Das Gesetz für einen fairen Kassenwettbewerb in der gesetzlichen Krankenversicherung hat auch die Haftungs- und Finanzhilfesystematik in der GKV neu geordnet und dabei den Übergang der Haftung an den GKV-Spitzenverband und damit an alle Krankenkassen geregelt. Ziel der Neuordnung: Haftungsfälle sollen wettbewerbsneutral bleiben und die finanziellen Belastungen eines Haftungsfalls fair auf alle Krankenkassen verteilen. Notwendig wurde dies, weil die bisherige gesetzliche Regelung gerade bei großen Krankenkassen das Risiko barg, die Kassen einer Kassenart durch die finanziellen Verpflichtungen bei Schließung und Insolvenz von Krankenkassen selbst in Existenznot zu bringen. Zu klären bleibt die Frage, ob der GKV-SV ausreichend legitimiert ist, geschlossene Betriebskrankenkassen in die Mitfinanzierung der Haftung und Haftungsprävention einzubeziehen. Dies diskutiert in dieser Ausgabe ein anerkannter Experte: Ulrich Orlowski, seit 2009 bis Frühjahr 2019 Leiter der einflussreichen Abteilung für Gesundheitsversorgung und Krankenversicherung im Bundesgesundheitsministerium, eine Position, die zuvor auch der Herausgeber dieses Magazins innehatte.
I. Neuordnung der Haftungs- und Finanzhilfesystematik
1. Fairer-Kassenwettbewerb-Gesetz (FKG)
Das Gesetz für einen fairen Kassenwettbewerb in der gesetzlichen Krankenversicherung (Fairer-Kassenwettbewerb-Gesetz; GKV-FKG vom 20.03.2020, BGBl. I S. 604) hat im Rahmen der Weiterentwicklung der Wettbewerbsordnung der GKV auch die Haftungs- und Finanzhilfesystematik in der GKV neu geordnet. Mit dem Gesetz wird das Ziel verfolgt, die wettbewerblichen Rahmenbedingungen im Risikostrukturausgleich sowie im Organisationsrecht zu modernisieren und an die Erfordernisse einer solidarischen und fairen Wettbewerbsordnung anzupassen (BR-Drs. 517/19, S. 2). Der Verwaltungsrat des GKV-SV hat mit Beschluss vom 17.06.2020 die Satzung des GKV-SV an die geänderten gesetzlichen Rahmenbedingungen angeglichen. Die Stellung geschlossener BKKn in dieser neuen, weiterentwickelten Ordnung der Haftung und Haftungsprävention ist Gegenstand dieser Untersuchung.
Mit der Neuordnung sollen Haftungsfälle wettbewerbsneutral bleiben und die finanziellen Belastungen eines Haftungsfalls fair auf alle Krankenkassen verteilen.
2. Bisherige Haftungs- und Hilfeordnung
Die Satzung des GKV-SV hatte bereits nach bisher geltendem Recht Bestimmungen über die Gewährung finanzieller Hilfen zur Ermöglichung oder Erleichterung von Vereinigungen von Krankenkassen vorzusehen, die zur Abwendung von Haftungsrisiken für notwendig erachtet wurden. Dabei hatte die Satzung Bestimmungen zu enthalten, dass die Hilfe nur dann gewährt werden kann, wenn zuvor finanzielle Hilfen der Kassen derselben Kassenart in ausreichender Höhe gewährt worden sind (§ 265a Abs. 1 Satz 1 und 3 SGB V a. F.). Die Hilfe des Gesamtsystems war bisher subsidiär zur vorrangigen Vereinbarung von freiwilligen Hilfen für notleidende Kassen innerhalb derselben Kassenart.
3. Neuregelung durch das FKG
Durch das FKG vom 20.03.2020 (BGBl. I S. 604) wird die Haftungs- und Finanzhilfesystematik neu geordnet. Die vorrangige freiwillige Hilfe der Kassen derselben Kassenart als Voraussetzung der Hilfegewährung des Gesamtsystems entfällt, die „Haftungskaskade“ wird abgeschafft. Mit der Neugestaltung des Haftungssystems verfolgt der Gesetzgeber das Ziel, Verwerfungen im Wettbewerb zu beseitigen, die durch die historisch entstandenen Haftungsregelungen verursacht wurden. Zu diesem Zweck wird die vorrangige Haftungsverpflichtung der Krankenkassen derselben Kassenart abgeschafft und eine Kostentragung aller Krankenkassen auf Grundlage eines fairen Verteilungsschlüssels eingeführt. Der bisherige kassenartenbezogene Haftungsverbund wird abgeschafft (BR-Drs. 517/19, S. 62). Flankierend wird die Präventionsorientierung des Haftungssystems deutlich gestärkt, indem die Handlungsmöglichkeiten und Instrumente des GKV-SV zur Vermeidung von Haftungsfällen erheblich ausgeweitet werden (BR-Drs. 517/19, S. 3). Das neue Haftungssystem soll dazu führen, dass Haftungsfälle wettbewerbsneutral sind und sich die finanziellen Belastungen des Haftungsfalls auf alle Krankenkassen fair verteilen (BR-Drs. 517/19, S. 62).
II. Neue Haftungssystematik
1. Grundelemente
Die mit dem FKG vom 20.03.2020 (BGBl. I S. 604) eingeführte neue Haftungssystematik besteht aus folgenden wesentlichen Bestandteilen:
- Unmittelbare Haftung aller Krankenkassen für Verpflichtungen einer aufgelösten oder geschlossenen Krankenkasse. Dies entspricht der bundesweiten, kassenübergreifenden Geltung der Ausgleichs- und Solidarordnung des Risikostrukturausgleichs (BVerfG v. 18.07.2005 = BVerfGE 113, 167 – 273, Rn. 133, 134). Die Haftung im Fall der Insolvenz ist weiterhin subsidiär.
- Vorrangige Haftung des Arbeitgebers (des Trägerunternehmens) für Verpflichtungen einer aufgelösten oder geschlossenen BKK (ohne Öffnungsbeschluss); bei Beteiligung mehrerer Arbeitgeber haften diese als Gesamtschuldner (§ 166 Abs. 2 Satz 1 und 2 SGB V – neu –). Der Arbeitgeber haftet auch für bisher nicht gedeckte Verpflichtungen bei Vereinigung einer geschlossenen BKK mit einer anderen Krankenkasse (§ 166 Abs. 2 Satz 5 i. V. m. § 155 SGB V – neu –).
- Subsidiäre Haftung aller Krankenkassen, wenn das Vermögen des (der) Arbeitgeber nicht ausreicht, um die Verpflichtungen der aufgelösten oder geschlossenen BKK zu er- füllen (§ 166 Abs. 2 Satz 3 i. V. m. § 166 Abs. 1 SGB V – neu –; „Resthaftung“).
2. Durchführung der Haftung im Innenverhältnis
Die Haftung aller Krankenkassen nach § 166 Abs. 1 und 2 Satz 3 SGB V (Resthaftung) wird vom GKV-SV im Innenverhältnis wie folgt durchgeführt:
- Die Erfüllung der Haftungsverpflichtungen der Krankenkasse kann nur vom GKV-SV im Verhältnis zu den Krankenkassen geltend gemacht werden.
- Der auf die einzelne Kasse entfallende Haftungsbetrag ergibt sich aus
- Teilung des Gesamthaftungsbetrages durch die Summe der Mitglieder aller Krankenkassen und
- Multiplikation dieses Ergebnisses mit der Zahl der Mitglieder der einzelnen Krankenkasse (§ 167 Abs. 1 Satz 2 SGB V – neu –).
- Für geschlossene BKKn ist die Haftung auf 20 % dieses Haftungsbetrags begrenzt (§ 167 Abs. 4 Satz 1 SGB V – neu –).
- Der wegen dieser Haftungsbegrenzung nicht gedeckte Betrag wird auf alle anderen Krankenkassen nach der Zahl der Mitglieder verteilt (§ 167 Abs. 4 Satz 2 i. V. m. Abs. 1 Satz 2 SGB V – neu –).
- Der Grund für diese Haftungsbegrenzung zugunsten geschlossener BKKn ist die vorrangige AG-Haftung bei geschlossenen BKKn; für die anderen Krankenkassen kommt nur eine Haftung für den Restbetrag in Betracht, soweit der Arbeitgeber die Verpflichtungen nicht voll erfüllen kann (BR-Drs. 517/19, S. 88, Einzelbegründung zu § 167 SGB V).
3. Durchführung der Haftung im Außenverhältnis (Ausfallbürgschaft des Arbeitgebers)
Im Außenverhältnis wird die Haftung folgendermaßen durchgeführt:
- Die Gläubiger der aufgelösten oder geschlossenen Krankenkasse (§ 166 Abs. 1 und 2 Satz 3 SGB V; „Resthaftung“) können im Außenverhältnis nur den GKV-SV in Anspruch nehmen. Dieser kann zur Zwischenfinanzierung ein unverzinsliches Darlehen i. H. v. bis zu 750 Mio. Euro aus der Liquiditätsreserve des Gesundheitsfonds in Anspruch nehmen (§ 167 Abs. 6 Satz 1 SGB V – neu –).
- Die Gläubiger einer geschlossenen BKK müssen hingegen im Fall der Auflösung oder Schließung unmittelbar diese BKK bzw. den für die nicht gedeckten Verpflichtungen unmittelbar und unbegrenzt gesetzlich haftenden Arbeitgeber in Anspruch nehmen. Der Arbeitgeber ist kraft Gesetzes unbegrenzter Ausfallbürge für die offenen Verpflichtungen einer aufgelösten oder geschlossenen BKK (ohne Öffnungsbeschluss) (vgl. Mühl- hausen, in: Becker/Kingreen, SGB V, 6. Aufl. 2018, § 155, Rn. 17; Felix, NZS 2005, 57, 59 f.). Durch die gesetzliche Haftungsanordnung wird der Arbeitgeber verpflichtet, für die Erfüllung der Verbindlichkeiten der Betriebskrankenkasse gegenüber den Gläubigern als Dritten im jeweiligen Umfang einzustehen (§ 166 Abs. 2 Satz 1 und 2 SGB V – neu – i. V.
m. § 765 Abs. 1 BGB). Veränderungen an der Beteiligung einer geschlossenen BKK am Haftungsrisiko (z. B. in der Form einer unbegrenzten Beteiligung von geschlossenen Betriebskrankenkassen am Risiko anderer Kassen) wirken sich daher unmittelbar auf das Bürgschaftsrisiko des Arbeitgebers aus.
III. Finanzielle Hilfe zur Haftungsprävention (§§ 163, 164 sgbV – Neu –)
Das FKG vom 20.03.2020 (BGBl. I S. 604) hat neben der Haftungssystematik auch die allgemeine Haftungsprävention und die – vorübergehende – Finanzhilfe mit folgenden wesentlichen Bestandteilen neu geordnet:
- Alle Krankenkassen (einschließlich der geschlossenen BKKn) werden in ein nunmehr gesetzlich geregeltes System der Haftungsprävention einbezogen, bestehend aus regelmäßiger Überprüfung der (jährlichen und vierteljährlichen) Rechnungsergebnisse der Kassen mit dem Ziel der Bewertung der Leistungsfähigkeit der Kassen. Kommt der GKV-SV bei der Prüfung zu dem Ergebnis, dass die Leistungsfähigkeit einer Kasse ge- fährdet ist, so setzt eine Interventionsmechanik ein, die bis hin zur Vereinigung einer gefährdeten Krankenkasse durch die Aufsicht auf Vorschlag des GKV-SV führen kann (§ 163 SGB V – neu –). Das konkrete Verfahren zur Bewertung der Leistungsfähigkeit der Krankenkassen hat der GKV-SV in seiner Satzung mit Beschluss vom 17.06.2020 neu geregelt (§ 163 Abs. 1 Satz 2 SGB V – neu –).
- Der GKV-SV hat in seiner Satzung Bestimmungen über die Gewährung vorübergehender finanzieller Hilfen an Krankenkassen vorzusehen, die für notwendig erachtet werden, um
- Vereinigungen von Krankenkassen zur Abwendung von Haftungsrisiken zu erleichtern oder zu ermöglichen sowie
- die Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit einer Krankenkasse zu erhalten.
- Der GKV-SV macht die zur Finanzierung der Hilfen erforderlichen Beträge bei seinen Mitgliedskassen mit Ausnahme der LKKn durch Bescheid geltend. Bei der Aufteilung der Finanzierungsbeiträge ist die unterschiedliche Leistungsfähigkeit der Krankenkassen angemessen zu berücksichtigen (§ 164 Abs. 3 Satz 2 SGB V – neu –).
- Das „Nähere über Voraussetzungen, Umfang, Dauer, Finanzierung und Durchführungnder Hilfe“ regelt die Satzung des GKV-SV (§ 164 Abs. 1 Satz 2 SGB V – neu –).
IV. Geschlossene BKKn im System der Haftungsprävention
1. Uneingeschränkte Beteiligung geschlossener BKKn zur Vermeidung von Haftungsrisiken
Der GKV-SV kann auf der Grundlage des FKG vom 20.03.2020 (BGBl. I S. 604) in seiner Hilfesatzung die Gewährung finanzieller Hilfen an Krankenkassen vorsehen, die für notwendig erachtet werden, um Vereinigungen von Krankenkassen zur Abwendung von Haftungsrisiken zu erleichtern oder zu ermöglichen (§ 164 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB V – neu –).
Nur für die LKKn ist eine Ausnahme von der Beteiligung an der Finanzierung der Hilfe vorgesehen (§ 164 Abs. 3 Satz 1 SGB V), da LKKn am Wettbewerb der Krankenkassen nicht teilnehmen. Eine Ausnahme für geschlossene BKKn vom Anwendungsbereich des § 164 SGB V gibt es hingegen nicht. Auch geschlossene BKKn stehen im Wettbewerb um Mitglieder, da sie ihre Beschäftigten oder ehemals Beschäftigten davon überzeugen müssen, die geschlossene BKK und nicht eine andere wählbare Kasse zu wählen (§ 173 Abs. 2 Nr. 3 SGB V).
2. Abwendung von „eigenen“ Haftungsrisiken
Finanzielle Hilfe zur Vereinigung von Krankenkassen soll gewährt werden, wenn die Hilfe „für notwendig erachtet wird“, um „Haftungsrisiken“ abzuwenden (§ 164 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB V – neu –). Fraglich ist, ob dieser Fall, die Abwendung von Haftungsrisiken, für geschlossene BKKn überhaupt eintreten kann.
Das Risiko für – eigene – Verbindlichkeiten einer geschlossenen BKK trägt grundsätzlich immer der Arbeitgeber allein oder als Gesamtschuldner mit anderen Arbeitgebern als Träger der BKK (§ 166 Abs. 2 Satz 1 und 2, Satz 5 SGB V – neu –). Der Arbeitgeber haftet als gesetzlicher Ausfallbürge für alle Verbindlichkeiten einer geschlossenen BKK. Haftungsrisiken, die durch finanzielle Hilfen an die geschlossene BKK abgewendet werden könnten, bestehen daher nicht. Der Zweck der Hilfegewährung, die Abwendung von Haftungsrisiken, kann hinsichtlich eigener Verbindlichkeiten der BKK also grundsätzlich nicht erreicht werden, da diese Risiken durch die Arbeitgeberhaftung bereits abgesichert sind.
Eine Haftung der anderen Krankenkassen ist nur für den Fall vorgesehen, dass der Arbeitgeber, z. B. im Fall der Insolvenz, für die Schulden seiner BKK ganz oder teilweise nicht aufkommen kann. Das Gesamtsystem trägt allenfalls das „Restrisiko“ (§ 166 Abs. 2 Satz 3 SGB V).
Für den speziellen Fall der Vereinigung einer geschlossenen BKK mit einer anderen Krankenkasse schreibt das Gesetz vor, dass der haftende Arbeitgeber innerhalb von sechs Monaten die Schulden seiner BKK zu begleichen hat (§ 166 Abs. 2 Satz 5 SGB V). Der Arbeitgeber kann sich also nicht durch eine Fusion seiner Haftung für die Verbindlichkeiten der BKK entziehen. Hilfen zur Vereinigung von Krankenkassen im Rahmen der Haftungsprävention sind in diesen Fällen nicht zulässig, da sie zu einer Entlastung des gesetzlich prioritär haftenden Arbeitgebers führen würden. Etwas anderes gilt nur dann, wenn das Vermögen des Arbeitgebers nicht ausreicht, um die Schulden der zu fusionierenden Kasse zu begleichen; auch in diesem Fall greift die Resthaftung des Gesamtsystems (§ 166 Abs. 2 Satz 5 i. V. m. Satz 3 SGB V). Finanzielle Hilfen zur Vereinigung von Krankenkassen zur Abwendung von eigenen Haftungsrisiken gibt es daher nur im Fall einer Resthaftung des Gesamtsystems.
3. Abwendung von „fremden“ Haftungsrisiken
Fraglich bleibt, ob eine finanzielle Hilfe zur Vereinigung von Krankenkassen, um Haftungsrisiken abzuwenden, auch unter Beteiligung geschlossener BKKn vorgesehen werden kann, wenn es um das – fremde – Haftungsrisiko anderer Kassen geht. Ist beispielsweise eine geschlossene BKK an der Finanzierung einer Hilfeleistung durch den GKV-SV an eine notleidende große (Ersatz-)Kasse zu beteiligen, um die (Rettungs-)Fusion dieser Krankenkasse zu ermöglichen oder zu erleichtern?
Nach dem Wegfall der bisherigen vorrangigen Hilfe derselben Kassenart (§ 265b SGB V a. F.) stellt sich diese Frage völlig neu und hat erhebliches praktisches Gewicht für die zu treffenden Arbeitgeberentscheidungen. Die uneingeschränkte Beteiligung einer geschlossenen BKK an der Bewältigung eines fremden Haftungsrisikos würde dazu führen, dass eine geschlossene BKK zwar selbst für das Gesamtsystem kein Haftungsrisiko werden kann – da es die vorrangige Arbeitgeberhaftung gibt – aber gleichwohl für fremde Haftungsrisiken uneingeschränkt mit in Anspruch genommen wird. Der Arbeitgeber als Trägerunternehmen würde bei dieser Herangehensweise gleich zweimal haften, nämlich einmal für das Risiko seiner eigenen, geschlossenen BKK und zum anderen zusätzlich für die Haftungsrisiken aller anderen am System der gesetzlichen Krankenversicherung beteiligten Krankenkassen; ein zusätzliches Risiko, das durch den Wegfall der vorrangigen kasseninternen Hilfeleistung entstanden und weitgehend unkalkulierbar ist.
4. Satzungskompetenz des GKV-SV
Das Gesetz sieht vor, dass „Näheres“ über Voraussetzungen, Umfang, Dauer, Finanzierung und Durchführung der Hilfe in der Satzung des GKV-SV geregelt wird, die in diesem Fall mit 70 % der Stimmen des Verwaltungsrates zu beschließen ist (§ 164 Abs. 1 Satz 2 und 3 SGB V – neu –). Insbesondere enthält die Vorschrift zu den Finanzhilfen keine Regelung zum Umfang der Beteiligung geschlossener Betriebskrankenkassen an der Finanzierung der Finanzhilfe. Anders als bei der neuen Haftungssystematik, bei der die Haftung geschlossener BKK auf 20 % des Betrags begrenzt ist (§ 167 Abs. 4 Satz 1 SGB V – neu –), fehlt bei den Finanzhilfen eine entsprechende Vorschrift und auch die Begründung der Vorschrift sagt hierzu nichts.
Die gesamte inhaltliche Gestaltung der Finanzhilfe einschließlich der Konkretisierung der Merkmale der gesetzlichen Regelung ist damit Angelegenheit der Selbstverwaltungs- bzw. Satzungsautonomie des GKV-SV. Das gilt auch für die Frage, ob und wie, sowie in welchem Umfang Kassen, insbesondere geschlossene BKKn, an der Finanzierung der Hilfen zu beteiligen sind.
5. Obligatorische Beschränkung der Beteiligung?
Die Sachgerechtigkeit spricht dafür, dass der GKV-SV als Satzungsgeber eine Beschränkung der Beteiligung geschlossener BKKn an der Finanzhilfe vorzusehen hat. Solidarität, besser die Bildung einer Solidargemeinschaft durch den Normgeber, ist nicht beliebig, sondern beruht auf Gegenseitigkeit! Die uneingeschränkte Einbeziehung einer Krankenkasse in den Hilfe- und Finanzierungsverbund der Haftungsprävention kommt nur dann in Betracht, wenn sich die geschlossene BKK in dieser Hinsicht in einer Situation befindet, die derjenigen anderer Kassen vergleichbar ist. Das ist jedoch gerade nicht der Fall!
Denn das eigene Haftungsrisiko einer geschlossenen BKK wird durch die vorrangige Arbeitgeberhaftung abgedeckt. Eine der Arbeitgeberhaftung vergleichbare Haftung Dritter für die anderen Kassen gibt es nicht. Die Beteiligung an fremden, ungedeckten Haftungsrisiken anderer Kassen führt zu einer Risikobeteiligung, der kein ungedecktes, eigenes Risiko gegenübersteht. Dadurch würde das Prinzip der gegenseitigen Risikoübernahme bei der Bildung von Haftungsgemeinschaften durch den Normgeber verletzt. Denn die geschlossene BKK (bzw. deren Arbeitgeber) würde in diesem Fall doppelt haften, einmal für das eigene Risiko und zusätzlich, atypisch auch für das fremde Risiko, ohne dass dies durch einen sachlichen Grund gerechtfertigt wäre. Die unbeschränkte Einbeziehung geschlossener BKKn in die Finanzierung der Haftungsprävention des GKV-SV ist daher unzulässig.
6. Willkürverbot
Bereits aus dem Rechtsstaatsprinzip folgt, dass der Satzungsgeber bei der Gestaltung von Lebenssachverhalten willkürfrei entscheiden muss, d. h. dass er Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich behandeln muss. Je nach dem Regelungsgegenstand und den Differenzierungsmerkmalen ergeben sich unterschiedliche Grenzen für den Satzungsgeber, die vom bloßem Willkürverbot bis zu einer strengen Bindung an die Verhältnismäßigkeitserfordernisse reichen (BVerfG v. 18.07.2005 = BVerfGE 113, 167 – 273, Rn. 126; st. Rspr. zum allg. Gleichheitssatz). Das Willkürverbot ist im Rahmen der Gestaltungsfreiheit des Satzungsgebers jedenfalls dann verletzt, wenn ein sich aus der Natur der Sache oder sonst ergebender Grund für eine gesetzliche Differenzierung besteht und gleichwohl ohne tragenden Grund eine eigentlich gebotene Differenzierung nicht vorgenommen wird (BVerfG, ebda.). So liegt hier der Fall. Solange das Gesetz das Institut der geschlossenen BKK mit vorrangiger Arbeitgeberhaftung vorsieht, hat der Satzungsgeber diesen Sachverhalt bei der Gestaltung der Hilfeordnung zu berücksichtigen. Die Solidargemeinschaft der gesetzlichen Krankenkassen zur Finanzierung der Beträge für die Haftungsprävention in der Form einer Umlage kann aufgrund des Rechtsstaatsprinzips vom Satzungsgeber also nicht so gestaltet werden, dass auch geschlossene BKKn sachwidrig für fremde Risiken uneingeschränkt haften.
7. Uneingeschränkte Beteiligung geschlossener BKKn an Hilfen zum Erhalt der Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit anderer Kassen
Der GKV-SV hat im Rahmen der Haftungsprävention nicht nur Hilfen zur Vereinigung von Kassen zur Abwendung von Haftungsrisiken vorzusehen, sondern auch Bestimmungen über die Gewährung von vorübergehender Hilfe für Kassen zum Erhalt der Leistungsfähigkeit bzw. zum Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit (§ 164 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB V – neu –). In der derzeitigen Finanzierungssystematik der GKV kann Leistungsfähigkeit einer Kasse davon abgeleitet werden, ob bzw. in welcher Höhe die Kasse einen Zusatzbeitrag erhebt (Schrinner, in: Engelmann/Schlegel, juris-PK, § 265b a. F., Rn. 16, Stand 01.04.2020; vgl. § 17 Abs. 1 Anlage 2, Satzung GKV-SV, a. a. O.). Finanzhilfen im Rahmen der Haftungsprävention für die eigene Leistungsfähigkeit einer geschlossenen BKK dürften allerdings nicht in Betracht kommen, da bereits der Arbeitgeber wegen seiner Haftung ein prioritäres Interesse hat, die Leistungsfähigkeit seiner Kasse zu erhalten. Hat dies keine realistischen Aussichten auf Erfolg, kann der Arbeitgeber die Auflösung der BKK bei der Aufsicht beantragen (§ 153 SGB V).
Voraussetzung von Wettbewerb ist die uneingeschränkte Wählbarkeit von Krankenkassen. Eine geschlossene BKK steht nur im Wettbewerb um ihre eigenen Beschäftigten oder ehemaligen Beschäftigten, aber nie im Wettbewerb um die Mitglieder anderer Krankenkassen. Insoweit nehmen geschlossene BKKn nicht am Wettbewerb der Kassen um neue Mitglieder teil, da sie für Externe gerade nicht wählbar sind. Hilfen zum Erhalt der „eigenen“ Wettbewerbsfähigkeit geschlossener BKKn im Wege der Haftungsprävention des Gesamtsystems sind daher mit der Einrichtung und dem Grundprinzip einer geschlossenen BKK kaum zu vereinbaren. Der Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit der „eigenen“ BKK ist prioritäres Interesse des Arbeitgebers als Trägerunternehmen, nicht zuletzt auch um einen Fall der Arbeitgeberhaftung zu vermeiden. Bei den finanziellen Hilfen zum Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit im Rahmen der Haftungsprävention kann es also für geschlossene BKKn nur darum gehen, die Wettbewerbsfähigkeit anderer Kassen zu erhalten, obwohl die ge- schlossenen BKKn genau an diesem Wettbewerb gar nicht teilnehmen.
Beide Varianten der Hilfen zur Haftungsprävention, nämlich die Hilfe zum Erhalt der Leistungsfähigkeit sowie die Hilfe zum Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit, sind für die Leistungs- oder Wettbewerbsfähigkeit der geschlossenen BKK selbst eigentlich nicht relevant. Die Hilfen zur Haftungsprävention betreffen auch hier ebenso wie bei den Hilfen zur Vermeidung von Haftungsrisiken im Kern immer Risiken anderer Kassen, die bei geschlossenen BKKn durch das Interesse des Arbeitgebers und die Arbeitgeberhaftung abgedeckt sind.
V. Gestaltung der Arbeitgeberhaftung durch die Hilfesatzung
1. Arbeitgeberhaftung und Finanzierung der Haftungspräventionen
Das FKG vom 20.03.2020 (BGBl. I S. 604) hat die vorrangige kassenarteninterne Hilfe beseitigt und eine neue Hilfe- und Haftungsordnung eingerichtet. Der Arbeitgeber haftet in dieser Ordnung als unbeschränkter Ausfallbürge seiner geschlossenen BKK; der Umfang dieser Haftung wird durch eine Beteiligung, allemal eine uneingeschränkte Beteiligung, an der Finanzierung der Hilfeordnung unmittelbar aus dem Gesetz bzw. aus der Satzung heraus geändert bzw. erweitert. Die Arbeitgeberhaftung umfasst nicht mehr nur die Risiken der eigenen geschlossenen BKK, sondern wird durch eine – uneingeschränkte – Beteiligung an der Finanzierung der Haftungsprävention auf potentielle Risiken des Gesamtsystems erweitert.
2. Berufsausübungsfreiheit des Arbeitgebers (Art. 12 I GG)
Durch eine derartige Änderung des Haftungsrisikos, des Haftungsumfangs sowie der Einführung von Beträgen zur Finanzierung der Haftungsprävention durch die Satzung des GKV-SV kann der Schutzbereich der Berufsausübungsfreiheit des Arbeitgebers betroffen sein. Die Freiheit der Berufsausübung, also das Recht, eine Tätigkeit als Beruf zu ergreifen und möglichst unreglementiert auszuüben (…) wird durch Art. 12 Abs. 1 GG umfassend geschützt. Nach Maßgabe des Art. 19 Abs. 3 GG können juristische Personen den Schutz der Berufsfreiheit beanspruchen (st. Rspr. BVerfG v. 26.09.2016, GesR 2016, 767 ff., Rn. 21). Geschützt wird jede Erwerbszwecken dienende Tätigkeit (Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 12 Rn. 6, 16. Aufl. 2020), die Ausübung des Berufes, d. h. die gesamte berufliche Tätigkeit, insbesondere Form, Mittel und Umfang sowie gegenständliche Ausgestaltung der Betätigung (BGH NJW 17, 2018, Rn. 29; Jarass, a. a. O., Rn. 10), sowie die Gründung und Führung von Unternehmen (BVerfGE 50, 290, 363) und die damit verbundene Dispositions-, Investitions- und Produktionsfreiheit (Jarass, a. a. O., Rn. 10, m. w. N.).
In der bestehenden Wirtschaftsordnung umschließt das Freiheitsrecht des Art. 12 Abs. 1 GG auch das berufsbezogene Verhalten der Unternehmen am Markt nach den Grundsätzen des Wettbewerbs (BVerfG v. 17.12.2002 = BVerfGE 106, 275, Rn. 103). Die Berufsfreiheit umfasst das Recht der am Markt Tätigen, die Bedingungen ihrer Marktteilnahme selbst festzusetzen (BVerfG, a. a. O., Rn. 105). Dabei unterliegen die Bedingungen der Marktteilnahme dem Risiko laufender Veränderungen je nach den Marktverhältnissen (BVerfG, a. a. O., Rn. 104; BVerfG v. 26.06.2002 = BVerfGE 105, 252 – 279, Rn. 43 [Glykol]; BVerfG v. 17.12.2002 = BVerfGE 106, 275 – 310, Rn. 104 [Festbeträge]; BVerfG v. 17.08.2004, GesR 2004, 470 – 473, Rn. 21 [Konkurrenzschutz]).
Die Errichtung einer geschlossenen BKK erfolgt durch den Arbeitgeber (§ 149 SGB V); ihr liegt die Entscheidung des Arbeitgebers zu Grunde, die Sozialversicherungspflicht als Arbeitgeber nicht nur durch die Abführung von Sozialversicherungsbeiträgen an andere Krankenkassen, sondern durch die Errichtung einer eigenen Betriebskrankenkasse zu erfüllen. Die Entscheidung erfolgt zu den gesetzlich geregelten Bedingungen und ist eine Entscheidung zur Organisation des Unternehmens, die die Attraktivität des Unternehmens für leistungsfähige Mitarbeiter erhöhen soll und insoweit die Voraussetzungen der Marktteilnahme des Unternehmens betrifft. Die Veränderung der Einstandspflichten des Arbeitgebers für Verpflichtungen seiner geschlossenen BKK gehört zu den unternehmensrelevanten Rahmenbedingungen für die Gründung und Führung einer BKK und damit für die Marktteilnahme. Es macht einen Unterschied, ob der Arbeitgeber allein für die Risiken seiner BKK oder für die – seinem Einflussbereich weitestgehend entzogenen – gesamten Risiken der GKV einschließlich der Haftungsprävention mithaftet. Der Schutzbereich der Berufsausübungsfreiheit wird durch die gesetzliche Veränderung der Arbeitgeberhaftung berührt.
In das Grundrecht der Berufsfreiheit darf nur auf gesetzlicher Grundlage und unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit eingegriffen werden. Diesem Gesetzesvorbehalt kann nicht nur durch Normen des staatlichen Gesetzgebers genügt werden, vielmehr sind Beschränkungen innerhalb gewisser Grenzen auch in Gestalt von Satzungen und Rechtsverordnungen zulässig (st. Rspr., BVerfG v. 26.09.2016, GesR 2017, 767 ff.). Auch der GKV-SV als Satzungsgeber kann im Rahmen seiner Finanzhilfeordnung gemäß § 164 Abs. 1 Satz 2 SGB V grundsätzlich über die Regelungen zum Umfang der Beteiligung von Krankenkassen an der Finanzierung der Haftungsprävention die Berufsausübungsfreiheit des Arbeitgebers mitregeln. Voraussetzung ist, dass er zu einer derartigen Bestimmung verfassungsrechtlich ausreichend ermächtigt ist.
Dabei gewährleistet der Parlamentsvorbehalt nicht nur, dass der demokratische Gesetzgeber die Aufgaben und Regelungsgegenstände festlegt, die zur selbstverantworteten Gestaltung freigegeben werden; die gesetzlichen Regelungen haben auch den verfassungsrechtlichen Anforderungen des Demokratie- und Rechtsstaatsprinzips an die Delegation von Normsetzung an die Träger funktionaler Selbstverwaltung zu genügen (BVerfG v. 15.08.2018, MedR 2019, 296 ff., 297, Rn. 16 m. w. N.). Eingriffe in die Berufsfreiheit dürfen nur auf der Grundlage einer hinreichend erkennbaren Regelung erfolgen, aus der sich die gesetzgeberische Entscheidung über den Umfang und die Grenze des Eingriffs ergibt (BVerfG v. 22.01.2016, NJW 2016, 700, Rn. 48). Die Vorgabe, „das Nähere“ zu bestimmen, lässt jedoch jede inhaltliche Anleitung des Satzungsgebers durch den Gesetzgeber vermissen.
3. Ausreichende Legitimation des GKV-SV (unbeschränkte Beteiligung)
Zu fragen ist daher zunächst, ob der Gesetzgeber überhaupt befugt ist, die Gestaltung der Hilfeordnung in so einem weitgehenden Umfang an den GKV-SV als Satzungsgeber zu delegieren oder ob der Gesetzgeber diesen wesentlichen Sachverhalt nicht vielmehr im Gesetz selber hätte regeln müssen. Der Arbeitgeber ist als gesetzlicher Ausfallbürge unmittelbar in seinem Haftungsumfang durch die Gestaltung der Hilfeordnung betroffen. Betroffen ist der Arbeitgeber als Dritter, da er nicht zu den stimmberechtigten Mitgliedern der GKV-SV gehört und auch das Mindestquorum von 70 % der Stimmen der Mitglieder der GKV-SV der Arbeitgeber nicht von einer derartigen unbeschränkten Beteiligungsregelung schützt. Der Arbeitgeber des Trägerunternehmens ist auch nicht durch die Arbeitgebervertreter im Verwaltungsrat des GKV-SV ausreichend repräsentiert, da er wegen der Arbeitgeberhaftung ungleich anders als jeder andere Arbeitgeber durch die Haftungsprävention betroffen ist.
Der GKV-SV ist als Satzungsgeber für eine derartige Regelung im Verhältnis zu Dritten nur dann verfassungsrechtlich hinreichend legitimiert, wenn er durch den Gesetzgeber „ausreichend gesetzlich angeleitet ist“ (BVerfG v. 10.11.2015 = BVerfGE 140, 229 ff., Rn. 22 a. E.; vgl. Mühlhausen, in: Becker/Kingreen, SGB V, 6. Aufl. 2018, § 217e, Rn. 9; Jarass, in: Jarras/Pieroth, Art. 20 GG, Rn. 7, 16. Aufl. 2020). Das ist nicht der Fall! Eine Satzungsbestimmung des GKV-SV, die eine unbeschränkte Beteiligung geschlossener BKKn an der Finanzierung der Haftungsprävention vorsähe, wäre eine Bestimmung, die mit hoher Intensität Angelegenheiten Dritter regelt, die an der Entstehung der Bestimmung nicht mitwirken konnten (BVerfG, a. a. O., Rn. 22). Da eine „gesetzliche Anleitung“ zu einer derartigen Satzungsregelung fehlt, ist der Satzungsgeber gehindert, eine uneingeschränkte Beteiligung geschlossener BKKn an der Finanzierung der Haftungsprävention vorzusehen. Die Vorgabe des Gesetzes „das Nähere“ über … „Finanzierung und Durchführung“ der Hilfen in der Satzung der GKV-SV zu regeln, reicht als gesetzliche „Anleitung“ nicht aus. Die Delegation der Regelung des „Näheren“ an den Satzungsgeber ist so unbestimmt und inhaltslos, dass sich aus der Ermächtigungsnorm nichts entnehmen lässt, was als „ausreichende“ gesetzliche Anleitung des Satzungsgebers tauglich wäre. Zu einer derartigen Satzungsregelung ist der GKV-SV ohne eine derartige Anleitung nicht hinreichend legitimiert; eine derartige Bestimmung aufgrund dieser inhaltlosen Ermächtigungsgrundlage wäre daher rechtswidrig.
4. Ausreichende Legitimation des GKV-SV (eingeschränkte Beteiligung)
Abschließend bleibt die Frage zu klären, ob der GKV-SV zumindest insoweit ausreichend legitimiert ist, dass er in seiner Satzung zur Haftungsprävention eine eingeschränkte Beteiligung geschlossener BKKn an der Finanzierung der Haftungsprävention vorgehen kann. Der Verwaltungsrat des GKV-SV ist in seinem Beschluss vom 17.06.2020 diesen Weg gegangen und hat sich für eine eingeschränkte Beteiligung geschlossener BKKn i. H. v. 20 % des Finanzierungsbetrages entschieden. Abzuwarten bleibt, ob das BMG als Genehmigungsbehörde für die Änderung der Satzung diese Bestimmung im Rahmen der Ausübung der Rechtsaufsicht toleriert.
Am Problemhaushalt ändert sich durch die Beschränkung der Beteiligung grundsätzlich zunächst einmal nichts. Der Arbeitgeber ist in dieser Konstellation Dritter; eine gesetzliche „Anleitung“ des Satzungsgebers fehlt auch für die eingeschränkte Beteiligung; das „Nähere“ sagt auch hierzu rein gar nichts aus. Das Schweigen des Gesetzgebers zu der Frage, ob es überhaupt eine Beteiligung, eine uneingeschränkte oder eingeschränkte Beteiligung an der Finanzierung der Haftungsprävention gibt, kann auf unterschiedliche Weise gedeutet werden. Die Idee, dass aus dem Schweigen des Gesetzes im Umkehrschluss zu entnehmen sei, dass auch geschlossene BKKn immer unbeschränkt an der Finanzierung der Haftungsprävention zu beteiligen seien, findet im Gesetz und seinen Materialien keine Stütze und stößt vor allem auf die dargelegten verfassungsrechtlichen Bedenken. Dem Beschluss des GKV-SV vom 17.06.2020, die Beteiligung geschlossener BKKn an der Finanzierung der Haftungsprävention auf 20 % zu begrenzen, liegt die Idee zu Grunde, dass die vom Gesetzgeber für die eigentlichen Haftungsbeträge vorgesehene Beschränkung auf 20 % (§ 167 Abs. 4 Satz 1 SGB V) auf die Regelung zur Finanzierung der Haftungsprävention übertragen werden kann. Voraussetzung für die Tragfähigkeit dieser Überlegung ist, dass eine Analogiebildung ausreicht, um das „Anleitungs-“ bzw. Legitimationsdefizit des Gesetzes auszufüllen. Bereits das ist zweifelhaft, da eine Entscheidung des Gesetzgebers zu diesem Fall gerade nicht vorliegt. Die Analogiebildung des Satzungsgebers hat nicht die mit einem Gesetzesbeschluss vergleichbare Wirkung, die zur Beseitigung des Legitimationsdefizits der Regelung erforderlich ist. Voraussetzung ist des Weiteren, dass die Wertung des Gesetzgebers, die im Wege der Analogie zur Lückenfüllung fruchtbar gemacht werden soll, überhaupt auf den analogen Fall übertragbar ist.
Hintergrund für die begrenzte Haftungsbeteiligung geschlossener BKKn ist die Resthaftung aller Kassen, wenn die Arbeitgeberhaftung, z. B. wegen Insolvenz, nicht trägt. Der Gesetzgeber legt dieses Risiko pauschalierend mit 20 % fest und begründet damit die Beteiligung geschlossener BKKn an der Finanzierung der Haftung durch den GKV-SV. Ohne die sog. Resthaftung wäre eine finanzielle Beteiligung geschlossener BKKn an der Haf- tung nicht begründbar. Eine vergleichbare „Resthaftung“ gibt es allerdings nur für einen der beiden vom Gesetzgeber geregelten Fälle der Haftungsprävention. Bei der Vereinigung einer geschlossenen BKK mit einer anderen Krankenkasse hat der Arbeitgeber (innerhalb von sechs Monaten) die Schulden seiner Betriebskrankenkasse zu begleichen (§ 166 Abs. 2 Satz 5 SGB V). Der Arbeitgeber kann sich nicht durch Fusion seiner Haftung für die Verbindlichkeiten der BKK entziehen. Hilfen zur Vereinigung von Krankenkassen im Rahmen der Haftungsprävention sind also in diesen Fällen gar nicht zulässig, da sie zu einer Entlastung des primärhaftenden Arbeitgebers führen würden. Etwas anderes gilt nur dann, wenn das Vermögen des primär haftenden Arbeitgebers nicht ausreicht, um die Schulden der zu fusionierenden BKK zu begleichen. Nur in diesem Fall greift die „Resthaftung“ des Gesamtsystems (§ 166 Abs. 2 Satz 5 i. V. m. Satz 3 SGB V).
Für die beiden anderen Varianten der Haftungsprävention, nämlich die Hilfen zum Erhalt der Leistungsfähigkeit sowie zum Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit einer geschlossenen BKK, steht allein der Arbeitgeber als Trägerunternehmen ein, was systematisch konsequent ist.
Eine geschlossene BKK, deren Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit der Arbeitgeber nicht mehr erhalten will oder kann, ist auf seinen Antrag von der Aufsicht zu schließen oder vom Arbeitgeber entschuldet in eine Fusion zu führen. Raum für eine „Resthaftung“ des Gesamtsystems gibt es insoweit nicht, es sei denn, der Arbeitgeber würde vom Gesamtsystem von seiner Haftung ganz oder teilweise gesetzeswidrig entlastet. Die „Resthaf- tung“ des Gesamtsystems für geschlossene BKKn in den Fällen der Haftungsprävention ist hinsichtlich ihrer Art und ihres Umfangs also nur teilweise mit der „Resthaftung“ im Haftungsfall vergleichbar. Die pauschalierende Wertung des Gesetzgebers, die da heißt: 20 % Beteiligung an den Finanzierungsbeiträgen im Haftungsfall für die „Resthaftung“ des Gesamtsystems (§ 167 Abs. 4 Satz 1 SGB V) ist nicht deckungsgleich mit einer Wer- tung des Satzungsgebers im Wege der Analogiebildung, die da heißt: 20 % Beteiligung an den Finanzierungsbeiträgen für die gesamte Haftungsprävention, als Gegenleistung für die „Resthaftung“ des Gesamtsystems allein in den Fällen der Hilfen zur Vereinigung von Kassen zur Abwendung von Haftungsrisiken. Hinsichtlich der Art ist zudem entscheidend, dass eine 20 % Beteiligung an den Beträgen zur Finanzierung der Haftungsprävention anders als ein Haftungsfall sachlich gestaltbar ist und durch entsprechende Mehrheiten im Verwaltungsrat des GKV-SV beschlossen werden kann. Die Wertung des Gesetzgebers ist somit auf den im Wege der Analogie zu regelnden Fall nicht ausreichend übertragbar. Die Analogie führt vielmehr zu einer unangemessenen Belastung geschlossener BKKn durch eine Beteiligung an der Finanzierung der gesamten Haftungsprävention.
Es bleibt also dabei, dass das Gesetz zur Frage der finanziellen Beteiligung geschlossener BKKn an der Finanzierung der Haftungsprävention nichts, aber auch gar nichts sagt. Die Analogiebildung ist nicht tragfähig und die Beteiligung geschlossener BKKn ist somit nicht zulässig.
Fazit ist also: Die Auflösung des darin bestehenden Konflikts, dass der Gesetzgeber einerseits das Institut der geschlossenen BKK mit prioritärer Arbeitgeberhaftung auch im FKG vom 20.03.2020 (BGBl. I S. 604) beibehalten hat (§§ 149 Abs. 2, 160 Abs. 2 SGB V), aber andererseits die bisherige vorrangige Haftung der Kassen der Kassenart gestrichen hat und stattdessen eine unmittelbare Beteiligung aller gesetzlichen Krankenkassen an der Haftungssystematik (§ 167 SGB V) sowie der Haftungsprävention (§ 164 Abs. 3 SGB V) vorsieht, ist vom Parlamentsgesetzgeber selbst zu treffen, zumindest dadurch, dass er den GKV-SV als Satzungsgeber zur Lösung dieses Konfliktes für die Legitimationszwecke ausreichend inhaltlich im Gesetz anleitet. Denn nur dann kann diese Entscheidung auf den demokratisch legitimierten Gesetzgeber zurückgeführt werden. Sachlich angezeigt ist es dabei, dem GKV-SV als Satzungsgeber vorzugeben, geschlossene BKKn von der Inanspruchnahme sowie der Mitfinanzierung der Haftungsprävention auszunehmen.