Eine rasant alternde Gesellschaft, steigender Fachkräftemangel und explodierende Kosten: Die Lage der sozialen Pflegeversicherung (SPV) spitzt sich zu. Die nach jahrelangem politischen Ringen zum 1. Januar 1995 eingeführte und als sozialpolitische Errungenschaft gefeierte fünfte Säule der Sozialversicherung steht knapp 30 Jahre nach ihrem Start vor dem Kollaps. Ein neues Thesenpapier des BKK Dachverbandes zur Pflege zeigt auf, mit welchen Mitteln der Gesetzgeber das Aus noch abwenden könnte.
Die Zahlen sind erschreckend. Laut GKV-Spitzenverband ist die Zahl der Pflegebedürftigen in Deutschland allein in den vergangenen sieben Jahren um mehr als zwei Millionen Betroffene auf aktuell 5,2 Millionen Menschen angewachsen. Auffällig und besorgniserregend sei dabei vor allem die rasante Entwicklung im vergangenen Jahr, verkündete die Organisation im April: 2023 meldeten hierzulande 361.000 Bürgerinnen und Bürger Pflegebedarf an – elf Prozent mehr als in den Jahren zuvor. Ob diese Steigerung ein einmaliger Nachholeffekt der Corona-Pandemie ist oder sich zum mittel- bis langfristigen Trend entwickelt, ist derzeit noch unklar.
Deutschland steht erst am Anfang des demografischen Wandels
Prognosen des Statistischen Bundesamtes lassen in den kommenden Jahrzehnten nicht auf eine rückläufige Entwicklung der Nachfrage nach Pflege hoffen. Im Gegenteil, denn Deutschland steht erst am Anfang des demografischen Wandels. Konservative Berechnungen des Hauses, die eine konstante Pflegequote, also einen gleichbleibenden Anteil der Pflegebedürftigen an der Bevölkerung nach Alter und Geschlecht zugrunde legen, gehen von rund 6,8 Millionen Pflegebedürftigen bis 2055 und 6,9 Millionen pflegebedürftigen Menschen bis 2070 aus. Eine weitere Berechnungsvariante des Statistischen Bundesamtes fällt allerdings deutlich pessimistischer aus und sagt für 2035 bereits 6,3 Millionen Pflegebedürftige voraus. Im Jahr 2070 steuert ihre Zahl in dieser Kalkulation auf 7,7 Millionen Betroffene zu.
Steigende Beitragssätze, Ausgaben und Eigenanteile
Die soziale Pflegeversicherung ist eine Teilkostenversicherung, deren Ausgaben bis Ende 2021 vor allem die Pflichtbeiträge der Versicherten finanzierten. Der Beitragssatz in der SPV ist seit ihrer Einführung kontinuierlich gestiegen und hat sich für Versicherte bis heute wenigstens verdreifacht: Lag er 1995 noch bei einem Prozent des Bruttoeinkommens, werden seit dem 1. Juli 2023 für Versicherte je nach Familienstand zwischen 3,4 und 4 Prozent des Bruttoeinkommens für die Pflegeversicherung fällig (siehe Grafik).
Die Ausgaben für Pflegeleistungen steigen und steigen
Ebenso steil nach oben zeigt die Entwicklungslinie der Leistungsausgaben für die Pflege. Allein zwischen 2010 und 2022 haben sich die Kosten der SPV laut Bundesregierung fast verdreifacht. Zahlen des BKK Dachverbands zufolge verzeichnete die Pflegeversicherung im Jahr 2022 Ausgaben in Höhe von 56,01 Milliarden Euro. 2023 schlugen in der SPV Kosten von 56,67 Milliarden Euro zu Buche. Schon seit einigen Jahren reichen die Versichertenbeiträge allein nicht aus, um die Pflegeausgaben zu decken. Zwar schoss der Bund zur Abmilderung der wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie in den Jahren 2022 und 2023 zur Finanzierung der Pflege jährlich eine Milliarde Euro aus Steuermitteln zu. Allerdings bleiben dennoch 5,3 Milliarden Euro an ungedeckten Pandemie-Kosten der SPV bestehen.
Seit 2024 muss die Versichertengemeinschaft die Ausgaben wieder alleine stemmen, und das ist ein Fass ohne Boden. Denn nach Berechnungen des BKK Dachverbandes reicht die alt hergebrachte Art der Finanzierung nicht einmal bis zum Jahresende 2024, um die pflegerische Versorgung im Land sicherzustellen. Danach droht der Pflegeversicherung ein weiteres Delta zwischen Einnahmen und Ausgaben, welches die Autoren des DV-Thesenpapiers auf 4,8 Milliarden Euro beziffern.
Die SPV braucht ein neues Fundament
Weitere Finanzlöcher dürften aufgrund der Gemengelage und insbesondere der demografischen Entwicklung nicht lange auf sich warten lassen. Deswegen bedarf es einer zügigen Finanzreform der Pflegeversicherung durch den Gesetzgeber. „Es ist an der Zeit, die SPV auf ein grundlegend neues Fundament zu stellen“, heißt es in dem Thesenpapier. Um die pflegerische Versorgung auch in Zukunft gewährleisten zu können, bedürfe die fünfte Sozialversicherungssäule weiterhin einer soliden Finanzierungsgrundlage der Allgemeinheit in Form eines Bundeszuschusses aus Steuermitteln.
Perspektivisch müssen sich die GKV und die SPV wieder aufeinander zubewegen. Dabei geht es darum, bestehende Grenzen aufzuweichen, um die derzeit bestehende Komplexität der Versorgung für pflegebedürftige Versicherte zu reduzieren und zugänglicher zu machen. Zudem sollte sich der Fokus künftig darauf richten, Pflegebedürftigkeit zu verhindern oder hinauszuzögern.
Breitband-Infrastruktur und Smart Home: Digitalisierung für die Pflege nutzen
Die Pflegebranche ist einer der Wirtschaftszweige in Deutschland, der bislang nur unzureichend digitalisiert ist. „Viel zu oft stoßen Robotik und digitale Unterstützungssysteme in der Pflege noch auf (ethische) Bedenken und Datenschutzprobleme“, heißt es hierzu in dem Thesenpapier. Auch gebe es misslicherweise bislang keine klar definierte Strategie zur Umsetzung der digitalen Transformation der Pflege.
Deutschlands Bevölkerung indes ist bei der Digitalisierung mit Blick auf die eigene Gesundheit schon längst einen Schritt weiter: Millionen von Bürgerinnen und Bürgern messen Vitalparameter wie Bewegung, Puls oder Schlafrhythmus mithilfe von Gesundheits-Apps oder Wearables und teilen die hierbei generierten Daten mit privaten Digitalanbietern wie Google oder Apple.
Echzeitinformationen könnten die Pflege verbessern
Dabei könnten Echtzeitinformationen wie diese auch in der Pflege von Nutzen sein und die Versorgung verbessern – etwa durch den verstärkten Einsatz von Telemedizin. Um ein flächendeckendes Angebot bereitstellen zu können, müssten ambulante Pflegedienste, Pflegeheime und pflegende Angehörige überall in der Republik Zugriff auf eine schnelle und stabile Internetverbindung haben und die Netze in Deutschland entsprechend ausgebaut werden. Zur Stärkung der Pflege in der eigenen Häuslichkeit schlagen die Autoren des Thesenpapiers außerdem eine „Smart-Home-Offensive“ vor. Zudem sei es unerlässlich, die digitale Gesundheits- und Pflegekompetenz der Bürgerinnen und Bürger im Rahmen einer Kommunikations- und Bildungsoffensive zu stärken und auszubauen.
Unerlässlich und überfällig ist außerdem eine klare strategische Planung der digitalen Transformation in der Pflege. Neben konkreten Anwendungsfällen für digitale Innovationen und Transparenz über bestehende digitale Angebote und Projekte ist vor allem die Nutzung der elektronischen Patientenakte (ePA) wichtig. Damit es hierbei nicht nur um das Befüllen mit Daten geht, ist ein ePA-Nutzungskonzept für ein vernetztes Versorgungsmanagement unerlässlich.
Prävention und Rehabilitation stärken, Pflegebedürftigkeit verhindern
Bislang sind sowohl die Gesetzliche Krankenversicherung als auch die soziale Pflegeversicherung auf die kurative Behandlung im Krankheitsfall ausgerichtet. Prävention und Rehabilitation spielen dagegen nur eine untergeordnete Rolle. Doch gerade der Ausbau präventiver und rehabilitativer Maßnahmen ist notwendig, um den Bedarf an Pflege zu senken und die Selbständigkeit und Lebensqualität der Menschen möglichst lange aufrechtzuerhalten. Prävention kann Pflegebedürftigkeit verhindern oder pflegerische Versorgung wenigstens hinauszögern – und das bedeutet eine Entlastung für das gesamte System. Um den Präventionsgedanken in den Köpfen zu verankern und pflegerische Vorsorge im Gesundheitswesen zu etablieren, muss die Politik zum einen entsprechende Rahmenbedingungen und Anreize schaffen und zum anderen in die Versorgungsforschung im Bereich Pflegeprävention- und Pflegerehabilitation investieren. Auch muss sich der Blick künftig mehr als bisher auf die Bürgerinnen und Bürger richten: Hier gilt es, herauszufinden, welche präventiven Mittel im indivuellen Fall die Pflegebedürftigkeit vermeiden können und wie sich diese niedrigschwellig implementieren lassen.
Entlastung und Lohn für pflegende Angehörige
Nicht ohne Grund ist hierzulande im Zusammenhang mit pflegenden Angehörigen in der Öffentlichkeit häufig die Rede vom „Pflegedienst der Nation“: Rund vier von fünf Pflegebedürftigen werden nach Angaben des Statistischen Bundesamtes in der eigenen Häuslichkeit versorgt, meistens von Verwandten. Angehörige, Freunde und Bekannte stemmen derzeit das Gros der Pflege, ohne dafür bezahlt zu werden und gehen oft außerdem ihrem eigentlichen Beruf nach. Dieses Engagement bedarf künftig einer viel größeren Würdigung – in Form von Entlohnung, vollständiger rentenrechtlicher Anerkennung sowie struktureller Entlastung.
Wertschätzung der Pflegenden durch gesetzlich verankerten Anspruch auf Pflegelohn
Wertschätzung für die häufig nervenaufreibende psychische und physische Doppelbelastung durch Carearbeit und Beruf könnten pflegende Angehörige etwa durch einen gesetzlich verankerten Anspruch auf einen Pflegelohn und die vollständige Berücksichtigung von Pflegezeiten bei der Berechnung der eigenen Rente erfahren. Zudem sollten die bereits zur Verfügung stehenden Leistungen zur Entlastung der häuslich Pflegenden wie Tagespflege, Kurzzeitpflege und Verhinderungspflege aus Sicht des BKK Dachverbandes in einem Entlastungsbudget zusammengeführt werden. Zugleich gelte es, die genannten Entlastungsangebote bis zu einer bestimmten Tagesanzahl zuzahlungsfrei und rehabilitativ auszurichten. Haben Pflegende keine Möglichkeit, auf die genannten Entlastungsangebote zurückzugreifen, sollten sie finanzielle Unterstützung für selbstorganisierte Hilfe erhalten können. Zusätzlich schlagen die Autoren des Thesenpapiers vor, für den Fall einer häuslichen Unterversorgung eine bundesweite Notfallnummer einzurichten.
Gründungprogramm für Aufbau firmeneigener Tages- und Kurzzeitpflege
Aber auch die Wirtschaft könnte und sollte künftig ihren Beitrag dazu leisten, die häusliche Pflege zu entlasten. Denkbar wäre an dieser Stelle etwa, ein Gründungsprogramm für Unternehmen aufzulegen, welches die Betriebe beim Aufbau firmeneigener Tages- und Kurzzeitpflege für die Mitarbeitenden unterstützt. Um weitere Anreize für ehrenamtliche häusliche Pflege zu schaffen, könnten in Zukunft sämtliche Leistungen der Pflegeversicherung in einem Entlastungsbudget zusammengefasst und damit die derzeit vorhandenen Sektorengrenzen überwunden werden.
Fachkräftemangel mit nachhaltigen und guten Arbeitsbedingungen begegnen
Deutschland verfügt nach der Schweiz und den skandinavischen Ländern über die meisten Pflegefachkräfte pro 1.000 Einwohner. Doch bereits heute reicht diese Quote nicht aus, um die Masse an pflegebedürftigen Bürgerinnen und Bürgern adäquat zu versorgen. Bei der Bundesagentur für Arbeit ist der Pflegeberuf bereits seit Jahren als „Engpassberuf“ gelistet; laut Prognose des Statistischen Bundesamtes werden in Deutschland bereits in zehn Jahren mehr als 90.000 Pflegefachkräfte fehlen. Es ist eine offene Flanke, die in den vergangenen Jahren weder durch die Vielzahl an Initiativen noch durch Gesetzesänderungen oder Kommunikations- und Anwerbungskampagnen im In- und Ausland geschlossen werden konnte.
Verlässliche Dienstpläne, lebensphasengerechte Arbeitszeitmodelle
Der Gedanke liegt nahe, dass der Fachkräftemangel in der Pflege nicht allein durch zusätzliches Personal zu beheben ist – sondern sich dringend und inhärent etwas an der Beschaffenheit der Pflege, der Verteilung der Pflegekräfte und den Arbeitsbedingungen in der Branche ändern muss. Hierzu gehören verlässliche Dienstpläne ebenso wie lebensphasengerechte Arbeitszeitmodelle sowie ein professionelles Gesundheitsmanagement. Was in anderen Branchen reibungslos funktioniert, muss sich flächendeckend auch in allen Bereichen der Pflege etablieren.
Aufwertung der Profession durch erweiterte Kompetenzen
Eine Aufwertung der Profession durch erweiterte Kompetenzen und mehr Eigenständigkeit der Fachkräfte könnte entscheidend zu einer größeren Berufszufriedenheit beitragen und außerdem die Tendenz zur Abwanderung aus der Pflege verringern. So könnte auch Deutschland künftig hochqualifizierte Advanced Practice Nurses in der Pflege einsetzen, wie es Länder wie Neuseeland oder die Niederlande bereits seit Jahren erfolgreich tun. Zudem gilt es, die pflegerische Versorgung in Zukunft regional zu gliedern und zuzuweisen. Eine derartige Versorgungsplanung sowie wirksame Pflegestrukturen, insbesondere im ländlichen Raum, können lange Anfahrtswege von ambulanten Pflegediensten minimieren und somit den Fachkräften mehr Zeit für die eigentliche Pflege geben.
Kinder und Jugendliche für das Thema Pflege sensibilieren
Nicht zuletzt lässt sich der Fachkräftemangel in der Pflege langfristig nur dann beheben, wenn sich wieder mehr Menschen im Land für die Profession begeistern. Hier richtet sich der Blick vor allem auf den Nachwuchs. Wir sollten alles daransetzen, Kinder und Jugendliche schon in jungen Jahren an das Thema Pflege heranzuführen und bei ihnen ein Bewusstsein für das Gemeinwesen zu schaffen. Dafür muss es mehr Teilhabe von Pflegebedürftigen und mehr Berührungspunkte mit jungen Menschen geben.
Nachhaltigkeit im Sozialgesetzbuch verankern
Gesundheit und Klimaschutz sind nachgewiesenermaßen eng miteinander verknüpft. Nachhaltigkeit und Ressourcenschonung müssen deswegen auch in der Pflege eine Rolle spielen. Politisch bedarf es hierfür eines ganzheitlichen Transformationsansatzes, der sowohl soziale als auch ökologische Aspekte berücksichtigt und dessen Handlungsrahmen die Sozialgesetzbücher künftig vorgeben. Dies ist derzeit noch nicht der Fall. Darüber hinaus braucht Deutschland in der Pflege einen Paradigmenwechsel, der Prävention, Resilienz und Gesundheitsförderung in den Fokus rückt. Entsprechende Maßnahmen könnten den Zuwachs an Pflegebedürftigen bremsen, stationäre Aufenthalte verhindern und damit auch Emissionen verringern.
Gesunde Ernährung muss Teil der künftigen Ausrichtung der Pflege sein
Überdies gehört das Thema nachhaltige Ernährung bei der künftigen Ausrichtung der Pflege nach dem Dafürhalten der Betriebskrankenkassen dringend auf die Agenda. Gesunde möglichst regional produzierte, frische Lebensmittel gehören in Pflegeheimen ebenso auf die Teller wie beim „Essen auf Rädern“, das Pflegebedürftige nach Hause geliefert bekommen. Eine solche Verpflegung trägt nicht nur zum Wohlbefinden und zur Lebensqualität der Versicherten bei, sondern leistet auch einen wesentlichen Beitrag zum Klimaschutz.
Mehr Investitionen in digitale und bauliche Infrastruktur der Pflegesektors
Last but not least dürften auch mehr Investitionen in die digitale und bauliche Infrastruktur den Pflegesektor nachhaltiger machen: Vor allem ambulante Pflegedienste und stationäre Pflegeheime können dadurch Arbeitsprozesse effektiver gestalten und Ressourcen einsparen.
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Sarah Kramer
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Sarah Kramer ist für die Website des BKK Dachverbandes zuständig. Darüber hinaus verfasst sie Texte für die interne und externe Kommunikation und kümmert sich um Presseanfragen. Sarah Kramer ist Diplom-Politologin und Redakteurin. Zuvor war sie viele Jahre für die Gesundheitsberichterstattung beim Berliner "Tagesspiegel" verantwortlich.