Gesundheit und Politik

Die Notfallversorgung ist selber Patient

Interview mit Ralf Krawinkel, Fachbereichsleiter Feuerwehr Potsdam, Leitendender Branddirektor

Der Rettungsdienst steht kurz vor dem Kollaps. Nicht nur in Potsdam, sondern bundesweit, sagt uns Ralf Krawinkel, Fachbereichsleiter Feuerwehr der Landeshauptstadt Potsdam: „Die Sanitäter sind frustriert über lange Schichten ohne Pausen und immer mehr Verdichtung.“ Sein Situationsbericht macht deutlich: In der Summe haben kleine Dinge einen massiven Einfluss auf die Notfallversorgung und lösen eine Art Kettenreaktion aus. Dadurch gerät das System auf Dauer massiv unter Druck.

Porträt Ralf Krawinkel

Ein Notruf geht ein: Der Patient klagt über Rückenschmerzen. Die hat er seit Wochen. Ist das ein Fall für den Notarzt? Natürlich nicht. Für viele Menschen in Deutschland offenbar schon. Notfälle, die eigentlich gar keine sind, rauben dem Personal in den Notaufnahmen nicht nur Nerven, sondern vor allem Zeit. Herr Krawinkel, wie ist das Verhältnis dieser Fälle zu den richtigen Notfällen, wie Herzinfarkte oder Schlaganfälle?

Wir sehen, dass 60 Prozent der Einsätze Bagatelleinsätze sind, bei denen keine lebensbedrohliche Situation vorliegt. Es gibt also nur in 40 Prozent der Einsätze den klassischen Notfall, also eine Situation, die Gefahr für das Leben der Menschen bedeutet und für die der Rettungseinsatz eigentlich vorgesehen ist.

Ist der Rettungsdienst für Bürgerinnen und Bürger zu oft die erste Anlaufstelle, womöglich sogar die Alternative zum Arztbesuch?

Ja, das ist wirklich so. Typische Situation aus der Praxis: Wir nehmen einen Notruf an, in dem der Hilfesuchende ausführt, er hätte seine Rückenschmerzen seit einer Woche, brauche aber genau jetzt Hilfe. Es ist nicht selten, dass wenn wir nachfragen, ob deshalb bereits der Hausarzt aufgesucht wurde, dies verneint wird. Es ist tatsächlich so: Die Notfallrettung wird für alles herangezogen, was an medizinischen Fällen denkbar ist. Wir sind wohl auch deshalb in einer schwierigen Lage, weil die kassenärztliche Versorgung nicht mehr so in der Fläche vorhanden ist, wie das noch vor einigen Jahren der Fall war.

In Berlin gab es jüngst einen heftigen Streit zwischen Innensenatorin und Gesundheitssenatorin über die Mittel, den Rettungsdienst vor dem Dauer-Ausnahmezustand zu bewahren. Zuletzt wurde hinter den Kulissen mit den Fristen getrickst: Also die Zeit bis zur Ankunft beim Patienten nicht mehr ab dem Anruf messen, sondern erst dann, wenn der Rettungswagen die Rettungswache verlässt. Ein abenteuerlicher Vorschlag, ohne irgendeine medizinische Facheinschätzung zu berücksichtigen. Dit is Berlin. Aber was kann man wirklich tun?

Das System ist krank, der Rettungsdienst ist nur ein Zahnrad in einem komplexen Gesundheitssystem. Unser Gesundheitswesen ist aber selber ein Patient. Es ist sinnlos an den Auswirkungen herumzudoktern – die Ursachen der Probleme müssen angegangen werden. Das System muss systemisch gedacht und dann entsprechend gehandelt werden. Es nützt nichts, wenn wir die Frist verlängern, die festlegt, wie lange es dauern darf, bis Rettungswagen und Notarzt eintreffen. Oder, wenn wir überlange Dienstzeiten tolerieren, in denen die Kollegen im Rettungsdienst ausbrennen. Oder, wenn wir ausschließlich die Krankenhäuser und ihre Notaufnahmen besser machen. Oder, wenn wir nur mit dem KV Bereich kooperieren, so dass mehr Einsätze an die Kassenärztliche Vereinigung abgegeben werden können. Wir müssen das ganzheitlich denken und das System über die Sektoren hinweg zielführend steuern.

Wir brauchen neue Strukturen. Patientinnen und Patienten in Deutschland sollen im Notfall künftig durch neue Leitstellen und Notfallzentren versorgt werden. Vorschläge der Expertenkommission der Bundesregierung liegen seit Februar auf dem Tisch.

Neue Leitstellen - Reform der Notfallversorgung

Inhalte suchen oder abonnieren