialen Erkenntnissen und Abrechnungsdaten sowie digitale Versorgungsangebote spielen. Keinesfalls überflüssig wird ein konsequentes Ausgaben- und Kostenmanagement werden. Mehr als 300 Milliarden Euro jährlich an direkten Leistungsausgaben sind der Beweis, dass insgesamt nicht zu wenig Geld im System vorhanden ist. Die Koordination der Patientenversorgung und die Allokation der Mittel an die Stellen mit größtem Nutzen für die Versicherten ist eine permanente Aufgabe, die wieder stärker in den Fokus von Politik und Management rücken muss. Auch hier muss sich die BKK klar positionieren und innovative Wege bestreiten. Dann muss einem um die Zukunft der BKK nicht bange sein.