„Pflege der Zukunft statt Zukunft ohne Pflege“ – einen Paradigmenwechsel fordert der BKK Landesverband NORDWEST: Anstelle kurzfristiger politischer Flickschusterei müssen die Probleme jetzt angegangen werden. Die Situation ist dramatisch: Bis 2030 wird die Zahl der Pflegebedürftigen auf 6,1 Mio. steigen. 2025 wird für die soziale Pflegeversicherung ein Minus von 4,4 Mrd. Euro prognostiziert. In einer Kirche in Essen, mitten im Ruhrgebiet, haben die Betriebskrankenkassen, im Herbst 2024 Revue passieren lassen, worauf sie gemeinsam mit ihren Netzwerkpartnern besondere Aufmerksamkeit der Pflegepolitiker gelenkt haben. Hilft nur noch beten? Von wegen!

Ob in der Klinik oder zu Hause, ob pflegende Angehörige oder Fachpflege, ob im Alter oder in der Jugend, ob Kurzzeit oder Langzeit – Pflege ist eines der gesellschaftlich relevantesten Themen. Sie zieht sich durch alle Bereiche unseres Lebens und ist ein wesentlicher Baustein unseres Gesundheitswesens. Und sie steckt in der Krise: ob steigende Beiträge in der Pflegeversicherung, höhere Pflegeheimkosten oder mangelndes Fachpersonal. Doch es gibt hoffnungsvolle Ansätze, wie der Pflegeberuf attraktiver gestaltet und die Pflege durch Digitalisierung und KI in Zukunft innovativ umstrukturiert werden kann. Nicht zuletzt die ehrenamtlich tätigen Menschen und ein kluges Quartiermanagement können helfen, die Perspektive zu verbessern. Kein Wunder, dass der BKK-Landesverband NORDWEST der Pflege in all ihren Facetten besondere Aufmerksamkeit gewidmet hat. Mit der frohen Botschaft „Pflege der Zukunft statt Zukunft ohne Pflege“ lud er deshalb Akteure und Netzwerkpartner aus dem Pflege- und Gesundheitssektor zum Herbstempfang in die Essener Kreuzeskirche.
Konzeptionelle Quartiergestaltung
Wie wichtig und notwendig soziales Miteinander sind, verdeutlichte Bodo de Vries, stellvertretender Vorsitzender der Geschäftsführung des Ev. Johanneswerks sowie Mitinitiator des Netzwerks „Soziales neu gestalten“ (SONG), in seinem leidenschaftlichen Plädoyer für eine zukunftsgerechte Ausgestaltung unseres sozialen Umfelds. Der Bedarf an Pflegeplätzen darf nicht nur monetär gemessen werden. Gerade weil die Generation der Babyboomer noch gar nicht in Pflegeeinrichtungen zu finden ist, sagt er. Für de Vries sind die Veränderungen in der Altenhilfe als Konsequenzen aus dem demografischen Wandel unzureichend und Teil des aktuellen Politikversagens. Seine Forderung: Für einen umfassenden gesellschaftlichen Wandel und ein gelungenes Quartiermanagement braucht es ein organisches Miteinander, das Mobilität, Kommunikation, Gesellschaft und fachliches Angebot vernetzt.
Die Zahlen aus der Pflege geben ihm recht: Bis 2030 wird die Zahl der Pflegebedürftigen auf 6,1 Mio. steigen. Für 2025 wird für die soziale Pflegeversicherung ein Minus von 4,4 Mrd. Euro prognostiziert.
Auch Dr. Dirk Janssen, Vorstand des BKK-Landesverbandes NORDWEST, zeigte sich alarmiert: „Die demografische Entwicklung, der Fachkräftemangel und die steigende Zahl der Pflegebedürftigen dulden keinen Aufschub. Die langfristigen Aussichten sind verheerend. Die Sicherstellung der pflegerischen Versorgung ist bedroht.“ Doch er sieht hoffnungsvolle Ansätze, wie der Pflegeberuf attraktiver gestaltet und die Pflege durch Digitalisierung und KI in Zukunft innovativ umstrukturiert werden kann.
Paradigmenwechsel gefordert
Der BKK-Landesverband NORDWEST fordert daher einen Paradigmenwechsel. Anstelle kurzfristiger politischer Flickschusterei müssen die Probleme jetzt angegangen werden. Es kann nicht sein, dass die Politik den Bundeszuschuss zur Pflegeversicherung bis 2027 auslaufen lassen will und die Zuschüsse nahezu beliebig nach Haushaltslage vergibt. Insbesondere gilt es jetzt, die Menschen dabei zu unterstützen und zu befähigen, möglichst lange ein selbstständiges Leben zu führen. Dazu zählt „Pflege“ ressortübergreifend und in allen Lebenslagen mitzudenken, zum Beispiel bei der Gestaltung von Quartieren. Janssen: „Hier benötigen wir ein funktionierendes Casemanagement aller Beteiligten.“
Mit Ernährung und Bewegung vorbeugen
Aber auch die Vorsorge in allen Lebensphasen ist wichtig. Dass gesunde Ernährung und Bewegung bereits von Kindheit an hilft, spätere Pflegebedürftigkeit zu vermeiden, wird viele überraschen. Doch die sich immer mehr verbreitende Diabetes (Typ II) erhöht das Pflegerisiko in späteren Jahren um 50 Prozent.
Der Anteil der Menschen in der Bevölkerung mit altersbedingter Multimorbidität wird weiterwachsen. In den nächsten Jahren werden ohne lebenslange Prävention immer mehr Menschen darüber hinaus an Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs, Depressionen und Demenz erkranken. Gaby Erdmann, ehemals Vorständin des BKK-Landesverbandes NORDWEST: „Die nachhaltige Ausrichtung der Pflege wird immer dringlicher. Hierbei geht es nicht nur um den schonenden Umgang mit Ressourcen und die Reduzierung von Treibhausgasemissionen, sondern vor allem um die Sicherung einer sozial gerechten und menschenwürdigen Pflege.“ So beeinflussen der Lebensstil, soziale Faktoren, Umwelt- und Klimafaktoren direkt die Gesundheitsrisiken und damit auch zukünftige Pflegebedarfe.
Pflege – ein weites Feld
Doch der Blick auf die Pflege, den der BKK-Landesverband NORDWEST gemeinsam mit den Expertinnen und Experten auf seinem Herbstempfang geworfen hat, ist deutlich vielfältiger. Einen wesentlichen Anteil an der Versorgung pflegebedürftiger und kranker Menschen tragen Fachkräfte in der Pflege. Ihr wertvoller Beitrag braucht allerdings mehr Befähigung und Wertschätzung. Die Position der Fachpflege macht Christine Vogler, Deutscher Pflegerat E.V., in der Live-Schalte aus Berlin unmissverständlich klar. Sie erklärt: „Die Erweiterung der Handlungskompetenz für die beruflich Pflegenden und die Mitsprache im Gesundheitssystem sind zwei Schlüsselentscheidungen, die der Gesetzgeber fällen muss. Die Pflege ist dafür schon lange bereit.“ Als ersten Schritt in eine mögliche Pflegezukunft sieht sie das Pflegekompetenzgesetz. „Autonome Handlungskompetenz, selbständige Leistungsabrechnung und Gleichwertigkeit im System müssen folgen und sind maßgeblich für eine Zukunft, in der auch pflegerische Versorgung stattfinden soll.“

Politik
Die Dringlichkeit politischer Intervention betonte ebenfalls Dirk Janssen: „Die demografische Entwicklung, der Fachkräftemangel und die steigende Zahl der Pflegebedürftigen dulden keinen Aufschub. Doch es gibt hoffnungsvolle Ansätze, wie der Pflegeberuf attraktiver gestaltet und die Pflege durch Digitalisierung und KI in Zukunft innovativ umstrukturiert wird.“ Menschen müssen unterstützt und befähigt werden, möglichst lange ein selbstständiges Leben zu führen.
KI in der Pflege
Eine neue Dimension eröffnet dabei der Einsatz Künstlicher Intelligenz. Der Herbstempfang zeigte eine Auswahl möglicher Anwendungsgebiete. Diana Heinrichs, CEO und Gründerin von LINDERA: „Wenn wir gemeinsam Patientenpfade und Ziele definieren und voneinander lernen, hilft uns Künstliche Intelligenz dabei, Versorgungslösungen bezahlbar zu machen. Die technikaffinen Betriebskrankenkassen können Vorreiter sein.“ Ihre Deep-Tech-Firma bietet mit der LINDERA Mobilitätsanalyse App eine wissenschaftlich fundierte und qualitätsgesicherte Sturzprävention für pflegebedürftige Personen. Durch den Einsatz modernster Technologie zur Analyse von Gangparametern und die direkte Integration in Pflege-Dokumentationssysteme unterstützt die App Fachkräfte dabei, gezielte Maßnahmen zur Vermeidung von Stürzen zu ergreifen und die Mobilität der Pflegebedürftigen zu erhalten.
Vereinsvorstand Alexander Hubov stellte den Care for Innovation e.V. vor, der über 120 Mitgliedsunternehmen aus 7 Ländern vereint, die gemeinsam an digitalen Lösungen für die Pflege arbeiten. Alexander Hubov: „Wir sind überzeugt, dass die Digitalisierung eine entscheidende Rolle spielt, um den Herausforderungen der alternden Gesellschaft zu begegnen und die Pflege zukunftsfähig zu gestalten.“
Praktische Beispiele – Innovation in der Pflege
Wie Innovationen in der Praxis wirken, zeigten:
Carolin Mühle von BionicBack. Sie stellte an dem Abend das passive Exoskelett „BionicBack“ vor, das kontinuierliche Rückenunterstützung bietet, individuell auf die (berufliche) Tätigkeit abgestimmt. Gerade in der Pflegebranche werden immer wieder die alarmierend hohen Raten von Muskel-Skelett-Erkrankungen und Lendenwirbelsäulenverletzungen thematisiert. Diese physischen Beschwerden haben nicht nur direkte Auswirkungen auf die Gesundheit der Pflegekräfte, sondern auch auf Kosten, Fachkräftemangel und letztlich auf die Qualität der Pflege. So leitet BionicBack Belastungen in den Rückenmuskeln in umliegende Strukturen ab.
Um eine digitale Helferin für ältere Menschen „Teresa.AI“ ging es im nachfolgenden Beitrag von Zerrin Börcek, Gründerin und Geschäftsführerin von Teresa AI. Hier können digital Lebenserinnerungen festgehalten werden, die mit der Unterstützung von Alltagsbegleitern aufgezeichnet werden. Eine App erfasst in Form eines Kurzprofils die persönlichen Daten der Nutzenden. Über die Funktion „Kontakte“ können sie per Video oder Audio mit ihren Lieblingsmenschen sprechen. Die „Netzwerkfunktion“ bietet Möglichkeiten, andere Teresa-Nutzende mit ähnlichen Interessen zu kontaktieren.
Die Einführung von Teresa.AI übernehmen dabei Alltagshelfende, die ältere Menschen betreuen. Nach einer digitalen Schulung machen sie die künftig Teilnehmende mit dem Tablet und der darin integrierten Teresa.AI-App vertraut.- Einen digitalen Aktivitätentisch für die Altenhilfe stellte abschießend Christoph Schneeweiß, Geschäftsführer und Gründer von „CareTable“ vor. Biografiearbeit, Bewegung, Spielespaß, Videotelefonie und vieles mehr – alles in einem Gerät. Der CareTable unterstützt Betreuungsteams in mittlerweile mehr als 700 Einrichtungen. Dank speziell für die Altenhilfe entwickelter Apps sorgt er für Abwechslung und verstetigt die Qualität im sozialen Dienst. Christoph Schneeweiß: „Die Betreuung ist eine sehr wichtige, aber auch anspruchsvolle Tätigkeit. Im Schnitt trägt eine Betreuungskraft dabei die Verantwortung für mehr als 20 Bewohnerinnen und Bewohner – alle von ihnen mit einer Geschichte, eigenem Charakter und eigenen Einschränkungen. Durch die Kombination von Technologie und Betreuung möchten wir dabei dem sozialen Dienst eine helfende Hand bieten.“
Ehrenamtsapp NYBY
„Vorbildlich“ vor Ort zeigte sich die Katholische Pflegehilfe aus Essen-Rüttenscheid, was das Thema „Ehrenamt im Pflegeheim“ betrifft. Die „Nyby“-App bringt hier Hilfesuchende und Ehrenamtliche zusammen. Die App kommt ursprünglich aus Norwegen und heißt zu Deutsch „neue Stadt“ – Senioren werden so digital mit freiwilligen Helfern zusammengebracht – egal, ob Hilfsangebot oder Gesellschaft im Alltag: Jeder, der etwas machen möchte, findet hier die passende Anfrage. Mittlerweile gibt es viele Ehrenamtliche, die hier gezielt ihre Hilfe im Pflegeheim anbieten.
Kathrin Borowczak, Einrichtungsleiterin im Seniorenzentrum St. Martin Essen: „Ehrenamt macht Spaß. Wir brauchen mehr mediale Unterstützung, damit die Möglichkeiten und Chancen mit der „Pflegeoffensive: Lust statt Frust“ Allgemeingültigkeit bekommen. Durch die APP „NYBY“ konnten zum Beispiel im Seniorenzentrum St. Martin in Essen viele Ehrenamtliche gewonnen werden.“
Sieben Fotogeschichten
Sieben bewegende Fotogeschichten aus den Pflegeberufen begleiteten die Veranstaltung: beginnend mit der Arbeit der Hebamme – endend mit den Aufnahmen in einem Hospiz.
Dörte Kröger, gelernte Krankenschwester und praktizierende Mediengestalterin will in ihren Ausstellungen die Bedeutung der Pflege- und Heilberufe in den Fotografien plastisch darstellen. „Jeder Mensch kommt mindestens ein Mal in seinem Leben in Kontakt mit einer Pflegekraft und wünscht sich die bestmögliche Behandlung“, so erläutert Dörte Kröger ihre Idee, das Thema Pflege von der Geburt bis zum Tod in den Bildern darzustellen. Kröger weiter: „Mein Fokus liegt auf den Augen der Fotografierten.“ Ergänzt wird jede der Pflegegeschichten durch ein Interview.
Achtsamkeit und soziales Miteinander
Achtsam und im wahrsten Sinne des Wortes „taktvoll“ endete auch der Herbstempfang des BKK-Landesverbandes NORDWEST, als Ralf Heinser, Ehrenamtlicher und Musiker im Pflegeheim St. Martin in Essen, mit Hannelore Grundmann, 89-jährige Bewohnerin in dem Haus sowie Einrichtungsleiterin Kathrin Borowczak mit Gitarre und Bongos die anwesenden Gäste motivierten, mitzusingen beim legendären Lied von Marlene Dietrich „Sag mir, wo die Blumen sind“!
Hier zeigte sich: Pflege ist und braucht das soziale Miteinander!