BKK Dachverband fürs Ohr

Interview mit Franz Knieps zum BKK Gesundheitsreport 2021

Ein Interview mit Franz Knieps zum BKK Gesundheitsreport 2021

Cover BKK Gesundheitsreport 2021

FRAGE 1 Herr Knieps, die Arbeitswelt wandelt sich und nicht erst seit Beginn der Corona-Pandemie. Wie stellen sich die veränderten Arbeitsformen und Arbeitsbedingungen Ihnen dar?

OT1 Ja, es ist ein sehr vielfältiger Prozess. Wir erleben, dass die früher scharfe Trennung zwischen Selbständigkeit und abhängiger Beschäftigung zunehmend ineinander übergeht. Wir erleben, dass früher die klaren und tief gestaffelten Hierarchien zunehmend aufgeweicht werden, dass diese Hierarchien ergänzt werden durch Teambildung, durch agile Arbeitsformen. Außerdem, das ist ja nicht schlecht, haben jüngere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer einen anderen Anspruch an die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Und deshalb spielt Teilzeit eine immer größere Rolle. Die Welt der Arbeit und die Welt der Wirtschaft wandelt sich, das heißt, die frühere Situation, dass Menschen lebenslang bei einem Arbeitgeber beschäftigt sind, wird eher die Ausnahme, ein häufiger Wechsel zwischen Arbeitgebern die Regel. Und last but not least die digitale Transformation erfasst natürlich auch die Wirtschaft und das Arbeitsleben. Neue Skills werden benötigt, um digital mithalten zu können. Aber diese neuen Skills führen auch dazu, dass Entfernung und Entfremdung von der Arbeit größer werden können. Die Gliederung der Arbeit in Raum und Zeit wird zunehmend aufgeweicht. Und das kann, muss aber nicht zu Problemen führen.

FRAGE 2 Sie sprachen von zunehmender Entfernung und Entfremdung von der Arbeit. Exemplarisch dafür kann wohl die Arbeit im Homeoffice stehen. Dem geht auch der diesjährige Gesundheitsreport der Betriebskrankenkassen nach, sprich der Frage, wie die Beschäftigen ihre Arbeit im Homeoffice einschätzen, ob eher problematisch oder eher nicht?

OT2 Wir stellen fest, dass einerseits Arbeitnehmer sehr zufrieden sind, dass sie Arbeitsort und Arbeitszeit freier wählen können als früher. Bei Umfragen sind das immer so zwischen ein Viertel und ein Drittel der Befragten. Auf der anderen Seite haben wir aber auch Leute, die an Vereinsamung leiden, die sich zu Hause eingesperrt fühlen, die zurückkommen wollen ins Büro, die die Gemeinschaft mit Kolleginnen und Kollegen vermissen. Auch da wird man davon ausgehen müssen, dass es bei rund einem Viertel der Fall ist. Je länger natürlich die Pandemie dauert, desto größer wird die Sehnsucht wieder zu Gewohntem, zu kollegialer Kooperation zurückzukehren. Man darf ja nicht vergessen, es ist ja nicht nur die Arbeit, der Betrieb ist ja auch ein sozialer Ort, wo Freundschaften stattfinden, wo gute Nachbarschaften stattfinden, wo gemeinsam etwas erarbeitet wird. Und das ist schwieriger, wenn man nur auf die Kachel des Bildschirms schaut.

FRAGE 3 Einerseits belastet das mobile, digitale Arbeiten die Beschäftigten, andererseits schreitet der digitale Wandel unserer Arbeitswelt voran. Wie lässt sich das im Sinne einer „gesunden Arbeit“ zusammenbringen? Was können Betriebe tun, um etwa die Motivation und den Zusammenhalt ihrer Beschäftigten zu stärken?

OT3 Also das Wichtigste ist einmal diese Widersprüche auszuhalten und resilient, also widerstandsfähig, gegen solch unterschiedliche Belastungen zu werden. Das Zweite ist, in die Betriebe hineinzuhorchen, mit den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zu sprechen. Und das dritte ist, Führungskräfte auf die Besonderheiten des Führens in einer digitalen Umwelt anzusprechen und sie entsprechend zu trainieren. Also die Flexibilität muss größer werden, aber auch die Sensibilität der Unternehmensführung muss größer werden, damit sie rechtzeitig erkennt, wo sich Belastungen zeigen, wo sich psychische Auffälligkeiten entwickeln, wo Hilferufe nur unterdrückt wahrnehmbar sind. Die Führungsverantwortung ist größer geworden.

FRAGE 4 Sie sprechen von der besonderen Rolle von Führungskräften in einer veränderten digitalen Umwelt. Doch stehen wohl auch die Beschäftigten in der Pflicht. Wie kann das Zusammenspiel zwischen Führung und Mitarbeitenden gelingen?

OT4 Das ideale Mittel ist betriebliches Gesundheitsmanagement und betriebliche Gesundheitsförderung. Die Belastungsfähigkeit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hängt von einem guten Betriebsklima ab, hängt davon ab, ob Entscheidungsmöglichkeiten geboten werden, ob die Arbeit abwechslungsreich ist. Und da, das hat die Pandemie gezeigt, ist viel mehr möglich als früher überhaupt gedacht werden konnte. Im eigenen Haus hab ich die Erfahrung gemacht, dass die Produktivität steigt, wenn die Vielfalt steigt.

FRAGE 5 Mehr Vielfalt, sagen Sie, aber wie stellt sich diese Vielfalt konkret dar?

OT5 Ja, bei Beginn der Pandemie haben einige Führungskräfte in unserem Haus befürchtet, dass sie weniger Kontakt zu ihren Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen haben und dass sie nicht mehr quasi täglich sehen können, was passiert. Aber die digitale Arbeitsform bietet ja die Möglichkeit jeden Morgen sich zu einer kurzen Runde zusammenzuschließen. Ich persönlich hab beispielsweise fast alle Kinder meiner Mitarbeitenden kennengelernt, die früher oder später mal mit auf dem Bild waren. Und wir haben es auch lustig genommen, wenn bestimmte Dinge mal nicht so funktioniert haben und unterbrochen wurden. Insgesamt hatte ich so den Eindruck, dass der Zusammenhalt gestärkt und nicht geschwächt wurde.

FRAGE 6 Wir sprachen von Führungskräften und Mitarbeitenden in den Betrieben, zuletzt auch in ihrem Verband, dem Dachverband der Betriebskrankenkassen. Nun fordern Sie des Weiteren auch eine Neubestimmung der Rolle von Krankenkassen und insofern auch der Betriebskrankenkassen. Was dürfen wir darunter verstehen?

OT6 Ja, es ist der alte Spruch vom Payer zum Player zu werden, also vom Finanzamt zur gestaltenden Institution im Gesundheitswesen zu werden. Der Gesetzgeber hat uns so viele Aufgaben gegeben, wo wir unsere Versicherten unterstützen sollen, wie wir Leistungsprozesse im Gesundheitswesen organisieren sollen. Und das verlangt eine andere Rolle als das klassische Sozialversicherungsgeschäft, nämlich Beiträge einzuziehen und sie an Organisationen der Leistungserbringer weiterzuleiten. Wir nehmen diese Rolle wirklich bewusst an, wir haben eine besondere Nähe zu unseren Versicherten und zu unseren Betrieben aus der Tradition heraus, aber auch gelebt durch neue Angebote. Wir sind als Betriebskrankenkassen nicht der große Tanker oder Flugzeugträger, der 15 Kilometer weiter fährt, bevor er erst einmal anhalten kann und dann einen riesigen Radius braucht, um zu wenden. Wir sind kleine, schnelle Beiboote, die sehr flexibel auf das reagieren können, was Versicherte wollen und das, was Betriebe wollen. Und dazu treten wir in einen aktiven Dialog, wir befragen die Leute. Und wir sind stolz auf unsere Selbstverwaltung, die noch direkt aus den Betrieben stammt. Das sind Betriebsräte, das sind Personalverantwortliche mit täglichem Bezug zur Praxis. Und im Dialog mit dieser Selbstverwaltung entwickeln wir unsere Angebote sehr praxisnah.

FRAGE 7 Sie sagen praxisnah, nah am Kunden und schon immer im Zusammenspiel mit den Betrieben. Wo greift da die eigentliche Neubestimmung der Rolle von Kassen?

OT7 Ja, aber sie hat früher so ein bisschen vor sich hin gewurschtelt und jetzt entwickeln wir gemeinsame Aktivitäten mit Betrieben. Wir haben Projekte im Innovationsfonds mit Betrieben, mit Personalverantwortlichen, mit Betriebsräten, mit Gewerkschaften, mit Arbeitsmedizinern direkt vor Ort. Und das ist recht neu! Und das tun wir in der BKK-Gemeinschaft von über 70 Kassen gemeinsam. Wir erfinden also die Welt nicht 70 Mal, sondern wir entwickeln etwas einmal und rollen es dann aus in die Betriebe, direkt zu den Versicherten.

FRAGE 8 Das Wirken gesetzlicher Kasse wie der Betriebskrankenkassen ist immer auch eng mit dem politischen Willen, dem Staat als Gesetzgeber verbunden. Die Bundestagswahl liegt hinter uns. Was erwarten Sie von der Gesundheitspolitik einer künftigen Bundesregierung?

OT8 Also meine Erwartungen sind nicht so hoch. Ich möchte nicht, dass wieder Dutzende von Gesetzen gemacht werden, Dutzende von Verordnungen gemacht werden, die oft nur eine Halbwertszeit von Tagen oder Wochen haben. Ich wünsche mir von einer neuen Regierung, dass sie mal innehält und sagt, was wollen wir eigentlich politisch längerfristig erreichen. Man nennt das neudeutsch ‚Ordnungspolitik‘. Also eine gewisse Klarheit, welche Ziele hat diese Regierung und woran misst sie, ob diese Ziele erreicht werden. Ich bin von Hause aus Jurist. Da müsste man meinen, dass Juristen das kleinteilige Gesetze-machen lieben. Ich halte aber diesen Weg für falsch. Ich glaube, wir brauchen weniger Regulierungsmenge und eine geringere Regulierungsdichte. Ich bin nahezu süchtig danach, Spielräume für Innovationen und Experimente zu bekommen, denn das altehrwürdige Gesundheitssystem ist in die Jahre gekommen und muss den Herausforderungen – wir sprachen beispielsweise über die digitale Transformation – angepasst werden. Deshalb hat für mich absolute Priorität, integrative Leistungserbringung zu fordern und zu fördern und digitale Transformation zu beschleunigen und auch in den eigenen Reihen dafür zu werben, sich auf diese digitale Welt einzustellen.

FRAGE 9 Sich auf die digitale Welt einstellen, sagen Sie, abschließende Frage: Wie sehen Sie persönlich den digitalen Wandel unserer Arbeitswelt? Eher als Chance oder mehr als Problem?

OT9 Also das Glas ist für mich immer halb voll. Das kriegt man in die DNA des Rheinländers schon mitgegeben. Von daher überwiegen für mich die Chancen, die die digitale Transformation bietet. Im Übrigen ist sie auch nicht aufzuhalten. Also wenn man wie die Ärzte mal ein Jahr Pause von der digitalen Transformation fordert, dann kann man auch sagen, das schlechte Wetter soll mal ein Jahr lang wegbleiben oder es soll ein Jahr lang Sommer bleiben in Berlin. Für mich ist das so ein bisschen das Anbellen des Mondes. Man muss wachsam sein, man muss sensibel sein für die Gefahren, die digitale Angebote, digitale Leistungen, digitale Veränderungen mit sich bringen, aber man muss die Potenziale ausschöpfen. Ich hab’s ja gesagt, man muss die Widersprüchlichkeit aushalten. Und da können wir noch deutlich zulegen.