Kassenvielfalt stärkt die GKV

1.100 Kassen weniger, null Euro gespart: Das große Effizienz-, Kassenzahl- und Verwaltungskosten-Theater der deutschen Gesundheitspolitik

Weniger Kassen, weniger Kosten? Von wegen! Seit 1992 verschwanden über 1.100 Krankenkassen vom Markt - doch die Verwaltungskosten stiegen trotzdem. Der Bundesrechnungshof nennt Fusionen sogar "Kostentreiber", Österreich zahlt nach der großen Kassenfusion zur Österreichischen Gesundheitskasse 127 Millionen Euro drauf statt die versprochene "Patientenmilliarde" zu sparen. Selbst die Bundesregierung sieht bei einer Einheitskasse kein "höheres Einsparpotenzial". Die Fakten sprechen eine klare Sprache gegen das Fusionsmärchen.

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Groß ist nicht automatisch günstiger

Die Verfechter einer Reduzierung der Anzahl der gesetzlichen Krankenkassen unterstellen, dass weniger – und dadurch größere – Kassen Einsparungen bei den Verwaltungskosten erzielen können. Die zugrunde liegende Theorie aus der Ökonomie heißt „Skaleneffekt“.

Ein Beispiel: Ein Skaleneffekt liegt vor, wenn die Gesamtkosten für die Herstellung zweier Pkw durch ein einziges Unternehmen niedriger sind als die Kosten, die entstehen, wenn zwei separate Unternehmen jeweils einen Pkw produzieren.

Das klingt logisch, ist aber nicht auf Krankenkassen übertragbar. Während Pkw-Hersteller nach einem Firmenzusammenschluss etwa in verschiedenen Automodellen nur noch einen Motor einbauen und dadurch die Kosten senken können, bleibt die Arbeit in zusammengelegten Krankenkassen im Wesentlichen gleich: Die Verwaltung der Versicherten besteht in erster Linie aus Dienstleistungen, die für jeden Versicherten individuell erbracht werden müssen – und sich nicht so einfach zusammenlegen lassen wie die Bauteile eines Automobils. So hat jeder Versicherte einen anderen Beitrag zu entrichten, dessen Höhe und Zahlungseingang kontrolliert werden muss, oder er beschäftigt Krankenkassenmitarbeitende mit seinen individuellen Rückfragen.

Was bei der Idee von Einsparungen durch weniger, dafür aber größere Kassen meist vergessen wird, ist: Die Ökonomen kennen auch sogenannte „Skalennachteile“: Je größer eine Organisation ist, desto mehr bläht sich die Bürokratie auf und desto ineffektiver wird sie. 

Tatsächlich zeigt die Realität, dass die Verwaltungskosten unabhängig von der Größe der Krankenkassen sind. Bei den Betriebskrankenkassen liegen sie zwischen 74 und 259 Euro je Versicherten, während die großen AOK durchgängig zwischen 157und 251 Euro dafür ausgeben. Ermittelt man die durchschnittlichen Verwaltungskosten nach Kassenart so liegen die AOK je Versicherten um 19 Prozent und die IKK um 15 Prozent höher als die Betriebskrankenkassen, während die Ersatzkassen um 1 Prozent günstiger sind. Die aktuellen Verwaltungskosten im deutschen Krankenkassensektor stützen also die Idee, dass weniger Kassen geringere Verwaltungskosten mit sich bringen, also keineswegs.

1.100 Krankenkassen weniger seit 1992. Von Einsparungen keine Spur.

Seit 1992 hat es bei den Krankenkassen eine Marktbereinigung ungeheuren Ausmaßes gegeben. Seither sind mehr als 1.100 Krankenkassen fusioniert oder ganz vom Markt verschwunden. Ein wichtiger Grund: Seit 1996 können Versicherte ihre Krankenkasse frei wählen. Die Versicherten verließen in Scharen teure Kassen und suchten sich preiswertere oder eben jene, die besser zu ihren Bedarfen passten. Um nicht alle Versicherten zu verlieren, schlossen sich Verlierer mit Gewinnern zusammen. Dieser Prozess verlangsamte sich jedoch im Laufe der Jahre, denn die verbleibenden Kassen hatten sich den Bedingungen am Markt immer besser angepasst. Im Jahr 2024 reduzierte sich die Zahl der Krankenkassen nur noch um eine einzige – von 95 auf aktuell 94 Kassen.

Träfe die These zu, dass weniger – und damit größere – Kassen ihre Versicherten effizienter verwalten können und dadurch Kosten einsparen, müssten die Verwaltungskosten seit 1996 deutlich gesunken sein. Dies ist aber nicht der Fall.

Zwischen 2004 und 2024 stiegen die Verwaltungsausgaben von 8,1 auf 12,6 Milliarden Euro, was einem Anstieg von rund 55 Prozent entspricht. Inflationsbereinigt waren dies immerhin noch gut 6 Prozent mehr, obwohl die Zahl der Kassen im selben Zeitraum deutlich gesunken ist. Dieser Anstieg hat gute Gründe: Krankenkassen müssen immer mehr Versicherte versorgen und erhalten vom Gesetzgeber immer wieder neue Aufgaben und Regulierungen, die eingehalten werden müssen und den Beratungs- und Verwaltungsaufwand erhöhen. 

Verfechter einer Reduzierung der Kassenanzahl führen an, dass der Anteil der Verwaltungskosten an den Gesamtausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) seit Einführung des freien Kassenwahlrechts vor drei Jahrzehnten gesunken ist: 1995 lag dieser bei 5,2 Prozent, 2024 bei 4,0 Prozent. Sind das also immerhin Einsparungen in geringem Umfang? Nein! Da die Leistungsausgaben im gleichen Zeitraum regelrecht explodierten, sank nur der relative Anteil der Verwaltungsausgaben an den Gesamtausgaben, obwohl die Verwaltungsausgaben in Wirklichkeit – auch preisbereinigt – gestiegen sind. Die Gründe wurden oben benannt.

Bundesrechnungshof: Krankenkassenfusionen ohne wirtschaftlichen Effekt

In den vergangenen Jahrzehnten gab es immer wieder Debatten über eine Reduzierung der Zahl der Krankenkassen, um die Kosten im Gesundheitswesen zu senken. Im Jahr 2010 beauftragte deshalb der damalige Gesundheitsminister Philipp Rösler den Bundesrechnungshof mit der Untersuchung von zehn Krankenkassenfusionen aus den Jahren 2007 bis 2009. Die Prüfer kamen zu dem Schluss, dass die Fusionen „zu keinen deutlichen Synergieeffekten“ geführt hätten. Vielmehr seien sie mit „erheblichen, zum Teil dauerhaften, zusätzlichen Aufwendungen verbunden gewesen“, hieß es im Prüfbericht. Fusionen seien „Kostentreiber“, lautete das Urteil des Bundesrechnungshofes schließlich.

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Österreich: Große Kassenfusion geht nach hinten los

Auch in Österreich wollte man durch die Fusion von Krankenkassen Geld einsparen. Mit Wirkung zum Jahresbeginn 2020 wurden deshalb die bis dato neun Gebietskrankenkassen zur Österreichischen Gesundheitskasse fusioniert. Die Versicherten der Gebietskrankenkassen wurden mit einigen Ausnahmen ebenfalls in die neue Kasse übernommen. Die verantwortlichen Politiker prognostizierten, dass die Verwaltungskosten gesenkt und Einsparungspotentiale gehoben würden. Der damalige Bundeskanzler Kurz versprach gar eine „Patientenmilliarde“, die eingespart und der Versorgung kranker Menschen zur Verfügung gestellt werden könne.

Die Realität sieht jedoch anders aus: Wie das österreichische Nachrichtenmagazin Profil kürzlich aufdeckte, sind die Verwaltungskosten der Österreichischen Gesundheitskasse in den fünf Jahren seit der Fusion um 38 Prozent gestiegen. Selbst inflationsbereinigt ist dies ein Plus von elf Prozent.

Anstatt um eine „Patientenmilliarde“ entlastet zu werden, müssen die Beitragszahler nun 127 Millionen Euro mehr aufbringen. Das aktuelle Defizit der Österreichischen Gesundheitskasse, zu dem die gestiegenen Verwaltungskosten erheblich beitragen, wird Konsequenzen haben. Noch in diesem Jahr werden wohl die Eigenanteile für Patienten erhöht werden müssen. Es drohen derzeit Leistungskürzungen, und Experten fordern inzwischen offensiv eine Reform der Reform fordern.

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Liebe Politiker, falls Ihr der GKV wirklich helfen wollt…

Diejenigen, die sich für eine Reduzierung der Anzahl der Krankenkassen stark machen, tun dies oft mit dem Argument, dass der gesetzlichen Krankenversicherung in ihrer schwierigen finanziellen Lage geholfen werden muss. Das ist ein durchsichtiges Ablenkungsmanöver, mit dem die wahren politischen Notwendigkeiten verschleiert werden sollen. Denn, wollte man wirklich die finanzielle Notlage der GKV wirklich beenden, müsste man ihr zunächst ganz anders helfen, beispielweise mit Maßnahmen, die sofort wirken:

Der Bund plant eine Vergünstigung beim Mehrwertsteuersatz für die Gastronomie. Warum sollte er diese nicht auch für verschreibungspflichtige Arzneimittel einräumen? Immerhin wenden 24 der 27 EU-Mitgliedsstaaten einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz auf Arzneimittel an oder verzichten gleich ganz darauf. Würden auf verschreibungspflichtige Medikamente für kranke Menschen, so wie künftig auf Speisen im Restaurant, statt 19 nur 7 Prozent Mehrwertsteuer fällig, würde das die Kassen um 5,6 Milliarden Euro entlasten. Das wären sofort 0,3 Beitragssatzpunkte weniger für die Beitragszahler. 

Außerdem könnte der Bund die Krankenkassen durch eine faire Kostenübernahme bei der Krankenversicherung von Bürgergeldbeziehenden um rund 9,2 Milliarden Euro entlasten. Der Beitragszahler würde sofort um 0,5 Beitragssatzpunkte entlastet.

Der Bund könnte auch endlich den Bundeszuschuss, der als Ausgleich für versicherungsfremde Leistungen gezahlt wird, an die Inflation anpassen. Der Zuschuss lag im Jahr 2012 bei 14 Milliarden, aber im vergangenen Jahr gerade einmal bei 14,5 Milliarden Euro. Wäre er seit 2012 an die Ausgabenentwicklung der GKV angepasst worden, hätte er bereits 2024 bei 24,4 Milliarden Euro liegen müssen, also 9,9 Milliarden Euro höher als tatsächlich gezahlt. Dies wären mehr als 0,5 Beitragssatzpunkte, um welche die Beitragszahler sofort entlastet würden.

Und die Verwaltungskosten? Selbst unter der unrealistisch optimistischen Annahme, dass Kassenfusionen eine Senkung sämtlicher GKV-Verwaltungskosten um 10 Prozent ermöglichen würden, wären das lediglich rund 1,4 Milliarden Euro – ein Bruchteil der oben genannten Beträge. Die Beitragszahler würden lediglich um 0,07 Beitragssatzpunkte entlastet werden – und das auch erst nach der vollständigen Abwicklung der Fusionen und unter Bedingung, dass das alles reibungslos läuft.

Liebe Politiker, wenn ihr wirklich helfen wollt: Behandeln Sie die GKV und ihre Beitragszahler fair und setzen Sie um, was auf der Hand liegt und schon oft versprochen wurde! Eine Verringerung der Zahl der Krankenkassen wäre hingegen eine Hilfe, deren Resultat man mit unzähligen hochauflösenden Lupen suchen müsste.

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Vorstandsgehälter: Womit die Populisten punkten wollen

„Und dann sind da noch die vielen Vorstandsgehälter der vielen Kassen!“ Dieser Aufschrei ist immer wieder zu hören und zu lesen. „Da wäre so viel Geld zu sparen!“

Tatsächlich machen die Gehälter der Vorstandsvorsitzenden aller deutschen Krankenkassen zusammen gut 15 Millionen Euro aus. Die anderen Vorstandsmitglieder – ein Vorstand hat ein bis drei Mitglieder – verdienen geschätzt zusammen noch einmal etwa dasselbe. Insgesamt sind das 30 Millionen Euro. Das sind weniger als 0,1 Promille der Ausgaben der GKV.

Der durchschnittliche Arbeitnehmer teilt sich im Jahr 2025 mit seinem Arbeitgeber einen Krankenkassenbeitrag von 743,27 Euro, zahlt also selbst 371,64 Euro. Würde er 0,1 Promille sparen können, wären das 3,7 Cent monatlich. 

Aber mal ganz ehrlich: Es ist ja nicht so, dass die Vorstände nichts tun. Würde man sie alle einsparen wollen, bräuchte man daher zusätzliche Führungskräfte, die ihre Arbeit übernehmen. Die 3,7 Cent ließen sich daher durch Abschaffung von Vorständen niemals einsparen, sondern höchstens ein Bruchteil davon. Und wenn, weil man keine Einheitsversicherung will, noch 20 oder 30 Vorstände in Großkassen übrigblieben, würde sich das Einsparvolumen noch einmal verringern.

Die Vorstandsgehälter der gesetzlichen Krankenkassen bieten also kein wahrnehmbares Einsparpotenzial für die Finanzen der GKV. Sie bieten nur ein Potenzial für Populisten. Diese setzen es allerdings penetrant für ihre Zwecke ein.

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Selbst die Bundesregierung sieht keinen Handlungsbedarf

Es war im Januar dieses Jahres. Die Ampelregierung war noch im Amt. Per schriftlicher Anfrage wollte ein CDU-Abgeordneter wissen, ob sich die Bundesregierung durch die Schaffung einer Einheitskrankenkasse finanzielle Vorteile versprechen würde. Zur Erinnerung: Die CDU war immer gegen eine einheitliche „Bürgerversicherung“. Die Antwort der Parlamentarischen Staatssekretärin Sabine Dittmar (SPD) sprach Bände. Zur Erinnerung: Die SPD liebäugelt seit Langem mit einer Bürgerversicherung. Nicht einmal bei „Zusammenlegung aller Krankenkassen“ gehe die Bundesregierung von einem „höheren Einsparpotenzial“ aus, ließ Dittmar den Fragesteller wissen.

Die Staatssekretärin aus dem Bundesgesundheitsministerium formulierte in ihrer Antwort gleich mit, was die Betriebskrankenkassen nicht klarer sagen könnten: „Freie Krankenkassenwahl und Wettbewerb zwischen den Krankenkassen sind wesentliche Steuerungsinstrumente in der gesetzlichen Krankenversicherung.“

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Wenn die Krankenkasse pleite geht

Auch Krankenkassen können pleitegehen. Was dann geschieht, ist seit 2010 im Gesetz geregelt. Andere Krankenkassen sollen helfen – entweder durch Fusion oder durch Übernahme der Verbindlichkeiten. Eigentlich eine gute Idee. Doch was passiert, wenn eine Krankenkasse pleitegeht, die so groß ist, dass die Haftung die anderen Krankenkassen überfordert? Das System gerät ins Schleudern – oder noch schlimmer. 

Die 2008 von der US-Bank Lehman Brothers ausgelöste weltweite Krise zeigte dies anschaulich: Die US-Regierung konnte eine Rettung wegen der zu hohen Kosten politisch nicht rechtfertigen und lehnte sie ab. Daraufhin riss Lehman Brothers zunächst reihenweise andere Banken in den wirtschaftlichen Abgrund und danach die Weltwirtschaft in eine Rezession.

Eine der Lehren daraus ist: Wenn die Auffangkosten zu hoch sind, versagt der Staat – und auch wenige große Wettbewerber können kaum helfen. Viele kleine Unternehmen können hingegen einen anderen kleinen insolventen Wettbewerber viel leichter retten. 

Ergo: Je mehr Vielfalt es unter den Krankenkassen gibt, desto mehr ist das System der gesetzlichen Krankenkassen vor einem Crash geschützt.

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