Wenn Fluten krank machen

Versunken im Ahrtal

Georg Stamelos, BKK-Landesverband NORDWEST, PD Dr. rer. nat. Jobst Augustin, Leiter FG Gesundheitsgeographie, Universitätsklinikum Hamburg Eppendorf (UKE)

Mit den 183 Opfern und den massiven Bauschäden hören die Folgen des Ahrtal-Hochwassers nicht auf. Die deutliche Zunahme an z.B. manisch-depressiven Erkrankungen und emotionalen Störungen von Kindern zeigt: Wir brauchen mehr Erkenntnisse über die vielfältigen Auswirkungen. Dieser Aufgabe hat sich eine Forschungsgruppe verschiedener Einrichtungen gewidmet. Auf Basis bundesweiter Abrechnungsdaten aus dem stationären und ambulanten Bereich hat der BKK-Landesverband NORDWEST die Wissenschaftler bei der Untersuchung der gesundheitlichen Folgen des Ahrtal-Hochwassers unterstützt.

Stiefel im Matsch

Mittwoch und Donnerstag, 14. und 15. Juli 2021. Irgendwann beginnt es zu regnen, hört nicht mehr auf. Das Wasser der Ahr steigt und steigt. An diesen zwei Tagen müssen die Menschen im Ahrtal ohnmächtig mit ansehen, wie die Flut nicht nur ihre Besitztümer mit sich reißt, sondern auch das Leben von Angehörigen, Freunden und Nachbarn. Die Folgen von Hochwasserereignissen sind vielfältig und betreffen neben der Zerstörung von Wohnraum und technischer Infrastruktur vor allem auch die Gesundheit. Neben unmittelbar sichtbarer, akuter gesundheitlicher Versehrtheit treten langfristige Folgen wie psychische Schädigungen oder posttraumatische Belastungsstörungen auf.

Zahlreiche Studien weisen den Zusammenhang von Hochwasserereignissen mit deutlichen Belastungen für die psychische Gesundheit nach: vom erhöhten Risiko für Schlafstörungen bis hin zu posttrau-matischen Störungen.

Internationale Studien: Was wir schon wissen

Die meisten Todesfälle bei Hochwasserereignissen geschehen, wenn die Opfer durch die einbrechenden Wassermassen ertrinken. Häufig kommt es zu Verletzungen auf der Flucht oder während der Evakuierungsmaßnahmen. Durch Aufräumarbeiten können sich die Menschen auch zu einem späteren Zeitpunkt verletzen. In der Folge besteht ein hohes Risiko durch Infektionskrankheiten. Ihr Risiko ist aufgrund der resilienteren Infrastruktur im globalen Norden, wie beispielweise im europäischen Raum, geringer als im globalen Süden.

Ein Anstieg von Durchfallerkrankungen wurde aber auch nach Überflutungen in den USA und im Vereinigten Königreich beobachtet [1-3]. Zahlreiche Studien [4-7] konnten den Zusammenhang von Hochwasserereignissen mit deutlichen Belastungen für die psychische Gesundheit nachweisen. Eine englische Untersuchung etwa wies auf ein zweifach erhöhtes Risiko für Schlafstörungen hin, allgemeinen psychischen Stress und Symptome einer posttraumatischen Störung [1, 8].

Langfristig bestehende hohe psychische Belastung in Form von posttraumatischen Störungen, Ängsten, Depressionen sowie Suizidgedanken konnten noch 6 Monate nach einem Hochwasserereignis in New South Wales, Australien, festgestellt werden. Die psychischen Folgen sind aber nicht bei allen Betroffenen gleich und unterscheiden sich im Schweregrad, je nach Lebenserfahrung und Wahrnehmung der Ereignisse. Alter und Geschlecht spielen ebenfalls eine Rolle.

Ahrtal unter Wasser

Der Tod durch Ertrinken, die Unterkühlung, aber auch der Verlust von Gesundheitspersonal durch Tod oder die Zerstörung wichtiger Gesundheitsinfrastruktur trafen die Bevölkerung im Ahrtal sofort. Tage und Wochen dauerte es, das Ausmaß durch infizierte Wunden und Vergiftungen durch Schadstoffe im Wasser festzustellen. Langfristige Folgen durch chronische Krankheiten und Behinderungen machen sich dagegen erst nach Monaten und Jahren bemerkbar.

Schaden in Zahlen

Doch die Aufzählung der Opfer und der materiellen Schäden macht das schreckliche Ausmaß der Katastrophe sichtbar: Das Ahrtal-Hochwasser im Juli 2021 forderte in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz 183 Todesopfer und über 750 Verletzte. Durch die Beschädigung von 4 Kliniken, über 100 Arztpraxen, mehr als 60 Apotheken und zahlreichen Pflegeeinrichtungen wurde die Gesundheitsversorgung erheblich eingeschränkt. Bislang ist unklar, welche Folgen das Hochwasserereignis für die Gesundheit der Bevölkerung insgesamt hat.

Wie nähert man sich einem solch komplexen Geschehen wissenschaftlich und mit der nötigen Distanz an? Die Forschergruppe entschied sich, für die Studie auf Routinedaten der Betriebskrankenkassen zurückzugreifen und räumliche wie zeitliche Auswirkungen des Ahrtal-Hochwassers mit der Gesundheit der Bevölkerung zu analysieren. Die Erhebung beobachtet rückblickend zwei Vergleichszeiträume. Dabei sollen folgende Fragen beantwortet werden:

  1. Wie haben sich die ambulant und stationär gestellten Diagnosen im 3. Quartal 2021 im Vergleich zum Referenzzeitraum 3. Quartal 2020 hinsichtlich ihrer Häufigkeit in der Ahrtal-Region verändert?
  2. Wie unterscheiden sich mögliche Veränderungen der Diagnosehäufigkeit von der allgemeinen Entwicklung in Deutschland?

Wir sehen im Quartals-Vergleich eine signifikante Zu­nahme der „Schizoaffektiven Störungen“ und „Emotionalen Störungen des Kindesalters“.

Insgesamt sind etwa 11,08 Millionen Menschen in Deutschland in einer Betriebskrankenkasse versichert, darunter etwa 3,08 Millionen über Mitgliedskassen des BKK-Landesverbandes NORDWEST. Der hier verwendete Datensatz beinhaltet 10,95 Millionen gesetzlich Versicherte (Stichtag: 01.07.2021). Davon lebten 132.561 in der untersuchten Region und 10,82 Millionen in der Vergleichsregion (Deutschland ohne Ahrtal). Die Vergleichsgruppe „Deutschland ohne das Ahrtal“ stellt sicher, dass die Veränderungsraten im Ahrtal in einem Zusammenhang mit den Hochwasserereignissen stehen.

Untersuchungszeitraum ist das Quartal 3 (Q3) des Jahres 2021. Es erstreckt sich über den Zeitpunkt der Flutkatastrophe (14.07.2021) und einen Folgezeitraum von etwa 11 Wochen. Diese Zeitspanne wird mit demselben Quartal des vorherigen Jahres 2020 als Referenzzeitraum verglichen.

Auf eine Ausweitung des Referenzzeitraums, beispielsweise über mehrere Jahre und Quartale haben die Studienautoren aus methodischen Gründen verzichtet. Faktoren wie Ungenauigkeiten bei der Verwendung eventueller Durchschnittswerte sowie der Einfluss der Coronapandemie auf Verhaltensweisen und die Inanspruchnahme von Hilfsleistungen sollen so vermieden werden. Die Daten liegen in Form der Anzahl abgerechneter Fälle mit der jeweiligen ICD-10-Diagnose vor.

Detaillierte Ergebnisse

Die Diagnosen wurden nach der internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD-10) für ambulante und stationäre Fälle getrennt untersucht. Alle Fallzahlen der Untersuchungsregion werden mit Hilfe der übermittelten ICD-10-Diagnosen auf Veränderungen zwischen den Vergleichsquartalen überprüft. Für die hierbei auffälligen Diagnosen wurden sogenannte Prävalenzraten gebildet. Grundlegende Größe waren die jeweiligen Gesamtfallzahlen stationärer oder ambulanter Diagnosen für das jeweilige Quartal.

Stationäre Diagnosen

Für den stationären Bereich wurden 17 Diagnosen identifiziert, die im Ahrtal zugenommen und im übrigen Deutschland abgenommen haben bzw. unverändert geblieben sind. Die Ergebnisse zeigen im stationären Bereich eine markante Zunahme abgerechneter Leistungen in einigen Diagnosegruppen gegenüber dem Vorjahr. Verzeichnet wurden insbesondere Zunahmen bestimmter F-Diagnosen (psychische und Verhaltensstörungen) und S-Diagnosen (Verletzungen) sowie verschiedener Diagnoseschlüssel „Bei den stationären Fällen sehen wir im Quartals-Vergleich eine jeweils signifikante Zunahme der Krankenhausfälle bei den „Schizoaffektiven Störungen“ oder „Emotionalen Störungen des Kindesalters““, erklärt Dr. Jobst Augustin, Leiter FG Gesundheitsgeographie am Universitätsklinikum Hamburg Eppendorf (UKE).

„Doch wenngleich die Veränderungen deutlich in Erscheinung treten, sind die Fallzahlen insgesamt relativ gering. Außerdem müssen wir letztlich immer die Frage nach der Kausalität stellen. Denn wir wissen beispielsweise nichts darüber, ob die Erkrankungen bereits vorher existierten und ‚nur‘ durch das Ereignis noch einmal aufgetreten sind“, schränkt Augustin ein.

Betrachtet man den Untersuchungszeitraum gesondert, zeigen sich Auffälligkeiten im Zusammenhang von Schwangerschaft und Geburt. So traten vermehrt Schwangerschaften auf, die länger als 42 Schwangerschafts-Wochen (Übertragene Schwangerschaften) andauerten. Auch nahmen im Vergleich mit dem restlichen Deutschland im Ahrtal Spontangeburten einzelner Kinder (Einling) ab. Die Geburt von Einlingen durch Kaiserschnittentbindung hat sowohl im Ahrtal als auch bundesweit zugenommen. Die Rate für Kaiserschnittentbindungen stieg von 23,2 Prozent in Q3 2020 auf 35,4 Prozent in Q3 2021, im Rest Deutschlands von 16,8 Prozent auf 17,4 Prozent.

Ambulante Diagnosen

Auch im ambulanten Sektor gibt es Auffälligkeiten bei Schwangerschaften. Hier zeigte sich eine leichte Zunahme übertragener Schwangerschaften. Die Studienautoren vermuten, die Hochwasserkatastrophe habe in diesen Fällen dazu geführt, dass der Gang zum Arzt verschoben oder komplett abgesagt und entsprechend keine Leistung in Anspruch genommen wurde.

Die Annahme, dass die medizinische Vorstellung bei leichteren Erkrankungen und Routineuntersuchungen verschoben wurde und schwerwiegendere Fälle zugenommen haben, werde damit unterstützt, so Dr. Jobst Augustin. Dazu kommt, dass die ambulante Versorgung zum einen durch direkte Schäden an Praxen und medizinischen Versorgungszentren, zum anderen durch logistische Schwierigkeiten, etwa durch Beschädigung von Straßen sowie privaten und öffentlichen Verkehrsmitteln, beeinträchtigt war. Dadurch war das Aufsuchen der ambulanten Versorgung mit höheren Hürden verbunden.

Bei einigen ambulanten Diagnosen im Untersuchungszeitraum zeigte sich zwischen den Quartalen eine Zunahme. Dazu zählen unter anderem Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen (ICD-10 F43; PRR 0,94), sonstige Komplikationen bei chirurgischen Eingriffen und medizinischen Behandlungen (ICD-10 T88; PRR 0,81) oder auch, wie schon im stationären Sektor, spezielle Verfahren zur Untersuchung auf infektiöse und parasitäre Krankheiten (ICD-10 Z11; PRR 0,72). Eine Abnahme zeigte sich beispielsweise bei den Z-Diagnosen wie speziellen Verfahren zur Untersuchung auf Neubildungen (ICD-10 Z12; PRR 1,21) oder sonstigen medizinischen Behandlungen (ICD-10 Z51; PRR 1,18).

Erkenntnisgewinn

Die Vielzahl der Diagnosen und Faktoren lässt zwar keine abgeschlossene und eindeutige Interpretation zu. Dennoch konnten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit ihrer Analyse wesentliche Erkenntnisse zu den Auswirkungen des Hochwassers auf die gesundheitliche Entwicklung in der Ahrtalregion gewinnen. Die Studie hat eine Leistungsverlagerung vom ambulanten zum stationären Sektor sowie die Zunahme bestimmter Diagnosen im Bereich psychischer und anderer Verhaltensstörungen aufgezeigt. Ebenso von Interesse sind die aufgetretenen Verletzungen sowie verschiedene Diagnoseschlüssel, die Faktoren beschreiben, welche den Gesundheitszustand beeinflussen und zu einer Beanspruchung des Gesundheitswesens führen. Das erhöhte Aufkommen stationärer Leistungen betrifft sowohl somatische Akutdiagnosen wie Oberschenkelbrüche und -verletzungen als auch notwendige Untersuchungen, um Verdachtsdiagnosen auszuschließen. Dies sind typische und direkte gesundheitliche Folgen von Hochwasserereignissen.

Auffallend sind auch vielseitige psychische Belastungsreaktionen wie emotionale Störungen bei Kindern oder komplexe psychische Erkrankungen wie schizoaffektive Störungen. Diese Ergebnisse passen zu Berichten, die einen erheblichen psychologischen und psychiatrischen Versorgungsbedarf bei von der Flut Betroffenen zeigen [9], etwa jener vom ad hoc eingerichteten Traumahilfezentrum Ahrtal [10].

Neben den somatischen Akutdiagnosen zählen die psychischen Belastungen zu den besonders häufigen Folgen von Hochwasserereignissen (z.B. [11], [12], [4], [13]). Zusätzlich könnte auch die gesteigerte Rate von Kaiserschnittentbindungen eine Folge der psychischen Belastung in der Region sein, worauf beispielsweise die Studie von Ko [14] hindeutet. Zu langfristigen psychischen Folgen liefert die vorliegende Studie aufgrund des begrenzten Untersuchungszeitraums keine Daten. In Bezug auf beispielsweise die posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) werden jedoch 4000 Betroffene in der Ahrtal-Region geschätzt, mit erheblichen Versorgungsengpässen [15].

Die Ergebnisse der Studie deuten darauf hin, dass vor allem die mentale Gesundheit der lokalen Bevölkerung und die Gesundheitsversorgung insgesamt (sektorspezifische Inanspruchnahme) vom Hochwasser beeinträchtigt wurden. Da Hochwasserereignisse zukünftig häufiger und stärker werden können, müssen die Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung und Gesundheitsinfrastruktur entsprechend angepasst werden.

Mehr Wissen bedeutet bessere Vorbeugung und Nachsorge

Wie bereits beschrieben unterliegt die vorliegende Studie Einschränkungen. Nicht jede Diagnose muss in einem kausalen Zusammenhang zum Hochwasser stehen. Die Forschergruppe geht jedoch davon aus, dass die Auswirkungen der Flutkatastrophe in dieser Studie unterschätzt werden, da die Untersuchungsregion aus Datenschutzgründen (Berücksichtigung ausreichend hoher Fallzahlen) und aufgrund der Mitversorgung durch die umliegenden Regionen sehr weit gefasst werden musste. Dadurch sind nicht direkt betroffene Regionen ebenfalls eingeschlossen. Die alleinige Betrachtung der Veränderung von Diagnosehäufigkeiten kann Fehlinterpretationen in Zusammenhang mit dem Hochwasserereignis nicht vollends ausschließen.

Darüber hinaus können keine Aussagen darüber getroffen werden, ob es zu einer dauerhaften Leistungsverlagerung zwischen den Sektoren gekommen ist, oder außerhalb der Hochwasserregion vermehrt Leistungen in Anspruch genommen wurden. Ferner kann die Studie keine Aussagen darüber treffen, ob bestimmte vulnerable Gruppen, etwa hinsichtlich Vorerkrankungen, Alter und Geschlechtszugehörigkeit, besonders schwer von den gesundheitlichen Auswirkungen des Hochwassers betroffen waren. „Dieser Artikel ist in Deutschland unserem Wissen nach der Erste seiner Art. Insofern kann er nur als „Ausgangspunkt“ für das Thema angesehen werden.

In Planung ist eine gesundheitsökonomische Bewertung des Ahrtal-Hochwassers, um die aus solch einem Ereignis entstehenden Kosten, unter anderen für das Gesundheitssystem, beziffern zu können“, so Dr. Augustin. Um Vergleiche zu ermöglichen, die in konkreten Maßnahmen zur Reduzierung der gesundheitlichen Auswirkungen solch dramatischer Klimaereignisse münden, empfehlen die Studienautorinnen und -autoren daher dringend weitere Untersuchungen zu anderen Hochwasserkatastrophen und deren Konsequenzen für die Gesundheit.

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