Versorgung

Versorgung anders gestalten lohnt sich – Ärztemangel, Wartezeiten und Mittelmaß beenden!

Die Deutschen sind zunehmend unzufrieden: Eine Mehrheit - nämlich 56 Prozent - beklagt, dass Patientinnen und Patienten zu lange auf einen Facharzttermin warten müssen. Und das, obwohl es seit 2016 Terminservicestellen gibt, die laut Gesetz innerhalb von höchstens 35 Tagen einen Termin beim Facharzt organisieren müssen. Patientenvertreter kritisieren hingegen, dass die selbst gesetzlich vorgeschriebene maximale Wartezeit von 35 Tagen trotz der Terminservicestellen oft überschritten wird.

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Aufnahmestopp für Neupatienten

Wer einen Arzt oder eine Ärztin sucht, hört in vielen Gegenden Deutschlands, dass die Praxen einen „Aufnahmestopp“ für Neupatienten haben. Und das Problem nimmt zu: Googelt man heute die Worte „Aufnahmestopp für Neupatienten“, findet man weit mehr als 100 Arztpraxen, die sich gegen neue Patienten sogar auf ihrer Website wehren.

Vier von zehn Deutschen fühlen sich inzwischen vom Ärztemangel betroffen, und das, obwohl die Versorgungsdichte noch nie so hoch war wie heute. Die Ursachen sind, wie so oft im deutschen Gesundheitswesen, vielschichtig: Überversorgung trifft auf Unterversorgung trifft auf Fehlversorgung. Immer mehr Ärzte verabschieden sich vom klassischen Vollzeitmodell, während in den kommenden Jahren viele Ärzte aus der „Babyboomer-Generation“ in den Ruhestand gehen. Man kann es drehen und wenden, wie man will: Wir verwalten den Mangel im Überfluss.

Ärzte haben kaum Zeit

Und wenn man es endlich in der Sprechstunde geschafft hat, muss es schnell gehen: Während sich niedergelassene Ärztinnen und Ärzte in den USA durchschnittlich 21,1 Minuten und in Schweden 22,5 Minuten Zeit für einen Patienten nehmen, sind es hierzulande nur 7,6 Minuten. Dabei gibt es inzwischen viele Anreizmechanismen, damit die „sprechende Medizin“ - erwiesenermaßen ein wichtiger Faktor jeder Therapie - stattfindet. Doch offensichtlich kommt sie bei den Patienten nicht an. 

Der Behandlungserfolg ist nicht das einzige Maß der Dinge

Und es gibt so etwas wie ein akzeptiertes Mittelmaß. Auch Behandlungsoptionen, die nicht im besten Sinne der Patienten sind, können sich in unserem Gesundheitssystem auszahlen. Denn: Entscheidungen für eine Therapieoption können zum Teil auch von ökonomischen Interessen geleitet sein – Stichwort vermeidbare Eingriffe an Hüft- und Kniegelenken. Ob dabei die für den Patienten beste Option gewählt wird, ist manchmal zweitrangig, wichtiger kann sein, ob sich eine Option rechnet.

Und die Qualität der Behandlungen ist zum Teil extrem unterschiedlich: Eine Untersuchung zu Darmkrebsoperationen kam zu dem Ergebnis, dass in knapp 500 deutschen Kliniken mit wenig Erfahrung bei diesen Operationen das Risiko, an den Folgen der Operation zu sterben, um 59 Prozent höher war als in den 71 besten Krankenhäusern.

Solche gravierenden Qualitätsunterschiede sind nicht ungewöhnlich. Für eine Handvoll bestimmter Operationen wurden deshalb in den vergangenen Jahren sogenannte Mindestmengen eingeführt: Krankenhäuser, die nicht mindestens eine bestimmte Anzahl einer Operation erreichen, dürfen diese OP nun nicht mehr durchführen. Für die meisten Eingriffe gelten solche Mindestmengen jedoch nicht.

Seit vielen Jahren wird in Expertenkreisen diskutiert, wie die Vergütung von Ärzten und Kliniken qualitätsabhängig gestaltet werden kann, wie es gelingen kann, dass Qualität statt Masse im Vordergrund steht - bislang ohne Ergebnis. Und während hierzulande noch diskutiert wird, ob es nicht zu komplex ist, klinische und patientenberichtete Ergebnisse als Vergütungskriterien zu berücksichtigen, haben sich andere Länder längst (wieder einmal) auf den Weg gemacht und dies umgesetzt.

Das ist nicht gut, denn die medizinische Versorgung in Deutschland ist allzuoft nur Mittelmaß. Ein Beispiel: Die Sterblichkeit innerhalb von 30 Tagen nach einem Herzinfarkt liegt in deutschen Krankenhäusern bei 8,5 von 100 Fällen. In den Niederlanden sind es nur 3,5 und in Dänemark sogar nur 3,2 Todesfälle je 100 Patienten. Damit liegt Deutschland sogar unter dem Durchschnitt der 38 OECD-Industriestaaten von 6,9 pro 100 Fälle.

Nachzügler bei der Digitalisierung und Telemedizin

In der nahezu menschenleeren Region Südkarelien im äußersten Südosten Finnlands ist der Weg zum nächsten Arzt für viele Menschen extrem weit. Seit 15 Jahren ist dort ein Kleinbus unterwegs, ausgestattet wie eine Arztpraxis und vollgepackt mit telemedizinischer Hightech. Pflegekräfte, die viel mehr dürfen als hierzulande, bieten im Bus medizinische Versorgung an. Ärzte sitzen im zentralen Krankenhaus der Region und erhalten  über Breitbandverbindung Videobilder und Diagnosedaten – und die Pflegekräfte  können vieles selbst machen oder tun, was die Ärzte sagen. Reicht der Bus nicht aus, kommt der Hubschrauber. Was in Deutschland Ärztemangel und Unterversorgung heißen würde, ist in Südkarelien seit anderthalb Jahrzehnten kein Thema mehr. Die finnische Realität heute: Etwa 80 Prozent der Gesundheitsversorgung erfolgt digital, rund 20 Prozent findet vor Ort in medizinischen Einrichtungen statt.

In einer niederländischen Studie mit Krebspatienten wurden Computertomografien mit Künstlicher Intelligenz ausgewertet, um die oft tödlichen Lungenembolien möglichst früh zu erkennen und zu behandeln. Während Ärzte rund 45 Prozent der Lungenembolien im Frühstadium übersahen, lag die Fehlerquote bei auf künstlicher Intelligenz (KI) basierter Software nur bei 2,6 Prozent.

Trotz vieler ähnlicher Beispiele für die Chancen einer digitalisierten medizinischen Versorgung: Deutschland hinkt mit der Digitalisierung des Gesundheitswesens etwa fünfzehn bis zwanzig Jahre hinter führenden Ländern wie Finnland, Estland oder Dänemark hinterher. Selbst die Bundeszentrale für politische Bildung betont, dass Deutschland bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens im internationalen Vergleich als Nachzügler gilt. Für die Gesundheitsversorgung ist das ein Desaster.

Keiner integriert die Versorgung

Patienten sind im deutschen Gesundheitssystem weitgehend auf sich allein gestellt. Wer von einem Arzt zum anderen wechselt oder aus dem Krankenhaus entlassen wurde, muss sich erneut mit Terminnot und Ärztemangel (bis hin zum „Aufnahmestopp“) herumschlagen – und verliert im schlimmsten Fall wertvolle Zeit. Präzise Kooperation, Vernetzung der beteiligten Fachrichtungen, transparente Übergabe vom Krankenhaus zum Hausarzt sind die Ausnahme. Sektorales Tunnelhandeln wird honoriert und dominiert. Versorgungspfade oder Versorgungsnetzwerke fehlen. Das Ergebnis: Der Patient steht allein gelassen zwischen all der klugen Medizin. 

Die Folgen können vielfältig sein: Die Nachsorge nach einem Krankenhausaufenthalt kann unzureichend sein. Oder chronisch kranke Patienten erhalten nicht die optimale Behandlung, weil Informationen nicht allen behandelnden Ärzten zur Verfügung stehen. Oder es werden überflüssige und teure Doppeluntersuchungen durchgeführt, die die knappen Kassen nur unnötig belasten.

Krankenhäuser können ältere Patienten, die nicht mehr allein zurechtkommen, oft nicht entlassen, weil unklar ist, wer sich weiter um sie kümmert. Sie bleiben in stationärer Behandlung, obwohl ihre Behandlung abgeschlossen ist. Der Chefarzt einer Klinik für Innere Medizin berichtet, dass 15 Prozent seiner Betten mit solchen „Überliegern“ belegt sind.

Befragungen zeigen immer wieder, dass Patienten darunter leiden, dass sie auf ihrem Weg durch das Gesundheitssystem nicht unterstützt werden. So würden es 49 Prozent der Deutschen ganz oder überwiegend befürworten, wenn ihre Krankenkasse durch individuelle Empfehlungen eine stärkere Rolle dabei spielen würde, welche Leistungen sie in Anspruch nehmen sollten. Nur 12 Prozent lehnen dies ganz oder teilweise ab. Und 27 Prozent der Versicherten wünschen sich, dass ihre Krankenkasse ihnen aktiv dabei hilft, sich im Gesundheitssystem gut zurechtzufinden, und gleichzeitig Gesundheitsleistungen für sie organisiert und vernetzt. Nur noch 27 Prozent wünschen sich eine Krankenkasse als reinen Kostentragenden.

Die Gesundheitsversorgung muss wieder auf Vordermann gebracht werden

Die Betriebskrankenkassen fordern eine Runderneuerung des Systems der Gesundheitsversorgung. Dazu gehören:

  • Krankenkassen müssen eine aktivere Rolle als „Lotse im Gesundheitswesen“ für ihre Versicherten übernehmen dürfen. Hierfür ist ihnen ein Wettbewerb um die beste Versorgung zu ermöglichen.

     

  • Krankenkassen müssen durch mehr gestalterische Freiheiten unproblematisch Verträge mit Ärzten und Krankenhäusern und anderen Leistungserbringenden schließen dürfen, die den Aufbau von Gesundheitsnetzwerken ermöglichen, die für Patienten eine kontinuierliche Behandlung ohne überflüssige Wartezeiten und mit bestmöglicher Qualität sicherstellen.

     

  • Das Bemühen um wirklichen Behandlungserfolg muss sich endlich lohnen. Die medizinischen Daten der Versicherten und ihr Feedback sind dabei die wesentlichen Kriterien.

     

  • Die medizinischen Versorgungskapazitäten müssen grundsätzlich an die Bedarfe der Patienten angepasst werden. Dazu müssen die Krankenkassen mehr Transparenz über den Status quo erhalten, um passgenau neue Versorgungskonzepte entwickeln und umsetzen zu können.
  • Um die Chancen der Digitalisierung und KI besser auszuschöpfen, muss der Grundsatz „Menschenschutz vor Datenschutz“ gelten.

Dieser Artikel erläutert eine von insgesamt sechs Forderungen der Betriebskrankenkassen
an die nächste Bundesregierung nach der Bundestagswahl 2025. #rebootGKV

Forderungen zur Bundestagswahl 2025 der Betriebskrankenkassen

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