Digitalpolitik

Jeder Mensch. Und sein digitaler Zwilling!

von Stefan B. Lummer und Karsten von Düsterlho

Im Frühjahr 2021 sehen wir vor jedem Baumarkt einen Aufsteller mit einem QR-Code. Die Luca-App zum Einchecken könnte normales Einkaufen für Geimpfte und Genesene flächendeckend möglich machen. Sie kann nicht, weil Gesundheitsämter die Daten dieser App nicht nutzen. Digitale Kontaktkettennachverfolgung machen Gesundheitsämter nicht, weil sie die Software SORMAS nicht nutzen. Die Corona-Warn-App hat zwar eine Erweiterung zum Einchecken in Gastronomie und Läden, aber die kennt keiner, weil die Corona-Warn-App viel zu Wenige nutzen, weshalb sie auch nicht warnt. Deshalb bleibt eine ganze Gesellschaft in der Industrienation Deutschland auf den Inzidenzwert 100 festgenagelt. Schonungslos bringt die Pandemie die Defizite der fehlenden Digitalisierung des Gesundheitssystems zutage. Jens Spahn ist mutige Schritte gegangen, um mit dem Digitale Versorgung Gesetz eine breite Tür aufzustoßen für Versicherte und Patienten. Aber zum Ende dieser Regierung hängen dem Bundesgesundheitsminister die Faxgeräte der Gesundheitsämter wie Mühlsteine um den Hals. Gibt es eine digitale Perspektive für das deutsche Gesundheitssystem jenseits fälschungssicherer Bezugsscheine der Bundesdruckerei für FFP2-Masken? Ja, die gibt es. Selbstverständlich. Jeder Mensch wird als Datenmaschine sehr bald das Zentrum in einem künftigen europaweiten Digital Health Ökosystem sein.

Mensch mit digitalem Zwilling

Das Arbeiten im Homeoffice hat im ersten Jahr der Pandemie auch unser smartes, digitales Leben in die Fläche getragen. Vom Einkauf bei Amazon, weil der Zugang zum Einzelhandel weitgehend versperrt war, über neue Formen der bargeldlosen Bezahlung jenseits der Karte, der digitalen Kommunikation mit der Arztpraxis und der Krankenkasse, bis zur Nutzung von Sprachassistenten im Beruf und auch zuhause, um Lichtsysteme fernzusteuern oder den Heizungsregler anzusprechen. Erste Schritte ins Smart Home. 90 Prozent der Bundesbürger nutzen das Internet, fast 60 Prozent interagieren online mit ihrer Bank, so das Statistische Bundesamt. Energiekonzerne können Zählerstände digital und personalisiert erfassen. Diese Informationen können wir übersichtlich darstellen und schlau nutzen, um Energie zu sparen. Wenn wir online einkaufen, helfen uns personalisierte Vorschläge. Erledigen wir unsere Einkäufe vor Ort, können wir kontaktlos mit dem Smartphone bezahlen. Ein Segen in der Pandemie, frisches Brot einzukaufen, ohne Bargeld annehmen zu müssen, das Minuten vorher aus fremden Geldbörsen über den Tresen gereicht wurde. Wenn wir mit dem Auto fahren, lohnt es sich, einen Telematik-Tarif des Autoversicherers zu nutzen. Unser Fahrverhalten wird erfasst, der Versicherer lernt dazu und bietet dafür einen individuell kalkulierten Rabatt. Ein Dutzend Versicherer bietet solche Telematik-Tarife an. Auch die Krankenkasse bietet eine App an, um aus dokumentierten Präventionsmaßnahmen einen Bonus zu errechnen. Wir sind in unserem Alltag umgeben von digitalen Dienstleistungen, die uns unterstützen und die sich lohnen. Grundlage für diese digitalen Dienste sind unsere persönlichen Daten. Mal ehrlich: Können Sie eine Liste schreiben, welche Ihrer Daten zu welchen Zwecken verarbeitet werden? Es gibt es einen Begriff dafür: Digital Life Journey. Dabei geht es um die Datenräume, die um den Bürger herum entstehen, Räume, die in hohem Maße aus personenbezogenen Daten bestehen. Für ein Grundlagenpapier des Fraunhofer-Instituts für Software und Systemtechnik ISST haben Professor Boris Otto, der den Lehrstuhl für Industrial Information Management an der TU Dortmund, hat und Dr. Sven Meister am Lehrstuhl für Gesundheitsinformatik der Universität Witten/Herdecke die Frage gestellt: „Könnte man den einzelnen Bürger in seiner Gesamtheit beschreiben, wenn man alle seine Daten zusammenführen würde - das »Digitale Ich« sozusagen?“ Die Wirtschaft hat Lösungen geschaffen, um Teilfragen zur Sicherstellung des Umgangs mit personenbezogenen Daten beantworten zu können. Aber die Autoren des Fraunhofer-Papiers wollen zu einer multiperspektivischen Auseinandersetzung zum Digitalen Ich und seiner Digital Life Journey kommen. „Die Betrachtung des Digitalen Ichs erfasst derzeit keine gesellschaftlichen, ethischen, betriebswirtschaftlichen oder auch ökonomischen Dimensionen. Fragestellungen der Data Ethics oder auch der Corporate Social Responsibility sind somit nicht berücksichtigt“, schreiben Boris Otto und Sven Meister im Grundlagenpapier: „Digital Life Journey-Framework für ein selbstbestimmtes Leben eines Bürgers in einer sich digitalisierenden Welt“. Aus Sicht des Fraunhofer ISST fehlt bisher eine ganzheitliche Herangehensweise zur Schaffung einer Umgebung, um das Digitale Ich souverän in einem zukünftigen Daten-Ökosystem bewegen zu können. Der Bericht will nichts weniger, als eine Auseinandersetzung mit den Grundlagen für ein selbstbestimmtes Leben eines jeden Bürgers: „Die Digital Life Journey zeigt auf, wie der Einzelne wieder zum Souverän seiner Daten wird und auf welcher Art und Weise Gesellschaft, Technologie, Ethik, Recht und Ökonomie zusammenspielen müssen“, schreiben die Autoren. Und wer wollte nicht Souverän seiner Daten sein?

Digitale Souveränität will konkret die Handlungsfähigkeit sowie die Entscheidungsfreiheit des Bürgers in einer digitalen Welt sicherstellen. Es geht um Datensouveränität des einzelnen Bürgers. Die Evolution des Digitalen Schattens hin zum Digitalen Ich. Das erfordert eine Sicht, die über rein technologische Lösungsvarianten weit hinausgeht und nicht eine Datenschutzdebatte, die Profiteure wie einen Schutzschild vor sich hertragen.

Sollten Grundrechte Instrumente der Politik sein?

Joanna Meyer ist Business Ethics & Compliance Advisor in Trier

jm-advisory.com

Jeder Mensch hat das Recht auf digitale Selbstbestimmung. Die Ausforschung oder Manipulation von Menschen ist verboten. Zwei Sätze im zweiten Artikel von insgesamt sechs neuen Grundrechten. Einfach. Naiv. Utopisch. Ferdinand von Schirach hat in diesem Frühling ein kleines Buch vorgelegt, so groß wie ein Reisepass, kaum dicker. Aber womöglich ein mächtiges Instrument, eine echte Herausforderung für Big-Tech-Konzerne und bräsige Bürokraten in den Ministerien. Ferdinand von Schirach will nicht abwarten, bis Amtsträger sich bequemen, den Schutz der Rechte der Menschen den heutigen Herausforderungen anzupassen. Das kleine Buch knüpft an die Tradition der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 an. Der gedruckte Text war nur eine Seite lang. Die unveräußerlichen Rechte aller Menschen, zu denen Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören, sind demnach nicht „heilig und unbestreitbar“, wie der Hauptverfasser Thomas Jefferson geschrieben hatte. Ferdinand von Schirach erzählt uns: „Benjamin Franklin strich die Worte mit schwarzer Tinte durch und schrieb darüber, sie seien »selbstverständlich«.“

Ein Donnerhall in der aktuell sehr aufgebrachten Debatte um unser Grundgesetz ist dieser Appell für neue Grundrechte in Europa allemal. Das bürgerliche Leitmedium FAZ stellt mit Schirachs Buch auf demTisch die Frage: „Sollten Grundrechte Instrumente der Politik sein?“ JEDER MENSCH stellt die Frage ebenso grundsätzlich wie das Fraunhofer-Institut: Digital Leadership braucht Datensouveränität des einzelnen Bürgers. Das digitale Ich. Nicht nur den digitalen Schatten oder einen digitalen Zwilling. So wie ein schöner Steinpilz im Wald nur der sichtbare Teil eines kilometerweiten Netzwerks im Boden ist, der Mykorrhiza, des Pilzgeflechts, das sich mit den Feinwurzeln der Bäume verbindet, um Wasser, Nährstoffe und Informationen auszutauschen, ist auch der schmale blaue Band JEDER MENSCH der sichtbare Teil eines europäischen Bürgernetzwerkes: Mit einem Smartphone-Klick kann man von Schirachs Appell „Für neue Grundrechte in Europa“ digital unterzeichnen.

In der Pandemie hat sich das deutsche Gesundheitssystem stabil gezeigt. Auf den ersten Blick. Tatsächlich wurden gleich mit zwei Krankenhausgesetzen Unsummen in die deutschen Krankenhäuser überwiesen, um eine vermeintlich drohende Überlastung abzuwenden. Die Triage in Intensivstationen im italienischen Bergamo zu Beginn der Pandemie führte noch 2020 zur Finanzierung zigtausender Intensiv-Geisterbetten, für deren Betrieb gar kein medizinisches Personal da war. Ärztinnen, Ärzte und die Pflegefachkräfte an der Front der Covid-Einheiten und Intensivstationen wurden von den Krankenhausmanagern mit dem Human Ressource Instrumentenkasten von 1970 maltraitiert. Jedes Industrieunternehmen im globalen Wettbewerb um die wertvolle Ressource Wissen und Expertise hätte sein Personal optimal geschützt und sofort besser bezahlt. Nicht die Krankenhäuser in Deutschland. Die gerade erst eingeführten Personaluntergrenzen für die Pflege wurden zuerst geschleift. Es gab Applaus, Lavendel und Christstollen für die Pflege, aber kein modernes Personalmanagement und Knausern beim symbolischen Bonus. Fraglich, ob es noch ein Pflegegesetz gibt in dieser Legislaturperiode. „Die Arbeitsbedingungen sind oft eine Zumutung“, sagt die grüne Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock am 30. April in einem Interview mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Ein wichtiger Impuls aus der Opposition für höhere Löhne, mehr Schutz für Pflegefachkräfte – und sinnvolle Roboter-Lösungen: „Wo immer möglich, müssen Menschen bei körperlichen Anstrengungen durch technische Hilfsmittel entlastet werden. Es ist doch nicht nötig, dass eine 55-Jährige einen 90-Kilo-schweren Patienten ins Bett hebt, dazu gibt es Geräte.“ Wir haben in diesem Magazin schon auf Lösungen aus der Autoindustrie hingewiesen, die das Gesundheitssystem nicht erreichen, solange sich Arbeitgeber in der Pflege von modernem Personalmanagement fernhalten. Die Krankenhauslobby rechnet in ihrem Papier „Lehren aus der Pandemie“ die Personaluntergrenzen zu den Überregulierungen, deren es im Normalbetrieb nicht bedarf. Ebenso wie eilig außer Kraft gesetzte Instrumente der Qualitäts- und Kostensteuerung. Viel Geld für Krankenhäuser aus dem Krankenhausentlastungsgesetz wurde im ersten Pandemiejahr in einer tragischen Fehlsteuerung verschwendet: Was die Bundesregierung „zum Ausgleich Covid-19 bedingter finanzieller Belastungen der Krankenhäuser“ vorgesehen hatte, ist vielfach gerade nicht in Kliniken angekommen, die Hotspots des Kampfes um das Überleben der Covid-Infizierten waren. „Das Grundgerüst des ganzen Gesundheitssystems besteht aus unsichtbaren Elementen, die dazu verleiten könnten, diese gänzlich zu übersehen oder als selbstverständlich vorauszusetzen.“ Joanna Meyer, Unternehmensberaterin für Business Ethics und Compliance, schreibt dies in einer bemerkenswerten Keynote in diesem Heft (Seite 26). Es geht um die toxische Ignoranz, die das deutsche Gesundheitssystem den eigentlich als systemrelevant erkannten Pflegefachkräften entgegenbringt. „Das deutsche Gesundheitssystem verliert Pflegekräfte, weil in das Wertesystem nur die Seite der Pflegekräfte voll einzahlt.“ Joanna Meyer schreibt nicht über share holder value, sondern womöglich über das das wirklich knappe Gut am Ende dieser Pandemie: Corporate Social Responsibility. Verantwortung. Werte, Sinn und Vertrauen. Dazu müssen wir womöglich mit Ferdinand von Schirach das erbittert umkämpfte nationale Wartezimmer des deutschen Gesundheitssystems verlassen und endlich damit anfangen, europäisch zu denken. Und digital. Mit einem Blick, der selbstverständlich über rein technische Lösungen hinausgeht. Es geht um eine Haltung, die einer besseren Gesundheit von Mitarbeitern und Bürgern verpflichtet ist, um die in Europa knappe Ressource Bildung und Wissen optimal zu schützen. So wie Alfred Krupp das wertvolle Wissen seiner Arbeiter um die Produktion nahtlos geschmiedeter, bruchsicherer Eisenbahnräder mittels dem Sicherungsversprechen einer Betriebskrankenkasse in der Firma gehalten hat. Der Pflegenotstand ist kein Zufall oder eine unvorhersehbare Krise. Joanna Meyer schreibt in ihrer Keynote: „Kein System bleibt bestehen, wenn seine Mechanismen grundsätzlich verkannt oder langfristig und konsequent abgelehnt werden. Jede Pflegekraft, die ihren Dienst antritt und bereit ist, körperlich und seelisch Belastendes auf sich zu nehmen, setzt ein grundlegendes Abkommen mit den Entscheidungsträgern über die gemeinsamen Werte voraus.“

Im zweiten Pandemiejahr sehen wir Corona – entkoppelt von der Behandlung der Infizierten – als Kostendämpfer, weil Patienten von sich aus weniger Leistungen im Krankenhaus in Anspruch nehmen und die Krankenhäuser zudem planbare Operationen verschieben, um Intensivbetten freizuhalten. Was jahrelang ebenso behutsam wie folgenlos als „gewisse Anfälligkeit für angebotsinduzierte Nachfrage“ beschrieben wurde, zeigte sich 2020 an einer steilen Abbruchkante bei Operationen für Kniegelenkersatz. Zu viel Bürokratie statt Digitalisierung. Über Masken nach Marktlage, Maskengutscheine von der Bundesdruckerei, einen komplizierten, vom Gesetzgeber gewollten bürokratischen Weg für Anschreiben der Krankenkassen an Bezugsberechtigte und dann auch noch Apotheker, die ihrer Heimatzeitung erzählen, sie hätten sich dumm und dämlich verdient an FFP2-Masken, werden wir uns noch jahrelang schämen. Obwohl durch die Pandemie ein gewaltiger Schub für digitale Medizin logisch erscheint, wird aus der ePA-Einführung zum 1. Juli 2021 eine Bruchlandung mit Ansage. Nur die Hälfte der Arzt- und Zahnarztpraxen fühlt sich vorbereitet, nur jede fünfte Praxis hat ein Update des Praxisverwaltungssystems, ein weiteres Drittel hat dies immerhin beantragt, so Zahlen von Anfang April. Ein Aprilscherz? Der TRANSFORMATION LEADER nennt in seiner ersten Ausgabe des Jahres 2021 als Bremser für die Digitalisierung im deutschen Gesundheitswesen auch Ärzte: mangelnde Digitalkompetenz der Ärzte ist laut Bitcom Research mit 43 % nicht der größte hemmende Faktor für Digitalisierung. Davor kommt mit 54 % noch die mangelnde Abrechenbarkeit digitaler Leistungen. Und das in einer Zeit, in der Universitätskliniken längst Künstliche Intelligenz  in medizinischen Bildern nach Tumoren, beschädigtem Hirngewebe oder Knochenbrüchen suchen lassen. Gute Radiologen haben ein ausgeprägtes räumliches Vorstellungsvermö- gen und ein enormes medizinisches Wissen über Disziplinen hinweg. Übersehen sie auf einem Röntgenbild einen Tumor, geht es um Leben und Tod. Sehr gute Radiologen arbeiten mit KI, die routinemäßig Auffälligkeiten in Bildern entdeckt und sie für die Ärzte markiert. Neuronale Netze erkennen kleinste Tumore in der Lunge schon besser als ein Radiologe. Künstliche Intelligenz, die neuronale Netze nachahmt, nutzt viele Schichten mit Tausenden Knotenpunkten und Verbindungen, über die Informationen weitergereicht werden. Schnell wird deutlich: Werden die Netze mit Millionen Bildern von Lungentumoren trainiert, dann verändern die Bildinformationen die Gewichtungen innerhalb des Netzes. Die Software lernt zu erkennen, welche Bildpixel für gesundes Gewebe stehen und welche für krankes. Ajay Agrawal, KI-Experte aus Kanada und Autor des Buches „Prediction Machines“ schreibt, dass manche Radiologen natürlich Angst davor haben, dass Künstliche Intelligenz sie ersetzen könne. Doch zuerst müssten jene Radiologen um ihren Job fürchten, die sich weigern, mit Künstlicher Intelligenz zusammenzuarbeiten.

Juristen befassen sich bereits mit Anpassungen unseres Rechtsrahmens im Hinblick auf fortschreitende Autonomie von KI- und Roboter-Systemen. So hat eine der führenden und weltweit tätigen Wirtschaftskanzleien Deutschlands, das Team von Beiten Burkhardt, im Januar 2021 eine Abhandlung dazu vorgelegt: Recht der Künstlichen Intelligenz und in- telligenten Robotik. Ein Whitepaper der EU Kommission zur KI mit einem Bericht zu Aus- wirkungen auf die Produkthaftung liegen schon vor, ebenso Überlegungen zu ethischen Grundsätzen: Einem Menschen soll stets eindeutig bewusst gemacht werden, wenn er es mit einem KI-System zu tun hat.

Ferdinand von Schirach greift diesen Gedanken in JEDER MENSCH auf. Bereits Artikel 3 seiner neuen Grundrechte für Europa widmet sich nach Artikel 1 Umwelt und Artikel 2 Digitale Selbstbestimmung der Künstlichen Intelligenz: „Jeder Mensch hat das Recht, dass ihn belastende Algorithmen transparent, überprüfbar und fair sind. Wesentliche Entscheidungen muss ein Mensch treffen.“

Digital Leadership braucht Datensouveränität jedes einzelnen Bürgers.

Unternehmen verwenden zunehmend Algorithmen, um ihre Mitarbeiter zu verwalten. Besonders in Gig-Economy-Unternehmen ist dieser als „algorithmic management” bezeichnete Ansatz weit verbreitet. Der Fahrdienstleister Uber verwendet das, um die Abstimmung von Angebot und Nachfrage zu optimieren. Uber steigert seine Effizienz erheblich, indem es rund drei Millionen Mitarbeiter mit einer App verwaltet, die Fahrer anweist, welche Passagiere sie abholen und welche Route sie nehmen sollen. Selbständige Fahrer sehen einerseits große Vorteile, von der Chauffeur-App verwaltet zu werden. Uber-Fahrer können frei entscheiden, wann und wie lange sie arbeiten möchten und in welchen Bereich sie fahren möchten. Aber die Forschung weist darauf hin, dass algorithmisches Management für Arbeitnehmer auch sehr frustrierend sein kann. Mareike Möhlmann und Ola Henfridsson haben im Harvard Business Review eine Studie über Uber-Fahrer veröffentlicht, die zeigt: „What People Hate About Being Managed by Algorithms“. Drei Bereiche führen zu den meisten Beschwerden: Ständige Überwachung, wenig Transparenz, fehlender menschlicher Kontakt mit Kollegen. Sobald sie sich bei der Uber-App anmelden, werden Fahrer und Fahrerinnen von den Algorithmen der Plattform überwacht und überprüft. Die App verfolgt den GPS-Standort, die Geschwindigkeit und die Akzeptanzrate von Kundenanfragen. Wer von Anweisungen der App abweicht, kann von der Plattform verbannt werden. Die Überprüfung der Arbeit durch eine App kann die Produktivität verringern. Ebenso geringe Transparenz. Während die App viel über sie lernt, finden es Uber-Fahrer frustrierend, wie wenig sie über die App wissen. Mangelnde Transparenz der zugrundeliegenden Logik der Algorithmen führt zu der Überzeugung der Fahrer, sie würden von einem unfairen System ohne ihr Wissen oder ihre Zustimmung subtil manipuliert. Aus der Luft gegriffen ist das nicht. Die beiden Forscherinnen erwähnen in ihrem Artikel, dass Uber tatsächlich zugeben musste, auf Erkenntnisse aus der Verhaltenswissenschaft zurückgegriffen zu haben, um die Fahrer dazu zu bewegen, länger zu arbeiten. Dritter Punkt Isolation: Die Fahrer von Uber berichten, dass sie sich gleichermaßen einsam, isoliert und entmenschlicht fühlen. Sie haben keine Kollegen, mit denen sie Kontakte knüpfen können, kein Team, zu dem sie gehören. Ihnen fehlt die Möglichkeit, eine persönliche Beziehung zu einem Vorgesetzten aufzubauen. Oder kürzer: Menschen brauchen Menschen.

Aber solche Erkenntnisse über eine Vermittlungsplattform für Mobilität haben wenig mit deutscher Gesundheitspolitik oder gar mit Learning from Corona zu tun – oder? Nun: In den USA sind seit Ende April Impftermine über die Uber-App buchbar Eine Uber Partnerschaft mit der US-Drogeriekette Walgreens macht diesen Impfservice möglich. Über eine neue Schaltfläche der App können Kunden den Impfstoff und einen Impftermin reservieren – die Hin- und Rückfahrt mit einem Uber-Auto wird ebenfalls geplant.

Die Hightech-Strategie 2025 der Bundesregierung will Deutschland als einen führenden Anbieter von Wissenschaft und Technologie in den Bereichen Klima, Energie, Gesundheit, Mobilität, Sicherheit und Kommunikation aufstellen. Die Bundesregierung bündelt unter dem Dach der Hightech-Strategie 2025 ressortübergreifend die Förderung von Forschung und Innovation aus insgesamt zwölf „Missionen“ – so nennt man die Themenfelder – die Künstliche Intelligenz zur Anwendung führen sollen. Gefördert wird zwar auch der Aufbau von Kompetenzzentren für interaktive robotische Assistenzsysteme in der medizinischen Diagnostik und Pflege. Aber während auf gesundpolitischen Treffen vor der Pandemie noch immer der niedliche Roboter Pepper herumgezeigt wurde, ein Pausenkasper, der angeblich Pflegekräfte in der Seniorenbetreuung entlasten sollte, fließen 26 Mio. Euro in die Entwicklung vollständig fahrerloser elektrischer Fahrzeuge und fast 18 Mio. € in IMAGinE – ein Assistenzsystem für den automatischen Informationsaustausch zwischen Fahrzeugen und Infrastruktur. Mobilität ist digital. Elon Musk hat das verstanden: Es geht nicht um Verbrennungsmotor oder e-Automobil, sondern um Daten und das Programmieren neuer Möglichkeiten für Mobilität.

Wann versteht das deutsche Gesundheitssystem, dass das intuitive iPhone von Apple als Pionier eine Tür aufgestoßen hat zu einem dramatischen Paradigmenwechsel in der Medizin, der Patientinnen und Patienten und die Daten, die sie erzeugen, in den Mittelpunkt rückt? Jedes Smartphone ist inzwischen die technische Grundlage für eine mobile, demokratische Medizin. Das Ende der abgeschotteten Versorgungssilos. Wie schnell wirkt ein ubiquitärer Daten-Zugang für Patienten und Forschung disruptiv auf scheinbar sichere Markteintrittshürden, Sektoren und analoge Wertschöpfungsketten? Digitale Wertschöpfungs-Netzwerke sind selbstverständlich in der Industrie. „Kein System bleibt bestehen, wenn seine Mechanismen grundsätzlich verkannt oder langfristig und konsequent abge- lehnt werden“, lesen wir in der Keynote. Welchen Preis werden wir zahlen, wenn wir unser Gesundheitssystem weiterhin digital entkoppeln? In der Pandemie sehen wir es. Der Holzhammer Ausgangssperre saust auf die Grundrechte nieder, weil die Regierung keine guten digitalen Instrumente im Werkzeugkasten hat. Es gibt keine ernstzunehmende Corona-Warn-App, die genau deshalb von den Deutschen nicht flächendeckend genutzt wird. Die digitale Nachverfolgung der Infektionsketten bleibt in den Gesundheitsämtern auf der Strecke. Surveillance Outbreak Response Management and Analysis System – klingt fortschrittlich. Warum waren Anfang März nur zwei Drittel aller Gesundheitsämter in Deutschland an die Software Sormas angeschlossen? Wenn in Berlin im März 2021 Sormas zwar allen Gesundheitsämtern zur Verfügung steht, aber nur acht die Software produktiv nutzen, ahnt man Böses zur gefährlich ignoranten Verwaltung einer Pandemie. Auch an die viel bejubelte Luca-App waren noch Ende April nur etwa 270 der rund 400 Gesundheitsäm-ter angebunden. Wir sehen in Deutschland erste digitale Gehversuche, während sich um uns herum die Möglichkeiten mit der Geschwindigkeit einer Explosion ausweiten. Schnell wie noch nie zuvor wurde in der Pandemie ein Impfstoff entwickelt und produziert, der Immunität gegen ein Virus über Messenger-RNA herstellt. Ein Quantensprung in der Digitaltechnologie macht diesen Riesenschritt erst möglich. Mehr Rechenleistung öffnet Biologen und Medizinern die Tür,  die biologischen Grundlagen des Lebens im Eiltempo   zu entschlüsseln. Diagnostik und Therapie werden individuell auf den genetischen Bauplan und den Lebensstil jedes einzelnen Menschen angepasst. Verstehen die Entscheider im deutschen Gesundheitssystem, dass wir gerade nichts weniger als die Transformation der Medizin erleben? Der Patient ist als Datenmaschine sehr bald das Zentrum in einem künftigen europaweiten Digital Health Ökosystem. Alle Überlegungen in diesem Artikel laufen auf diesen Punkt zu. In der Ausgabe 1 I 2021 dieses Magazins haben wir skizziert, wie neue technische Lösungen eine neue Welt der Gesundheitsversorgung erschaffen: „Cloud-Computing schafft eine neue Grundlage für die Nutzung digitaler Technologien und Verarbeitung riesiger Datenmengen. Weltweit werden Rechenleistung und Speicherkapazität erschlossen. Für Patienten, Ärzte und Forscher sind Daten auf der ganzen Welt, an jedem Ort, in jeder Zeitzone verfügbar. Die Cloud sichert den ubiquitären Daten-Zugang über die flächendeckende Verbreitung mobiler Endgeräte. Jedes Smartphone öffnet diese Tür. Medizinische Daten werden nicht mehr an ihrem Entstehungsort aufbewahrt. Sie können nun völlig unabhängig vom Ort ihrer Entstehung – sei es die Arztpraxis, das Krankenhaus, ein Universitätslabor oder eine Krankenkasse – gespeichert und verarbeitet werden. In dieser Entwicklungsphase der Medizin ist nicht mehr der Ort der Datenerhebung entscheidend, sondern der einzelne Mensch, von dem diese Daten stammen. Das verändert alles.

Graphik: Hand hält Speicherkarte

Medizin wird besser. Diagnostik präziser. Digitale Unterstützung macht die Überwachung und Steuerung des Therapieerfolgs in Echtzeit möglich, präzise Interventionen, die den individuellen Patienten erreichen, egal, wo er sich gerade aufhält.“ Universitätskliniken und Betriebskrankenkassen wollen jetzt Digitalisierung gemeinsam voranbringen. In einem ersten Projekt mit strukturiertem Datenaustausch die Übergabe von Patientinnen und Patienten aus der stationären Behandlung an nachgelagerte Pflege- oder Rehaeinrichtungen verbessern. Aber die zentrale Frage der Digitalpolitik bleibt die Datensouveränität jedes einzelnen Patienten. Der Schutz der Patientendaten vor unerlaubter Weitergabe zur Sekundärnutzung ist ebenso wie die Möglichkeit einer solidarischen Datenspende oder sogar eines individuellen Handels mit Daten für schnelleren Zugang zu Innovation dem vordigita- len SGB V und einer europäischen Datenschutzverordnung anvertraut. Das SGB V verharrt in der gelebten Praxis der Bevormundung. Das SGB V entkoppelt uns systematisch von unserem selbstverständlichen digitalen Alltag abseits des Gesundheitssystems. Das SGB V ist dement in Bezug auf globale Erkenntnis: Das World Economic Forum hat bereits 2011 den Gedanken formuliert, dass personenbezogene Daten eine post-industrielle Chance einer neuen Wirtschaft sind. Nicht zuletzt versteht das SGB V nicht auch nur im Ansatz auch nur im Ansatz eine Digital Life Journey oder das eigenverantwortliche Handeln eines souveränen digitalen Ichs.

Alles um uns herum ist ein Sensor und erfasst Daten, die uns beschreiben. Smartphones und Wearables sind Teil eines Wandels von analogen Daten in ihre digitale Repräsentationsform. Daten werden in Anbieter-spezifischen Datensilos gespeichert, der Dienstleister entscheidet, ob und wie wir Zugriff auf unsere Daten erhalten. „Die Daten eines Anbieters sind somit ein Teil eines Schattens unserer selbst, welcher nur unter den Bedingungen  des jeweiligen Anbieters sichtbar wird“, schreiben die Autoren des Fraunhofer Grundlagenpapiers. Ein Digitales Ich erzeugt erstmals ein ganzheitliches Abbild über alle zur Verfügung stehenden Daten eines Bürgers. Das gelingt allerdings nur in einem über Dienstleister- grenzen hinausgehenden digitalen Ökosystem.

Graphik: aufgehaltene Hand

Bleib’ nicht stehen! Digital Leadership wird in Unternehmen eine neue Definition von Führung hervorbringen. New Work, Agilität, Scrum und Kanban gehören zu unserer digitalen Arbeit. All das wird wichtig für alle Unternehmen. Neue Führungskultur braucht für die Aufgabe, Teams virtuell orts- und zeitunabhängig zu leiten, einen klaren Fokus auf Exzellenz und Werte. Und natürlich weiterhin die klassischen Vier: Vorbild, Verantwortung, Verpflichtung, Vertrauen. Rasante Innovationsgeschwindigkeit beschert der Ambidextrie eine Renaissance: der Fähigkeit zu beidhändiger Führung, die bestehende Modelle stabilisiert und gleichzeitig Neues entdeckt. Auch Wolf Lotter plädiert dafür, eine bewährte Organisation nicht zu zerschlagen für den Zwang zur Innovation. In seiner Streitschrift INNOVATION argumentiert er bodenständig: „Man muss ein Sowohl als auch denken, einen Fuß im Alten stehen haben, einen im Neuen. An diesem Widerspruch kommt man nicht vorbei, man kann ihn nur ignorieren.“ Wer bleibt zurück? Unbewegliche Hierarchien, Silo-Denken, ausgeprägtes Kontrollbewusstsein. Learning from Corona heißt in der neuen Arbeitswelt: Egal, wo das Know-how im Unternehmen sitzt, es sollte gesucht, genutzt und frei zugänglich gemacht werden. So lernt die gesamte Organisation voneinander und kommt voran. Die Trennlinie zu den Talenten verläuft nicht zwischen Alt und Jung sondern wird vielmehr durch Neugier, Kenntnis und Lust am Ausprobieren, kurz: Mindset, bestimmt. Vielleicht sollte ohnehin gelten: Verzichten wir lieber auf Buzzwording und Whataboutism.

Graphik: Corona-Warnapp

Eine alternde Gesellschaft wird sowieso aus der Corona-Pandemie lernen, aus dem Nebeneinander der Generationen ein Miteinander zu machen. So wie digitale Prozesse alle Kommunikations- und Arbeitswelten durchdringen, so werden sie auch helfen, Alt und Jung im 21. Jahrhundert neu zu vernetzen. Age-Tech-Angebote gehen längst über den Notfallknopf am Handgelenk hinaus: Cherry Home ist eine auf KI beruhende Technologie für Seniorinnen und Senioren zu Hause oder im Altenheim. Kameras überwachen die Wohnung, das smarte System erkennt und merkt sich wiederkehrende Bewegungsmuster, es registriert Abweichungen in Gang, Haltung, Routinen. Diese Technologie ist in der Lage, ein Verhalten, das auf ein gesundheitliches Problem hinweist, zu erkennen. Ein Angehöriger kann über das Smartphone live zugeschaltet werden. Das seit Jahrtausenden uneinholbare Vorrecht unseres Denkens, unserer Intelligenz und Intuition wird auch hier nicht von Maschinen bedroht. Wesentliche Entscheidungen muss ein Mensch treffen.

Was passiert, wenn ein Schriftsteller gemeinsam mit einer künstlichen Intelligenz schreibt? Auf dieses Experiment hat sich Daniel Kehlmann eingelassen. Mitte Februar 2020 reiste der Autor des Romans „Die Vermessung der Welt“ nach Palo Alto ins Silicon Valley, mit der Absicht, CTRL kennenzulernen, eine künstliche Intelligenz. „Kann ein Algorithmus Geschichten erfinden? Kann man ihn als Werkzeug für die literarische Arbeit einsetzen, kann dabei etwas herauskommen, das man publizieren könnte – nicht als Kuriosität, sondern als echte Literatur?“ Die Frage hat Daniel Kehlmann ein Jahr später im Februar 2021 in seiner Stuttgarter Zukunftsrede beantwortet. Man kann das nachlesen in einem schmalen Band, der jetzt druckfrisch vorliegt: Mein Algorithmus und ich. Spoiler: Die Maschine kann nicht, was Kehlmann kann. Im Tal der „silikonbasierten Intelligenzen“ werfen seine Gesprächs- partner zunächst unsere vom Kino geprägte Vorstellung über den Haufen, KI sei etwas wie der Androide C3PO oder der narzistische Supercomputer HAL – ein menschliches Wesen in metallischer Umkleidung. „Ich hatte mir das Ganze immer noch wie die künstliche Frau in Fritz Langs METROPOLIS ausgemalt. Ein Schalter wird umgelegt, Strom fließt, Licht pulst, plötzlich öffnet sie die Augen und ist ab diesem Moment mehr der weniger Eine von uns.“

Kann ein Algorithmus Geschichten erfinden? Daniel Kehlmann berichtet über ein Experiment zwischen menschlichem Bewusstsein und Wahrscheinlichkeitsrechnung. CTRL ist „Wesen ohne Innenleben“. Der Algorithmus generiert Sprache aufgrund von Wahrscheinlichkeiten. Der Algorithmus nutzt einen unfassbar großen Speicher, gefüttert mit Abermilliarden an Texten. Nur durch Wahrscheinlichkeitsrechnungen entstehen Dialoge zwischen Kehlmann und dem Algorithmus. Und dennoch ist dem Schriftsteller aus Fleisch und Blut mancher Dialog unheimlich. Kehlmann beginnt einen Dialog: „It was a beautiful day in summer.“ Und die künstliche Intelligenz schreibt weiter: „The sun shone brightly on the green grass and flowers of the garden, but there were no birds to sing or insects to hum.“ Am 14. Februar 2020 flog ich von New York nach San Fransisco, nichts ahnend dass das eine gefährliche Unternehmung war. Mit diesem Satz beginnt das Buch. Am Ende steht  ein bemerkenswertes Fazit: „Ich habe mitangesehen, wie  nichtmenschliche Intelligenz aus der dunklen Tiefe ihrer statistischen Abschätzung, in der vielleicht fernen Tages auch einmal Bewusstsein glimmen wird, tatsächlich konsistente Sätze entstehen.“

Die Kräfte der Beharrung, die den Status quo erhalten wollen, sind mächtig. Und die Pfadabhängigkeit allzu verlockend. Unternehmenskultur ist Erfolgsfaktor, nicht Sitzsäcke oder das krawattenlose Büro. In DIGITAL OFFROAD gibt Stefan Hentschel, Industry Leader bei Google Deutschland, Managern den Rat: „Mainstream ist der Tummelplatz der Durchschnittlichkeit.“ Die Verwaltung der Pandemie hat schmerzhaft gezeigt: Bürokratische Kapriolen mit Bezugsscheinen für Masken von der Bundesdruckerei und bräsige Behäbigkeit in Amtsstuben mit Faxgeräten verstellen uns den Blick auf die, die in und mit dem bestehenden Gesundheitssystem sehr gut verdienen. Sektorengrenzen des deutschen Gesundheitssystems, die eigentlich Finanz-Silos sind, mächtige Anreize zur Entschleunigung, Entkoppelung und toxische Bevormundung von Patienten, gehören schon sehr lange und ganz selbstverständlich zu unserem Gesundheitssystem. Doch eine Krise wie die Corona-Pandemie lenkt unseren Blick auch konsequent auf die überwiegende Mehrzahl der gut ausgebildeten, kompetenten, engagierten und vor allem am Wohl und Nutzen ihrer Patienten orientierten Mediziner und Pflegefachkräfte, die ein Funktionieren des Systems garantieren – auch dann noch, wenn Politik, die stur bürokratische Prozesse bedient, meilenweit hinter der Dynamik der Krise hinterherhinkt und Gesundheitsämtern gestattet, die flächendeckende digitale Nachverfolgung der Infektionsketten monatelang zu verzögern.

„Viel zu lange schon kennen Verantwortliche die Schwächen des aktuellen Systems. Viel zu lange geben wir uns mit zu kleinen Teillösungen und mit immer neuen Gesetzen mit Teilaspekten zufrieden.“ Dies schreiben zwei langjährige Mitspieler im Gesundheitssystem in einem Buch über die Corona-Pandemie als Chance für die Neuausrichtung unseres Gesundheitssystems. Professor Edmund Neugebauer, Präsident der Medizinischen Hochschule Brandenburg und Dr. Klaus Piwernetz, Gründer der Firma Q4 Qualitätsmanagement im Ge- sundheitswesen und geschäftsführender Hauptgesellschafter der Münchner medimaxx health management, fordern in ihrem im Dezember 2020 bei De Gruyter erschienenen Band: Strategiewechsel Jetzt! „Nur beherztes Handeln bringt uns angesichts bestehender Herausforderungen in Gesundheitsversorgung und digitaler Transformation weiter. Neben einem wissenschaftlich fundierten und strukturierten Vorgehen brauchen wir dazu vor allem drei Dinge: Mut, Entschlossenheit und Energie.“

Allein die Umstellung analoger Prozesse im Rahmen der Digitalisierung löst einen gewaltigen Paradigmenwechsel im Gesundheitssystem aus – und das nicht nur in den nationalen Grenzen. Die globale Gesundheitswelt wird zum digital vernetzten Dorf: patientenzentriert, interprofessionell und weiblicher in Führungspositionen.

Patienten und Versicherte der gesetzlichen Krankenkassen rücken ins Zentrum von Gesundheitsnetzwerken. Betriebskrankenkassen treiben in ihrer Qualitätsinitiative einen Wettbewerb an, in dem nicht mehr der Zusatzbeitrag im Mittelpunkt stehen soll, sondern die Zufriedenheit der Versicherten. Wir haben in der ersten Ausgabe dieses Jahres in diesem Magazin darüber berichtet. „Entscheidend für die Beurteilung der Qualität einer Krankenkasse ist deren Wahrnehmung durch die Versicherten“, schreibt Dr. Gertrud Demmler, Vorständin der SBK, in ihrem Artikel.

Ein globales Digital Health Ökosystem ist patientenzentriert. Patienten und ihre Daten sind in dieser Welt nicht länger Mittel einer Erlösmaximierung, die von der Qualität der Versor-gung entkoppelt ist. Sie sollen gleichberechtigt in Versorgungsentscheidungen einbezogen werden. Das fordert die Regierung unmissverständlich in einem Manifest aus dem Jahr 2010. Allerdings nicht die deutsche Bundesregierung. „Equitiy and Excellence. Liberating the NHS“, so der Titel des Manifests, das einen Anspruch erhebt, den jeder sofort ver- steht: No decisions about me without me. Lauren Wilcox, Professorin und Forscherin für Mensch-Computer-Interaktion und Gesundheitsinformatik am Georgia Institute of Technology hat diesen Anspruch von erwachsenen Patienten auf ihre Daten und deren Nutzung formuliert. Ende der Debatte mit Ärztefunktionären, die eine elektronische Patientenakte als digitale Alditüte verhöhnen. Blättern wir im britischen Manifest „Equity and Excellence“: „Das Ziel der Regierung ist es, Gesundheitsergebnisse zu erzielen, die zu den bes- ten der Welt gehören. Dies kann nur erreicht werden, wenn die Patienten vollständig in die eigene Versorgung einbezogen werden.“

Wir sehen ein Gesundheitsbiotop, das ganz selbstverständlich damit aufgehört hat, Patienten auszublenden: „Patient data and the future of research“. Vor der Drug Information Association (DIA) hat Melisa Fassbender auf der Jahrestagung 2019 über die Partnerschaft zwischen Forschern und Patienten berichtet. Das diesjährige DIA Jahrestreffen hat Ende Juni unter dem Eindruck der globalen Pandemie einen klaren Anspruch: „The DIA 2021 Glo- bal Annual Meeting pushes beyond walls and borders.“ Wer möchte in Deutschland noch darauf wetten, dass digitale Patientendaten noch lange in der Obhut von Ärzten bleiben? „Patients are our story, we seek to understand, collaboration is the skill we hone – and this collaboration must cross organizations, decades, languages, and boundaries to have true global impact.“

Wie gründlich wird das Teilen von Daten durch den souveränen Bürger die Kräfte der Beharrung über den Haufen werfen, sobald das Digitale Ich fester Bestandteil von CSR in Unternehmen und der demokratischen Gesellschaft wird? Werden künftig nur Unternehmen mit Daten belohnt, die eine klare Haltung, individuelle, regionale wie globale Verantwortung als ihr Werte-Rückgrat verankern? Was wäre, wenn selbst die Big Five einen Gesetzgeber antreiben, ihn nicht aushebeln wollen? Wir werden ein neues Verständnis von Daten und Datenerzeugern als die eigentlichen Machtmaschinen sehen. Europäische Grundrechte und bürgerliche Emanzipation in der Cloud statt der chinesischen social credit Dampfwalze auf der Neuen Seidenstraße. Wir erkennen den unwiderstehlichen Charme der Freiheit. Digitalpolitik eben!

Sterile Werteignoranz: Pflegenotstand ist kein Zufall

Wieviel sollte es die politischen Entscheidungsträger kümmern, wenn das Kind einer schlecht bezahlten Krankenschwester mit Covid infiziert aus der Notbetreuung zurückkehrt und sie sich daraufhin am Ende ihrer Kräfte verzweifelt fragt, ob sie sich ihren Einsatz gut überlegt hat? Diese Frage ist weder eine Suche nach Mitgefühl für die Betroffene und für ihre Pflege-Kolleginnen und Kollegen noch ist es eine Sympathiebekundung. Es ist eine Anklage eines bewusst ignorierten Wertefehlers im Gesundheitssystem.

Das Grundgerüst des ganzen Gesundheitssystems besteht aus unsichtbaren Elementen, die dazu verleiten könnten, diese gänzlich zu übersehen oder als selbstverständlich vorauszusetzen. Der Betrieb einer Einrichtung, in der Kranke behandelt werden, bedarf zuallererst einer menschlichen Bereitschaft, anderen helfen zu wollen. Diese Bereitschaft wurzelt in der unsichtbaren moralischen inneren Haltung und im Wertesystem jeder einzelnen Pflege- und medizinischen Kraft. Diese individuellen Werte sind das Grundgerüst, auf dem das ganze System gebaut ist. Jedes Krankenhaus, jede Pflegeeinrichtung benötigen dringend eben jenes Gerüst der menschlichen Hilfsbereitschaft, denn sonst wären es die Falschen am Werk, die den Kranken die Genesung oder Sterbenden einen würdevollen Tod ermöglichen.

Es scheint jedoch, dass im Falle des Gesundheitssystems seine Entscheidungsträger die menschliche Hilfsbereitschaft als Grundvoraussetzung entweder nicht verstehen oder als selbstverständlich, somit frei und in beliebigen Mengen erhältlich, betrachten.

Das deutsche Gesundheitssystem verliert Pflegekräfte, weil in das Wertesystem nur die Seite der Pflegekräfte voll einzahlt.

Der Pflegenotstand ist kein Zufall oder eine unvorhersehbare Krise. Kein System bleibt bestehen, wenn seine Mechanismen grundsätzlich verkannt oder langfristig und kon- sequent abgelehnt werden. Jede Pflegkraft, die ihren Dienst antritt und bereit ist, körperlich und seelisch Belastendes auf sich zu nehmen, setzt ein grundlegendes Abkommen mit den Entscheidungsträgern über die gemeinsamen Werte voraus. Diese Pflegekräfte können nur dann auf Dauer ihre Dienste leisten, wenn sie sicher sein können, dass der Wert ihrer Arbeit erkannt und entsprechend entlohnt wird.

Auf der Suche nach einer korrekten Entlohnungs-Kalkulation, ist es  von einem  hohen und klärenden Nutzen, sich einen typischen Arbeitsmoment einer Pflegekraft  vor Augen zu rufen, in dem sie beim Kampf um die Gesundheit oder gar ums Überleben, inmitten der Körpersekrete, des Schmerz- und Angsterlebens eines Patienten diesem mit Geduld, Wertschätzung, Hilfe und klarem Kopf zur Seite steht. Nicht wegzulassen   aus der Wertebetrachtung ihrer Arbeit ist das Risiko der Pflegekräfte, selbst entweder aus Überlastung oder wie im Falle der Covid-Pandemie, wegen der Infektionsgefahr zu erkranken.

Um den Wert dieses Einsatzes zuverlässig zu messen, sollte man dem Prinzip der altbewährten Gewichte-Waage folgen. Was auf der einen Seite  schwer wiegt, weil es viel emotional und physisch vom Pflegepersonal abverlangt, wird nur mit schwerem Gegengewicht seitens der Entscheidungsträger in Balance gebracht. Die richtige Kalkulation der Entlohnung und Anerkennung setzt daher voraus, dass dieselben gewich- tigen Werte von beiden Parteien angewendet werden und somit ein voller Einsatz der Pflegekraft einen vollen Einsatz von Entscheidungsträgern nach sich zieht. Wenn auf der Seite der Pflegekräfte Respekt vor der Würde, Aufmerksamkeit und Hingabe und Risikoinkaufnahme geboten werden, sollten auf der Seite der Entscheidungsträger dieselben Werte-Gewichte erscheinen.

Wenn jedoch die Entscheidungsträger die Logik der Werte nicht beachten, so wenden sie auch das falsche Maßstab bei der Entlohnung der Pflegekräfte an. Seit langem fordert Deutscher Berufsverband für Pflegeberufe, DBfK, eine angemessene Bezahlung. DBfK weist darauf hin, dass Einzelmaßnahmen wie Steuererleichterungen oder Prämien nicht die Lösung sind. Auch Weihnachtsplätzchen als tragikomische Vorschläge sind offenbar nicht die Lösung, wie die Reaktion der Klinikmitarbeiter in Passau zeigte. Der finanzielle Teil der Wertschätzung ist erst dann etwas wert, wenn er in der Realität Bestand hat. In einer Welt, in der das Brot Geld kostet und die Wohnung bezahlt werden muss, ist eine hochwertige Entlohnung ein Ausdruck  der Wertschätzung. Wieso muss daher eine angemessene Bezahlung überhaupt gefordert werden? Warum ist sie nicht ein selbstverständlicher Teil der Anerkennung, so selbstverständlich wie die Hilfsbereitschaft des Pflegepersonals? Zum Vergleich: Niemand käme in der Wirtschaft auf die Idee, den Mitarbeitern von einem hochprofitablen  Unternehmen als Dankeschön eine Packung Kekse zu backen oder ihnen eine Runde Beifall zu gönnen. Diese Mitarbeiter kriegen Gehaltserhöhungen sowie vereinbarte und regelmäßige Prämien.

Pflegekräfte können auch nicht streiken, die Gesundheit und das Leben anderer geriete dadurch unmittelbar in Gefahr. Das offenbart die Pflicht seitens der Entscheidungsträger, den Werteinsatz des der Pflegekräfte unaufgefordert zu erkennen und nachzuvollziehen. Man kann jedoch die  Bedürfnisse einer Pflegekraft nicht respektvoll berücksichtigen, wenn man ihr nicht mal zuhört. Eine besonders ignorante Form des Nichtzuhörens ist die sterile Amtssprache als Antwort auf die Nöte des Pflegepersonals. Mitten in der Pandemie, zwischen April und Juli 2020 kündigten ihre Jobs insgesamt 9.009 Pflegekräfte. Passend dazu melden die Ärzte aus verschiedenen Regionen, dass sie lebensnotwendige Maßnahmen nicht  durchführen und die betroffenen Patienten nicht in die nächstgelegene oder eine regionale Klinik verlegen können, denn Intensivbetten sind voll belegt. Das liegt nicht an Geräte- oder Bettmangel, es sind zu viele Erkrankungen und zu wenige Pflegekräfte im Einsatz. Die Deutsche Kran- kenhausgesellschaft kommentierte jedoch dazu lapidar in einer Pressemitteilung vom März 2021: „Die Krankenhäuser haben in den vergangenen zehn Jahren jährlich mehr Pflegekräfte eingestellt. (…) Falls es tatsächlich in den Monaten April bis Juni 2020 zu einem Rückgang gekommen sein sollte, scheint dies kein Trend, sondern eher eine Momentaufnahme im Rekrutierungsprozess zu sein“. Diese Form der Ansprache offenbart nicht nur Faktenignoranz, es ist auch eine bewusste Form des Wegsehens und Weghörens. Im Ergebnis verhöhnt dieses sterile Amtsdeutsch all diese, die aus Erschöpfung und Resignation gegangen sind, es verletzt auch in all jenen, die noch da  sind, die fragile Bereitschaft sich zu engagieren. Diese sprachliche Abstumpfung ist wahrlich kein Weg zum Erkennen des Wertes des Beitrags der Pflegekräfte. Es fällt einem nicht schwer, sich auszumalen, was für Folgen es hätte, wenn die Pflegekräfte die Patienten mit derselben Sprache traktieren würden.

In einer Welt, in der das Brot Geld kostet und die Wohnung bezahlt werden muss, ist eine hochwertige Entlohnung ein Ausdruck der Wertschätzung.

Das deutsche Gesundheitssystem verliert Pflegekräfte, weil in das  Wertesystem nur die Seite der Pflegekräfte voll einzahlt. Die Pflegekräfte  verlassen daher das System aus Erschöpfung, aber auch aus Verbitterung und Enttäuschung. Halten die anderen durch, bis die Entscheidungsträger ganzheitlich und wertschätzend handeln werden? Kann man darauf nach den Enthüllungen der Skandale wegen „Masken-Deals hoffen“? Wir halten die Werte hoch und schwören bei unserer Ehre, schrieben in ihren Ehren- erklärungen  die  CDU/CSU-Politiker. Der Bundespräsident Frank-Walter  Steinmeier hat diese Geschäfte sogar als „Gift für die Demokratie“ verurteilt. Für eine Krankenschwester, die ihr Covid-infiziertes Kind aus der Notbetreuung abholt, während sie sich für andere eingesetzt hat, sind diese Machenschaften tatsächlich Gift. Sie nehmen ihr die Kraft und Zuversicht, dass ihr schlecht bezahlter Einsatz einen Sinn macht. Was sie und alle Pflegekräfte brauchen, ist eine Ehrenerklärung von der Politik, gefolgt von einem Aktionsplan, die allesamt zeigen, dass der Einsatz der Pflegekräfte in Ehren gehalten und gebührend entlohnt wird. Die Zeit und die Fakten drängen dazu, das moralische Verständnis läutet längst verzweifelt Alarm.