Das Elfte Sozialgesetzbuch (SGB XI) enthält die Vorschriften für die Soziale Pflegeversicherung in Deutschland und bildet also die Grundlage der Finanzierung von langfristig auftretenden Pflegebedürfnissen in der stationären und ambulanten Pflege. Ist das so?
Krankenhausreform, Notfallreform, Digitalisierungsstrategie, Versorgungsgesetze: Die Gesundheitspolitiker der Ampelkoalition bereiten gerade eine große Reformoffensive für das Gesundheitswesen vor. Fast fünf Millionen Menschen in Deutschland sind auf Pflege angewiesen. Schau’n wir uns in der eigenen Familie um, sehen wir sie: Bei manchem sind es die Großeltern oder Eltern, die Partner, manchmal auch Geschwister, manchmal reicht der Blick in den Spiegel.
Der Alptraum der alternden Gesellschaft ist, dass Pflegebedürftige und ihre Angehörigen in finanzielle Schwierigkeiten geraten oder gar in Armut fallen. Die Bundesregierung hat mit einer Pflegereform reagiert. Reicht das aus? Expertinnen und Experten aus dem Think Thank des Instituts für Pflege, Altern und Gesundheit fordern grundsätzliche Veränderungen. Die Professorin für Gesundheits- und Pflegewissenschaften sowie Digitalisierung in der Pflege an der Ostfalia Hochschule, Martina Hasseler hat das Care Share 13 Papier mitentwickelt. Auf ihrem LinkedIn-Account schreibt sie: „Wir fordern die Abschaffung des SGB XI, eine Entkernung des SGB V und ein neues Gesundheitsrecht, das Care Share 13, unter Integration und Weiterentwicklung der Pflegefachberufe.“
Fachpflege und Medizin sollen ein Tandem bilden. Fachärztliche, therapeutische und fachpflegerische Versorgung werden entsprechend der patient journeys auf den Therapiepfaden in Chronic-Care-Modulen an die Tandems angedockt. An welchen Schrauben der Versorgung dringend zu drehen wäre, welche Innovationen aus dem Gesundheitswesen und insbesondere aus der Pflege selbst kommen können – darüber haben wir mit Professorin Martina Hasseler gesprochen.
INTERVIEW: SGB XI: NEUSTART MIT CARE SHARE 13?
Die Pflegeversicherung ist ein Irrtum. Das schreiben die Autorinnen und Autoren des Care Share 13 Papiers. Denn das SGB XI finanziert keine ausreichende berufliche Pflege. Stattdessen stellt das Gesetzbuch zur Sozialen Pflegeversicherung die Angehörigen in die erste Reihe – und eben nicht eine professionelle medizinisch-pflegerisch-therapeutische Infrastruktur. Welche Folgen hat das?
Ich kritisiere das SGB XI seit längerem grundsätzlich auf der System- und Strukturebene. Da steht zwar Pflege auf dem Titel, aber es meint nicht die berufliche Pflege, die unter einem solchen Titel erwartet wird. Das Bild, das die Pflegeversicherung prägt, ist in den Männerrunden der Politik in den 1990er Jahren entstanden. Irgendeine Frau bleibt schon zuhause – an diesem Gedanken ist die ganze Gesetzgebung ausgerichtet. Die Pflegeversicherung nach dem SGB XI ist eine Hilfeleistung, gedacht als Unterstützung pflegender Angehöriger – also meistens Frauen. Die Pflegeversicherung ist nicht ein gesetzlicher Rahmen, um eine bedarfsangemessene, professionelle pflegerische Versorgung von Menschen zu bezahlen. Bezahlt wird, was in australischen Studien als basale Hilfeleistung beschrieben wird, das Notwendigste, nicht mehr.
Die berufliche Fachpflege ist aber weit mehr als nur basale Hilfeleistung, doch das wird in Deutschland nach knapp 30 Jahren Finanzierung der Angehörigenpflege ohne Refinanzierung pflegefachlicher Aufgaben nicht mehr gesehen. Würde der Pflegeberuf als professioneller Heilberuf gesehen, wäre er im aktuellen Gesundheitssystem dem Wert entsprechend verankert. Das ist er aber genauso wenig wie in vielen anderen Gremien. In der Struktur des G-BA haben weder Pflegefachpersonen noch Therapeutinnen und Therapeuten anderer Gesundheitsberufe einen festen Platz mit Antrags- und Mitberatungsrecht. Wenn wir uns das System ansehen, das modern im Sinne von Berufsgruppen auf Augenhöhe versorgen will, und dann aber sehen, dass Pflegefachpersonen zwar ausgebildet werden, um ihre berufliche Qualifikation nachzuweisen, aber dann im System überhaupt nicht systemrelevant verankert sind und dementsprechend auch nicht gemäß ihres Berufes arbeiten können, dann hat das „Wollen“ der Politik mit dem „Können“ der Pflege nichts zu tun. Damit sich Wollen und Können nachhaltig ergänzen, bräuchte es vor allem bei den Entscheidungsträgern ein zeitgemäßes Verständnis des Pflegeberufes und der interprofessionellen Systemausrichtung.
Hat die Politik, die mit Reformvorschlägen versucht, den beschriebenen Zustand zu heilen, den Systemfehler wirklich verstanden? Eigentlich finden wir den Fehler in einem anderen Sozialgesetzbuch, dem SGB V, das durchdrungen ist vom Arztvorbehalt. Das Sozialgesetzbuch, das fast alle Bestimmungen zur gesetzlichen Krankenversicherung in Deutschland zusammenfasst, regelt präzise, dass für eine versicherte Person im Krankheitsfall die gesetzliche Krankenkasse den Arztbesuch bezahlt, das ärztlich verordnete Medikament, die Diagnose und Operation durch Ärztinnen und Ärzte im Krankenhaus, die ärztlich verordnete Pflege und die ärztlich verordnete Physiotherapie. Die ärztliche Leistung wird bezahlt, die Pflege ist ein Kostenfaktor. Also nochmal: versteht die Politik den Systemfehler?
Wir bemerken in der aktuellen Debatte um die Krankenhausreform, dass die Politik wirklich glaubt, die vorhandenen gesetzlichen Regelungen finanzieren professionelle Pflege. Der Bundesgesundheitsminister sagt: Wir müssen die Level 1i Häuser so ausrichten, damit wir die Pflegeberufe nicht verlieren im Level 1i. Das zeigt mir, dass die politisch Verantwortlichen wirklich glauben, dass sie im SGB XI pflegerische Versorgung finanzieren.
Und weil das so ist, ist es auch kein Wunder, dass die Pflegeberufe in Deutschland in diesem desolaten Zustand sind. Das SGB XI mit seinem Versorgungsprofil hat uns in eine beispiellose Deprofessionalisierung des Pflegeberufs in Deutschland geführt, denn mit dem SGB XI wird das Kompetenzprofil der beruflich Pflegenden auf die Stufe mit den pflegenden Angehörigen gestellt, entweder Pflegegeld oder Pflegedienst bzw. wenn die Mutter oder Tochter es nicht alleine schafft, kommt der Pflegedienst dazu. Der fatale Satz „Pflegen kann jeder“ prägt das reduzierte öffentliche Bild der beruflichen Fachpflege. Dazu beigetragen hat das SGB XI, das im Kern darauf setzt, dass zunächst Angehörige die Pflege im häuslichen Umfeld in Eigenleistung übernehmen. Hierbei handelt es sich aber um basale Unterstützungshilfe beim Essen, Waschen, Ankleiden und Hauswirtschaft. Könnte „jeder pflegen“, wofür bräuchten wir dann überhaupt eine Berufsausbildung? Beruflich Pflegende können ihre in der Ausbildung erworbenen Kompetenzen schon nicht nach dem SGB XI adäquat einsetzen, weil das SGB XI nur Grundpflege finanziert.
Eine weitere Beschneidung der Kompetenz kommt durch das SGB V mit dem Arztvorbehalt. Bestens ausgebildete Pflegeprofis werden an der Ausübung ihres Berufes gehindert. Denn über die Notwendigkeit einer pflegerischen Unterstützung im Therapieverlauf entscheidet niemals die Pflegefachperson, sondern ein Arzt ambulant als auch stationär. Die berufliche Pflege in Deutschland ist für die politischen Entscheidungsträger keine relevante Profession in der Gesundheitsversorgung, wenn diese Rahmenbedingungen bestehen.
Diese wirkmächtige Vermengung und Gleichsetzung der beruflichen Fachpflege mit der Angehörigenpflege – so schreiben es die Autorinnen und Autoren des Care Share 13 Papiers – führt zu drei problematischen Zuständen. Ich zitiere aus dem Positionspapier: Erstens zur Deprofessionalisierung der Fachpflege, zweitens zur dauerhaften Überforderung der pflegenden Angehörigen und drittens zum Rückzug der Kommunen aus der Altenpflege. Reden wir über die Gruppe, die feststellt und es deutlich ausspricht: „Pflegeversicherung gemäß SGB XI ist im Sinne eines systematischen Neuansatzes nicht reformierbar und nicht zukunftsfähig.“ Wer ist da zusammengekommen unter dem Dach des, des Instituts Pflege, Altern und Gesundheit?
Das IPAG e.V. war kurz vor der Corona Pandemie ursprünglich als Institut gedacht, das an eine Hochschule in Berlin angebunden werden sollte, was dann aber so nicht realisiert werden konnte. Melanie Philip von den Pflegepionieren hat dann einen zweiten Anlauf genommen und im Versorgungssystem Engagierte und Interessierte neu zusammengebracht. Im Kern haben wir im Expertenrat Menschen versammelt, die es gewohnt sind, out-of-the-box zu denken – deren Denken auch nicht an den Grenzen der Sozialgesetzbücher halt macht. Wir haben einfache Fragen gestellt: Warum ist unser Pflegesystem so rückwärtsgewandt? Warum werden Pflegeberufe nicht in das System integriert? Was ist der Grund dafür, dass Pflegeberufe keine eigene Versorgung durchführen? Was hat in anderen Ländern dazu geführt, dass Pflegeberufe an der Gesundheitsversorgung teilhaben können?
In Deutschland müssen wir an Gesetzen arbeiten, die im Grunde der Reichsversicherungsordnung entstammen. Bismarck wollte die Revolte verhindern und Arbeitskraft sichern. Deshalb wurde der Arzt als Entscheider über gesund und krank die Leitfigur im deutschen Gesundheitssystem, getragen durch die sich entwickelnde Schulmedizin. Es sind ja viele Dinge parallel zur Professionalisierung der Medizin gelaufen, die sich zunächst im ambulanten Bereich entwickelte erst viel später im Krankenhaus. In den 1920er Jahren sind Selbstverwaltungen, eingeführt worden, die das System geprägt haben – und damit wurde entschieden, wer gestaltend dabei war, nämlich nur Berufsgruppen, die über Selbstverwaltungsorgane vertreten waren. In steuerfinanzierten Ländern mit regionaler Versorgungsorganisation wurden andere Berufe schon früh in das System integriert wie vor allen in den sogenannten Beveridge-Systemen wie Großbritannien und Skandinavien.
Wenn man versteht, wie ein System strukturell aufgesetzt ist und funktioniert, aus welchen politischen Traditionen die Zusammenhänge aufgebaut sind, dann erklären sich vergangene Entwicklungen. Im Mindset des deutschen Systems, in dem auch Politikerinnen und Politiker gefangen sind, sehen wir: Die stecken alle noch um 1900 fest, denn statt interprofessioneller rechtsstruktureller Verankerung bleibt der Arzt die zentrale Organisationsfigur. Und erschwerend hinzu kommt die krude Konstruktion des SGB XI unter dem Titel „Pflegeversicherung“. Es wird eben noch immer nicht verstanden, dass das SGB XI mit limitierten Leistungen den Ersatz der Angehörigenpflege regelt. Also Waschen und alles, was nach dem Rahmenvertrag gezahlt wird. Das ist nicht Pflege im professionellen Sinne. Wenn das Pflege wäre, müssten wir ganz schnell auf den Pflegeberuf als Ausbildungsberuf verzichten.
Ohne das Engagement von Angehörigen und von Pflegekräften aus dem Ausland würde das Pflegesystem hierzulande kollabieren.
In diesem Jahr schließt der erste Jahrgang die generalisierte Pflegeausbildung ab. Die Generalistik bereitet Ihnen als Wissenschaftlerin von Anbeginn der Debatte Kopfzerbrechen. Wie ist die Studienlage? Bilden die Studien ab, dass der Pflegeberuf attraktiver werden kann?
Wenn man sich international nach den Pflegequalifikationen umschaut und dies mit der generalistischen Pflegeausbildung in Deutschland vergleicht, weiß man: Dadurch wird der Beruf nicht attraktiver. Denn es ist international so, dass Pflege ein Studiengang ist, ein professioneller Beruf, in dem Aufgaben autonom umgesetzt werden. Das macht Pflege attraktiv. Auch die behauptete Absicht, in der generalistischen Ausbildung die Altenpflege anspruchsvoller zu machen, bleibt aus. Die Studien weisen nach, dass gerontologische Pflege unter der Generalistik leidet. Einige Studien der 10er Jahre zeigen uns das: In der Generalistik muss man Inhalte kappen und das geschieht häufig an Lehrinhalten der gerontologischen Pflege. Die pädiatrische Pflege leidet genauso, aber auch die Gesundheits- und Krankenpflege kann nicht mehr alle Lehrinhalte unterbringen, die notwendig wären. Das ist nicht nur ein Problem des Curriculums. Ich konnte in Studien nachweisen, dass weniger Interessierte in der Altenpflege ankommen werden, weil das Krankenhaus den interessanteren Aufgabenbereich hat und deshalb der attraktivere Arbeitsplatz ist.
Ein Expertenrat des Instituts für Pflege, Altern und Gesundheit e.V. (IPAG e.V.) hat ein Konzeptpapier vorgelegt „für ein zeitgemäßes Gesundheitssystem“. Das Konzept Care Share 13 zielt darauf ab, die Gesundheitsversorgung menschenzentriert, interprofessionell und regional auszurichten. Kernelement ist dabei ein neu zu schaffendes Sozialgesetzbuch 13 (SGB XIII), in dem die Gesundheitsversorgungsleistungen der bestehenden Sozialgesetzbücher im Sinne der „modernen, integriert-interprofessionellen Care Share Versorgung barrierefrei, evidenzbasiert und unter Berücksichtigung neuer Vergütungsmixe zusammengeführt“ werden.
Zusätzlich sollen über neue moderne Berufsgesetze erstmals die Leistungen der beruflichen Fachpflege abgebildet und kodifiziert werden. Die Verwirklichung des Care Share Gesundheitssystems erfordere eine „tiefgreifende Transformation“. Bestehende, „mächtige“ Rechtsregeln seien aufzugeben und ein zukunftsorientiertes, bürokratisch barrierefreies Gesundheitsrecht zu entwickeln.
Mit dieser Studienlage aus den 10er Jahren sind Sie dann 2012 gegen die Wand gelaufen, bei dem Versuch, im Ministerium den Unterschied zwischen Altenpflege und Krankenhausversorgung zu erklären. Wie war das?
Ich habe an einem simplen Beispiel diesen Unterschied erklärt und zwar in dem Bereich, in dem ich mich am besten auskenne, der Neurochirurgie. Und der hochbezahlte Ministerialbeamte antwortete mir: „Frau Hasseler, das muss eine Krankenschwester nicht wissen.“ Und als ich fragte, warum dies eine Pflegefachkraft nicht wissen müsse, kam die Antwort: „Das macht der Arzt“.
Wenn wir uns in den angelsächsischen und skandinavischen Ländern umsehen, sehen wir schnell, wie es anders gehen kann. Welche Qualifikation braucht Pflege?
International sind die Gesundheitssysteme einen anderen Weg gegangen: Ein Studium als primärqualifizierende Ausbildung in der Pflege, das im Gesundheitssystem integriert ist und den Absolventen autonomes Arbeiten erlaubt. Es gibt keine berufliche Pflegeausbildung mehr in den meisten Ländern. Vielfach gibt es die Pflegeassistenz oder so eine Art Pflegehelfer, die aber den akademisierten Pflegeberufen nachgestellt sind. Wenn ich darüber mit Politikerinnen und Politikern in Deutschland rede, wenden die ein: aber wir brauchen doch die Masse. Damit meinen sie einfach, sie brauchen Menschen, die irgendwie arbeiten in diesem Bereich aber die nichts können müssen und nicht mitdenken müssen. Es will in diesem Land nicht verstanden werden, dass man den Pflegeberuf damit abwertet, und das aus einem einfachen Grund: Man will dieses alte System in Deutschland erhalten, das mit keiner Reform zu reformieren ist, die nicht die Systemtektonik vor allem des SGB V und SGB XI betrifft. Und es ist interessant, dass wir, wenn wir dies feststellen, betonen müssen: Wir machen jetzt keine Arztschelte.
Das Care Share 13 Papier setzt an dem strategischen Gedanken der Finanzierung an und stellt die Frage: Wie sind die Leistungsanreize gesetzt? Weshalb markiert das den Unterschied zwischen dem deutschen und den internationalen Systemen?
Jedes System hat seine Geschichte und auch seine heutigen Herausforderungen damit. Das deutsche System ist strukturell und prozessual auf den Arzt fixiert und das bildet sich auch in den Vergütungsstrukturen ab. Der Arzt erlöst, die Pflege kostet – die Auswirkung im Krankenhaus kennen wir. Da die Fachpflege in Deutschland keine Kodiersprache hat, wie es in anderen Ländern mit NANDA, NIC, NOC etc. üblich ist, können die fachpflegerischen Leistungen auch nicht adäquat erfasst und abgebildet werden und finden somit auch keinen adäquaten Eingang in die Entgeltsysteme. Pflegepersonalschlüssel als auch Unter- und Obergrenzen bleiben immer Schattenboxen, solange der Wissens- und Leistungskörper der Fachpflege nicht datengestützt erfasst und weder leistungsrechtlich noch honorartechnisch konkret bewertet werden kann. Vor diesem Hintergrund ist es egal, ob wir über Beitrags- oder Steuerfinanzierung sprechen, solange wir gar nicht wissen, wer die Fachpflege eigentlich ist und was sie macht. In anderen Ländern hat die Fachpflege ein Berufs- und Leistungsrecht, in Deutschland nicht.
Die Interprofessionalität ist ein wesentliches strategisches Ziel des Care Share 13 Papiers. Warum ist das insbesondere für einige Funktionäre der Ärzteschaft sofort ein Angriff auf die eigene Zunft?
Im Grunde finanzieren wir in Deutschland die Diagnostik und Krankheitstherapie. Der für die Patienten und Patientinnen gesamte Versorgungsprozess interessiert bei dieser Sichtweise nicht und wird auch nicht adäquat vergütet. Die ärztliche Leistung ist eine auf Pathogenese gerichtete: der notwendige Reparatureingriff. Wie dann die Patientinnen und Patienten wieder auf die Beine kommen bzw. wie vor allem chronisch Kranke über Jahre und Jahrzehnte mit ihrer Erkrankung und daraus resultierenden Funktionseinschränkungen leben können, ist Aufgabe der sogenannten „nicht-ärztlichen“ Heilberufe, die salutogenetisch arbeiten.
Unser Gesundheitssystem ist auf dem salutogenetischen Auge blind, solange es arztzentriert bleibt. Wir wissen gar nicht genau, was die Bedarfe der Gesundheitsversorgung sind. Neben vielen anderen Dingen, die ich mache, erstelle ich auch Gutachten für Sozialgerichte. Und wenn ich dann die Entlassungsberichte der Ärztinnen und Ärzte lese, denke ich: nice to know, was interessiert mich die 35. Diagnose, wenn ich nicht weiß, welcher Versorgungsbedarf sich daraus ergibt. Wenn Patienten aus dem Krankenhaus nach Hause entlassen werden, könnte ich bei Hausbesuchen so viel entdecken, um den Bedarf zu formulieren, wenn ich das dürfte. Darf ich aber nicht. In unserem System muss ich erst zu einem Arzt gehen, der sagt: Die Häusliche Krankenpflege sieht dies und das nicht vor, Gesundheitsförderung auch nicht, dann schau’n wir mal, ob wir was verordnen können.
In diesem System befinden wir uns. Wir haben ja auch keine Bedarfsplanung der Pflege, sondern nur eine Bedarfsplanung für die Ärzte. Auch deshalb können wir Menschen im wohnortnahen Bereich nicht bedarfsangemessen versorgen, weil alle nicht ärztlichen Berufe regional gar nicht geplant werden, auch nicht die Pflege als Basisversorgung. Eigentlich bräuchten wir ein Tandem vor Ort aus Ärzten und Pflegefachpersonen, um gemeinsam wohnortnah die Versorgung tatsächlich umsetzen zu können. Diese Tandemlösung wäre auch eine gute Lösung, um sektorenübergreifend an die tatsächlichen Bedarfe der gesundheitlichen Versorgung zu denken und nicht nur daran zu denken, was kann noch abgerechnet werden und was muss man dafür diagnostizieren, damit die Menschen Leistungen bekommen. Pflegedienste sagen immer häufiger, SGB V-HKP-Pflege lohnt sich nicht mehr, wir bieten nur noch SGB XI-Pflege an. Das ist kalte Rationierung. Mit Care Share 13 haben wir die strategischen Auswege identifiziert und ein nachhaltiges Zukunftsbild eines neuen Systemtyps der Gesundheitsversorgung gezeichnet.