Prävention

Gesunderhaltung muss zum neuen Maßstab werden!

Nach EU-Berechnungen stirbt in Deutschland jedes Jahr - bezogen auf die Einwohnerzahl - eine ganze Großstadt in der Größe von Göttingen oder Wolfsburg wegen unzureichender gesundheitlicher Prävention. 124.000 Sterbefälle wären demnach vermeidbar, würden alle Möglichkeiten zur Prävention und Gesunderhaltung ausgeschöpft. Das ist nicht nur viel zu viel, das ist auch mehr als in den meisten anderen Ländern Westeuropas: Im Vergleich der durch Prävention vermeidbaren Sterbefälle liegt Deutschland mit 157 pro 100.000 Einwohner und Jahr nicht nur hinter Ländern wie Dänemark, Schweden, Norwegen und den Niederlanden, sondern auch hinter Frankreich, Italien, Irland, Portugal und Spanien.

Sharepic Prävention
Infografik Prävention 1
Infografik Prävention 1

Diese Zahlen verwundern nicht, denn das deutsche Gesundheitswesen ist ein Reparatursystem, in dem die Gesunderhaltung nach wie vor ein Nischendasein fristet. In Zahlen ausgedrückt: Im Jahr 2023 gaben die gesetzlichen Krankenkassen pro Versicherten insgesamt 4.126,01 Euro aus, für Präventionsmaßnahmen zur Vermeidung von Erkrankungen im Sinne des Sozialgesetzbuchs jedoch nur 8,49 Euro. Das sind gerade einmal 2 Promille oder 0,2 Prozent.

Das Bild ändert sich auch nicht, wenn man die Gesamtausgaben für Prävention in der GKV betrachtet: 2023 betrug der Anteil der Ausgaben für Prävention in der GKV nur rund 3 Prozent der gesamten Leistungsausgaben. Damit entfallen immer noch überwältigende 97 Prozent der Leistungsausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung auf die Krankenbehandlung.

Dabei wollen die Betriebskrankenkassen viel mehr im Bereich Prävention und Gesundheitsförderung unternehmen, doch das systemische Übergewicht zugunsten der Reparatur und Kuration schränkt nicht zuletzt den finanziellen Spielraum für Prävention und Gesundheitsförderung ein. In einem System, in dem sich Reparatur mehr auszahlt als Vorbeugung, haben es Gesunderhaltung und Gesundheitsförderung schwer. 

Wenn es nur das Geld wäre…

Geld ist nicht alles und das trifft auch auf das Thema Prävention und Gesundheitsförderung zu. In der Politik fehlt der Drive, das Thema Prävention und Gesundheit in den politischen Fokus zu rücken und gesamtgesellschaftlich eine größere Bedeutung zukommen zu lassen. Wenn die Politik das Thema Prävention und Gesundheitsförderung ernst nehmen würde, müsste sie Gesundheit in allen Politikbereichen mitdenken und bei jedem neuen Gesetz, das entsteht, prüfen, welche Auswirkungen es auf die Gesundheit der Bevölkerung hat. Es müsste Einzug in die Schulbildung finden. Es müsste sich in den Steuersätzen für entsprechende Produkte widerspiegeln. Auch die Kommunen müssen finanziell in der Lage sein, Rahmenbedingungen für gesundheitsförderliche Lebenswelten insbesondere für Kinder und Jugendliche zu schaffen. 

Prävention, wie das Sozialgesetzbuch sie sieht

Das Sozialgesetzbuch zielt ausdrücklich auf die „Verminderung sozial bedingter sowie geschlechtsbezogener Ungleichheit von Gesundheitschancen“ – also auf den sozialen Ausgleich von Krankheitsrisiken vor allem durch Aufklärung. Das ist gut und richtig, aber ebenso wichtig wäre eine Fokussierung auf bestmögliche Vermeidungsstrategien bei vermeidbaren Erkrankungen, die gesamtgesellschaftliche Rahmenbedingungen in den Blick nehmen. Oder anders ausgedrückt: Gesundheit muss in allen Politikfeldern integriert werden.

Während das Sozialgesetzbuch also davon ausgeht, dass man Zivilisationskrankheiten am besten dadurch bekämpft, indem man beständig vor ihnen warnt, könnten die konsequente Gestaltung von gesundheitsförderlichen Rahmenbedingungen sie gar nicht erst entstehen lassen. Und während Land auf Land ab noch mit der Gießkanne gescreent wird, kann moderne Medizin heute längst viel mehr und ist zur Präzisionsprävention in der Lage.

Prävention muss raus aus der Denkschablone der Primärprävention. Denn wenn die Gesundheit bereits angegriffen ist oder gar eine chronische Erkrankung vorliegt, sind Menschen offen und hochmotiviert für sekundär- und tertiärpräventive Maßnahmen und sind auf die intensive Stärkung ihrer Gesundheitskompetenz angewiesen. Solche müssen viel intensiver als bislang in den eingeschliffenen Versorgungspfaden und Chronikerprogrammen Einzug finden. Der Pfad von Gesundheit zu Krankheit ist keine Einbahnstraße, sondern das Wiedererlangen und Aufrechterhalten von Gesundheit ist möglich. Chronifizierungen, Entgleisungen und Drehtüreffekten kann vorgebeugt werden.

Das Handy piept, wenn der Versicherte was für seine Gesundheit tun muss

Die Krankenkassen hüten einen Datenschatz aus sogenannten „Routinedaten“. Das sind Abrechnungsdaten der Versicherten, aus denen sich Diagnosen, Therapieformen und Therapieerfolge sowie Mißerfolge ergeben. In der elektronischen Patientenakte, die in Zukunft für jeden Versicherten zur Verfügung stehen wird, ergeben sich vielfältige weitere Informationen zur Biografie jedes Versicherten aus medizinischer Sicht. Die Telemedizin ermöglicht es darüber hinaus jedem Menschen, medizinische Messwerte aller Art in Echtzeit zu übermitteln. Und zwar mit jedem Smartphone. Und all das kann mittels Künstlicher Intelligenz kontinuierlich ausgewertet werden.

Eine Analogie aus einem ganz anderen Bereich: Das Speditionswesen nutzt die Mittel der Digitalisierung längst dazu, dass ein Lkw nicht mehr während einer Fahrt liegenbleibt. Stattdessen melden digitale Systeme vorher, dass der Lkw in wenigen Tausend Kilometern liegenbleiben wird, wenn eine bestimmte Wartung nicht umgehend ausgeführt wird. Diese Wartung kann dann geplant erfolgen, der Lkw bleibt nicht während eines Transports liegen.

Das wäre analog auch mit Versicherten möglich, wenn die Mittel der prädiktiven Medizin entsprechend eingesetzt würden: die rechtzeitige Warnung vor zu erwartenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen verbunden mit der Motivation und Literacy-Stärkung zur individuellen Gesundheitsvorsorge. 

Die Gesundheit der Versicherten muss im Vordergrund stehen

Die Betriebskrankenkassen wollen mit dem Unsinn endlich Schluss machen können. Sie wollen künftig so viel wie möglich dafür tun können, dass ihre Versicherten gar nicht erst krank werden, sondern gesund bleiben.

Die Betriebskrankenkassen fordern deshalb:

  • Prävention und Gesundheitsförderung muss im Sinne des Vorsorgeprinzips Priorität in der Gesundheitsversorgung erhalten. Die Vermeidung einer Erkrankung muss auch im Sozialgesetzbuch wichtiger sein als die solidarische Begleichung von Krankheitskosten. Das muss sich auch im Fluss der finanziellen Mittel widerspiegeln.
  • Gesundheit und Gesunderhaltung müssen raus aus der Nische und zur gesamtgesellschaftlichen Aufgabe erhoben werden. Gesundheit gehört in allen Politikbereichen (z.B. Verkehr, Wirtschaft, Bildung, Umwelt, Wohnen, Ernährung…)  mitgedacht.
  • Vorhandene Ressourcen und ärztliche Expertise von Betriebsärzte müssen stärker genutzt werden. Hierfür braucht es bessere Vernetzung in der gesamten Gesundheitsversorgung.
  • Krankenkassen müssen berechtigt werden, individuell auf Versicherten zugehen zu dürfen, um sie anhand von Analysedaten gezielter beraten zu können. Solche Beratung kann gegebenenfalls durch Künstliche Intelligenz komplett digital erfolgen, so dass ein vollständiger Schutz der persönlichen Gesundheitsdaten gewährleistet bleibt.
  • Es ist eine gesundheitspolitische Debatte über den morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich zu beginnen mit dem Ziel, den Krankenkassen einen Anreiz dafür zu geben, ihre Versicherten möglichst gesund zu halten.

Dieser Artikel erläutert eine von insgesamt sechs Forderungen der Betriebskrankenkassen
an die nächste Bundesregierung nach der Bundestagswahl 2025. #rebootGKV

Forderungen zur Bundestagswahl 2025 der Betriebskrankenkassen