Gesundheit und Politik

Digitale Transformation muss gestaltet werden

Interview mit Prof. Jörg Debatin

Das deutsche Gesundheitssystem wird zukunftsfähig sein, wenn es die Potentiale der Digitalisierung zum Wohle der Patienten erschließt. Was geschieht, wenn wir in zwei Jahren zum Arzt gehen? Blättert er durch einen Stapel Karteikarten und sucht darin ein Blutbild? Oder greift er digital auf die Patientenakte zu – und hat alle Befunde, alle Untersuchungen auf einen Blick parat? Stellt er ein Rezept auf Papier aus? Oder ein elektronisches Rezept? Das deutsche Gesundheitssystem wird durch den raschen und radikalen Wandel der digitalen Kommunikation sein Beharrungsvermögen einbüßen. Schnell. Unumkehrbar. Wir werden die Zerschlagung von Wertschöpfungsketten und lukrativen Geschäftsmodellen sehen, weil die Handelnden im Gesundheitssystem völlig neue Rollen einnehmen, blitzschnell Wissen neu organisieren und neue Wertschöpfungsnetzwerke erschaffen. Mit Daten Gesundheit verbessern, Krankheitsverläufe exakt analysieren, bessere Therapiewege finden, schneller bessere Expertise an Patienten heranführen – welche Impulse konnte der Health Innovation Hub im Bundesgesundheitsministerium setzen, der planmäßig zum Jahresende 2021 seine Arbeit beendet hat? Wir konnten darüber mit dem Chef sprechen: Professor Jörg Debatin.

Portrait Prof. Jörg Debatin

Herr Professor Debatin, wir haben den Hub als besondere Schnittstelle erlebt, als Türöffner, mit einem Team, das spannende Horizonte gezeigt hat, wohin es gehen kann in einem digitalen Gesundheitssystem. Welche selbstgesetzten Ziele haben Sie erreicht?

Zunächst vielen Dank für diese freundliche Zusammenfassung unseres Wirkens. Digitalisierung ist kein Selbstzweck, sondern Mittel für eine bessere Gesundheitsversorgung. Dafür muss Digitalisierung bei den Menschen ankommen und sie muss so funktionieren, wie die Menschen das wollen. In den Dienst dieser Erwartungen müssen wir uns alle stellen: Das gilt für Ärztinnen und Ärzte genauso wie für alle anderen Therapeuten, das gilt für Krankenkassen und auch für die Politik. Insofern bin ich immer ein wenig verwundert, wenn etwa die Vertreterversammlung der niedergelassenen Ärzte Nabelschau betreibt und darüber klagt, wie schlimm es den Kassenärzten mit der Digitalisierung geht. Wir ertragen doch Digitalisierung nicht, sondern wir müssen sie gestalten im Interesse der Patientinnen und Patienten.

Alle Befragungen zeigen, dass die Menschen erwarten, dass wir digitale Technologien im Gesundheitswesen zu ihrem Wohle einsetzen. Die Akzeptanz ist doch auch überwältigend: Denken Sie an die Telesprechstunde oder auch die Corona-Warn-App. Die Deutschen sind während der Pandemie in ferne Länder gereist und haben es als selbstverständlich empfunden, dass die Corona-Warn-App international akzeptiert wurde und verifiziert werden konnte. Es gibt eine Akzeptanz für digitale Gesundheitsanwendungen, wenn diese leicht nutzbar sind.

Nun stehen wir in der klassischen Gesundheitsversorgung vor der Einführung von drei großen Anwendungen: Die elektronische Patientenakte, das digitale Rezept und die elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung. Der Gesetzgeber hat hier seine regulatorischen Hausaufgaben gemacht. Wir wissen, wie es gehen sollte, aber jetzt knirscht es an der Umsetzung. Es ist zu kurz gesprungen, zu sagen, das liegt an der Politik, denn die hat ihre Arbeit gemacht. Wir brauchen jetzt ein Zusammenspiel von gematik, der Industrie und den Leistungserbringern. Die müssen nun zusammenfinden und da empfehle ich mehr Kommunikation, mehr Austausch, um die für ein Industrieland wie Deutschland peinliche Umsetzungssituation nicht zu verlängern, daraus zu lernen, um die nächsten Schritte besser zu machen. Wenn wir wollen dass ePA, eRezept und eAU benutzt werden, muss der Nutzen für die Patienten erkennbar sein – aber eben auch für die Leistungserbringer darf der Einsatz nicht zu zusätzlichen Erschwernissen führen. Es muss einfacher werden, es muss schneller werden. Andererseits erwarte ich dann aber auch, dass sich bei der Umsetzung jeder einbringt.

Wir haben einen digitalen Alltag. Alle. Nur im Gesundheitswesen sind wir davon abgeschottet. Die Pandemie hat den Umstieg der Patienten auf digitale Werkzeuge erleichtert. Wir mussten uns nicht mehr in ein Wartezimmer setzen, um eine Krankschreibung zu bekommen. Sogar die Türen für den Kontakt zum Arzt über Telemedizin waren überraschend weit offen. Vieles wird inzwischen selbstverständlich genutzt – aber am Ende einer großartigen Zeit des Health Innovation Hub hören wir von den Ärzten etwas von der digitalen Hast. Reden wir über das ungewöhnliche Experiment, externe Experten mit Erfahrung und Netzwerk zeitlich befristet an den Staat zu binden, ihr Fachwissen punktuell verfügbar zu machen und mit dem Health Innovation Hub einen Gravitationspunkt zu schaffen, an dem schnelle Köpfe und viel digitales Wissen zusammenkommen zur gemeinsamen Debatte über geeignete und schnelle Wege in die digitale Unterstützung der Versorgung. Hat das funktioniert? Haben diese dreieinhab Jahre das gebracht, was Sie wollten – oder sehen Sie, dass die Kräfte der Beharrung in unserem Gesundheitssystem doch sehr, sehr stark sein können?

Hätten Sie mich vor dreieinhalb Jahren gefragt: Sehen wir am Ende dieser Strecke ein Deutschland, das sich comitted hat auf internationale Standards der Interoperabilität? Ich hätte geantwortet: Kann ich mir nicht vorstellen. Hätten Sie mich damals gefragt: Gibt es digitale Gesundheitsanwendungen, die App auf Rezept? Hätte ich mir kaum vorstellen können. Hätten Sie gefragt, wird es ein Datenforschungszentrum in Deutschland geben und die Möglichkeit, Daten auch zu spenden, wäre ich sehr skeptisch gewesen. Es sind sehr viele Dinge möglich geworden in diesen dreieinhalb Jahren. Das war engagierten Köpfen zu verdanken, Jens Spahn persönlich, aber auch seinem Gottfried Ludewig und Christian Klose. Wir konnten das ein Stück weit begleiten. Das war ein Experiment in der Struktur. Es spricht für den politischen Mut des Ministers zu sagen: „Das mache ich, auch wenn mir der Bundesrechnungshof hinterher womöglich auf die Finger klopft.“ Was hat also gut geklappt in dieser Struktur? Es war von vornherein klar, dass wir für die Zeit, auf die der HIH ausgelegt war, ausfinanziert sind. Ich musste also nirgendwo einen besonders positiven Eindruck hinterlassen, wir waren ausschließlich der Sache verpflichtet und haben uns dem Erfolg der digitalen Transformation verschrieben. Wir mussten uns nicht beliebt machen, in der Hoffnung, dass die Zeit nach der Wahl verlängert wird, denn es war klar, das wird nicht verlängert, egal wie die Wahl ausgeht. Das Zweite, das sehr besonders war, ist: Wir haben Leute auf Zeit aus ihren Berufen herausgeholt und dieses Wissen, die Erfahrung und die Netzwerke dem Staat zur Verfügung gestellt. Das halte ich für eine außerordentlich sinnvolle Übung. Wenn wir Bürger uns beklagen, dass der Staat einige Dinge nicht kann: Katastrophenhilfe nicht, Sirenen nicht, Abzug aus Afghanistan nicht, Digitalisierung nicht – dann werbe ich dafür, diese Struktur, diese Form der Interaktion von Wissensträgern und dem Staat auszuweiten. Deshalb werbe ich auch für eine Fortsetzung des HIH mit anderen Köpfen. Ich kann mir vorstellen, dass auch andere Ministerien eigene Themen mit vergleichbaren Konzepten begleiten können.

Abseits der Arztpraxen sind digitale Helfer längst im Alltag der Patienten angekommen. Viele – auch Senioren – nutzen Smartphone-Apps, die ihnen helfen, ihren Blutdruck oder Zucker besser zu kontrollieren. Sie waren mit dem hih vom ersten Tag an ein Scharnier zwischen diesen ersten Schritten in einen digitalen Alltag in der Medizin und einer trägen Umsetzung weiterer Möglichkeiten im politischen Betrieb. Harte Arbeit, Kreativität und Motivation haben Ihr Team ausgezeichnet: Sie haben in kurzer Zeit unterschiedliche kreative Köpfe mit unterschiedlichster Expertise aus Unternehmen, Verbänden und auch junge Gründer gesammelt, um den Hub zu einem Gravitationspunkt für digitales Wissen zu machen. Was konnten Sie mit diesem Team leisten in Bezug auf Erkenntnisgewinn, schnellen Kontakt zur digitalen Realität und auch durch Alternativen für alte Rituale wie etwa parlamentarischen Anhörungen mit den üblichen politischen Deals, die dort stattfinden. Das hat ja oft weniger damit zu tun, sich schnell Rat zu holen oder eine Situation so zu erfassen, um schnell handeln zu können. Welche Methoden, welche Blaupausen, welche Netzwerke bleiben von der Arbeit des HIH und was taugt als Impuls für eine neue Generation und einen neuen Minister?

Ich hatte die Gelegenheit, das unserem Bundeskanzler zu sagen, lange vor der Wahl und der Regierungsbildung und wir haben den Gedanken auch in die Parteien tragen können: Es reicht nicht aus, den Staat zu kritisieren. Der Staat sind wir alle und ich werbe dafür, sich in einer solchen Struktur wie dem Hub eine Zeitlang einzubringen. Es gehört auch Disruption dazu. Auch die Kraft zu hinterfragen, wieso machen wir ritualisierte Verbandsanhörungen, wenn sie in der Sache wenig bringen und kaum etwas verändern? Aber Disruption nutzt sich auch ab nach drei Jahren, deshalb ist es gut, in diesem Format mit neuen Köpfen anzutreten. Entweder zum gleichen Thema – oder man kann auf die Idee kommen, andere Themen voranzubringen: Nehmen wir das Thema molekulare Analytik. Wir alle wissen, dass wir uns mit dem Thema personalisierte Medizin intensiver beschäftigen müssen. Hier könnte eine Gruppe von Experten aus rechtlicher, medizinischer und unternehmerischer Perspektive gute Vorarbeit leisten, dem BMG Türen öffnen und Diskussionsgrundlagen schaffen. Aber es geht auch darum, die begonnenen Projekte wie die ePA jetzt in die Versorgung zu bringen und sich dafür etwas einfallen zu lassen. Da sehe ich auch eine Aufgabe für die Industrie, die erkennen muss, dass die Praxisverwaltungssysteme, die heute im Umlauf sind, in der Regel veraltet sind. Da brauchen wir eine neue Architektur, modulare Strukturen mit offenen Schnittstellen, so dass wir schneller Innovationen ankoppeln können. Deshalb werben wir, weil das nicht ohne Schmerz für den niedergelassenen Arzt ausgehen kann, für ein Praxiszukunftsgesetz in Analogie zum Krankenhauszukunftsgesetz, um die Kosten der Umstellung auf ein neues System ein Stück weit staatlich abzufedern. Das ist eine der Lehren, die ich aus der nicht ganz einfachen Implementierung von eAU, eRezept und ePA ziehen würde. Daran müssen wir arbeiten. In den Arztpraxen ist die Binnendigitalisierung schon weit fortgeschritten, aber diese Systeme sind konzipiert, um die Praxisorganisation und eine Abrechnung zu gewährleisten. Sie sind nicht konzipiert, um medizinische Daten zu managen und sie sind schon gar nicht dafür konzipiert, die Praxis zu vernetzen. Wir müssen durch schnittstellenfähige Systeme dazu kommen, dass innovative Ärztinnen und Ärzte ihre Chance sehen und sich aktiv einbringen. Ich mache mir keine Sorgen, auch wenn die DiGA Verschreibungszahlen derzeit noch niedrig sind. In den nächsten fünf Jahren wird die App auf Rezept Teil der selbstverständlichen Versorgungsrealität sein, ebenso wie Medikamente.

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