Gesundheit und Politik

Weiterentwicklung der Prävention – Vernetzter, digitaler, einfacher

Von Dr. Julia Schröder, Abteilungsleiterin Gesundheitsförderung, Pflege und Rehabilitation

Auch beim Thema Prävention ist die Pandemie ein starker Treiber. Wir müssen uns damit auseinandersetzen, wie in einer digital vernetzten Gesellschaft Krankheiten verhütet werden können und die Frage stellen, was Menschen am Arbeitsplatz und auch dort, wo wir sie beim Aufwachsen begleiten, langfristig gesund hält. Prävention im digitalen Zeitalter ankommen zu lassen, bedeutet: Vorsorge, Betriebliche Gesundheitsförderung und Prävention in Lebenswelten künftig integriert zu denken und die Beteiligten zu vernetzen. Mehr Miteinander statt Nebeneinander ist die dafür erforderliche Kultur. Unternehmen sollen Anreize für Investitionen in die Gesundheit der Beschäftigten bekommen, es gilt, Schule und Kita mit niedrigschwelligen und in der Praxis umsetzbaren Angeboten zu erreichen. Nicht zuletzt gibt es einen zentralen Ort für Versorgungsdaten, Hinweise auf ärztliche Präventionsempfehlungen und Unterstützungsangebote der Selbsthilfe: die elektronische Patientenakte. Ein wichtiges digitales Instrument für die Menschen, die im Zentrum der Anbieter und Angebote stehen. Der BKK Dachverband hat einen Katalog von Maßnahmen zusammengestellt, die unsere Ziele in der kommenden Legislaturperiode beschreiben. So lautet unser Rezept für die Prävention und Gesundheitsförderung der Zukunft: vernetzter, digitaler und einfacher.

Handydisplay mit Schrittzähler

Die Gründe für den vergleichsweise niedrigen Stellenwert, den Verhaltens- und Verhältnisprävention in Deutschland haben, reichen jedoch tiefer und existieren nicht erst seit Auftreten von Sars-CoV-2. Die Pandemie erfüllt hier, wie in vielen anderen Bereichen, eher die Rolle eines Brennglases, bzw. einer Lupe, die vorhandene Defizite deutlicher zutage treten lässt als in normalen Zeiten. Die Präventionslandschaft in Deutschland ist gekennzeichnet durch hohe Heterogenität und Unübersichtlichkeit der Handlungsfelder, Anbieter und Vorgehensweisen. Die Wirksamkeit von Prävention zu sichern und nachzuweisen, ist schwierig, weil in hochkomplexen und multivariaten Interventionsräumen gehandelt wird. Es fehlt weitgehend an einer evidenzgestützten Steuerung und es gibt hohe Hürden für die Quali- tätssicherung. Der Wettbewerb der Anbieter, Träger und der politischen Akteure kann beflügeln, geht aber auch einher mit einem hohen inter- und intrasektoralen Kooperationsbedarf. Wenn es Wirksamkeitsnachweise oder verlässliche Kosten-Nutzen(wert)-Modelle gibt, werden diese innerhalb der Community und in einer Sprache diskutiert und kommuniziert, die bei den Adressaten und Entscheidungsträgerinnen in den Institutionen wie Kita, Schule oder Betrieb, nicht verstanden wird. Sie folgt – je nach Community – einem akademischen Duktus, den Legaldefinitionen aus den Sozialgesetzbüchern oder den Prüfkriterien der Aufsichten, ist aber meilenweit entfernt vom Vokabular der Lebenswelten, in denen diese Präventionsangebote gefunden, verstanden und angenommen werden sollen. Im Folgenden soll auf diese möglichen Ursachen für die schwache Position der Gesundheitsprävention in Deutschland nicht weiter eingegangen werden, sondern vielmehr auf die dringend nötige Vernetzung der Prävention mit anderen „Funktionsräumen“ des Gesundheitswesens und der Akteure untereinander sowie auf die Potenziale der Digitalisierung. In diesen Bereichen lassen sich vielfältige Weiterentwicklungsvorschläge finden.

Gesundheitsförderung und Versorgung zusammen denken!

Die Betriebskrankenkassen verstehen sich als service- und versichertenorientierte Dienstleister, die ihren Versicherten maßgeschneiderte Leistungen ermöglichen möchten. Dies wird teils erheblich erschwert durch die starke Versäulung des Gesundheitswesens, der Sozialgesetzgebung im Allgemeinen und der gesetzlichen Anspruchsvoraussetzungen im SGB V im Besonderen. Diese folgen etablierten Dichotomien wie „gesund – krank“, „analog – digital“, „Vorsorge – Heilung“, „ambulant – stationär“. Krankheitsrisiken sollen durch „Leistungen zur Verhütung von Krankheiten, betriebliche Gesundheitsförderung und Prävention arbeitsbedingter Gesundheitsgefahren“ gem. § 20 SGB V ff. verhindert und gemindert (primäre Prävention) sowie selbstbestimmtes gesundheitsorientiertes Handeln der Versicherten gefördert werden (Gesundheitsförderung). Daneben stehen vielfältige Behandlungsangebote im Bereich der Versorgung nach erfolgter ärztlicher Diagnose. Viele Versicherte, die die primärpräventiven Angebote in Anspruch nehmen, sind jedoch nicht mehr vollständig gesund. (Wer kann das schon von sich behaupten?) Sie bewegen sich auf dem Kontinuum zwischen Gesundheit und Krankheit bereits weiter in Richtung Erkrankung. Für diese Menschen gibt es oft keine passgenauen Angebote. Sie finden keine suffiziente Unterstützung in der primären Prävention und erhalten erst dann wieder Unterstützungsangebote, wenn die körperliche oder seelische Gesundheit so weit ins Rutschen gekommen ist, dass eine ärztliche Diagnose den Zugang zu therapeutischen Angeboten öffnet. Notwendig wäre es, die Versicherten mit einem Versorgungsangebot im Dreiklang: „Prävention – Frühintervention – Kuration“ passgenau dort abholen zu können, wo sie oder er individuell auf dem Kontinuum zwischen Gesundheit und Krankheit verortet ist. Die Betriebskrankenkassen haben im Bereich der Muskel-Skelett-Erkrankungen ein arbeitsplatznahes, trägerübergreifendes Versorgungsmanagement im Rahmen des Innovationsfonds auf den Weg gebracht und die Projektevaluation bestätigt, dass sich eine Frühintervention für alle Beteiligten auszahlt. Der Erprobungsweg über den Innovationsfonds geht jedoch einher mit langen Vorlaufzeiten und bietet kaum Möglichkeiten eines agilen Kassenhandelns. Nicht nur für Muskel-Skelett- Erkrankungen, sondern auch bei psychischen Belastungen, die in Zeiten der permanent steigenden Verdichtung und Entgrenzung zunehmend relevant werden, wären zusätzliche Erprobungs- und Vergütungswege für Frühinterventionen zur Vermeidung einer manifesten Diagnose und dem Erhalt der Arbeitsfähigkeit wichtig. Sinnvoll wären integrative Versorgungskonzepte zwischen den Silos Prävention und Kuration.  Der Kontakt zu Versicherten in Primärpräventionsangeboten könnte genutzt werden, um Personen zu identifizieren, die mehr als gesundheitsförderliche Unterstützung benötigen und die mit einer intensiven und individuellen Frühintervention vor einer Progression ihrer Beschwerden geschützt werden könnten. Insbesondere im Bereich der psychischen Belastungsstörungen ergäben sich hierdurch Chancen „leichtere Fälle“ intelligent „auszusteuern“, indem frühzeitig passgenaue, qualitative nicht-ärztliche Versorgungen angeboten werden. Notwendig hierfür wäre die Etablierung einer validen Diagnostik für den präklinischen Bereich. So könnten die bestehenden knappen Ressourcen besser alloziert werden in Richtung schwer psychisch Kranker. Verlegenheitsdiagnosen mangels frühinterventiver Angebote könnten zudem vermieden werden. Das Potential von Gesundheitsförderung und Prävention, die kurative Krankenversorgung ökonomisch zu entlasten, indem Krankheiten im Vornherein vermieden werden, muss stärker aktiviert werden.

 

WEITERENTWICKLUNG DER PRÄVENTION - VERNETZTER, DIGITALER, EINFACHER

Erschlagende Vielfalt: Überblick im Angebotsdschungel schaffen

Nicht nur die Pandemie selbst oder die zu erwartenden psychosozialen Folgen der Corona-Pandemie machen deutlich, dass es eine Vernetzung der Angebote braucht, die dem Bürger:innen einen direkten Zugang ermöglichen. Das Präventions- , Versorgungs- und Rehabilitationsangebot ist umfangreich und leistungsstark. Aus Sicht der Bürger:innen ist es unübersichtlich, zersplittert und schlecht vernetzt. Und auch für die einzelne Krankenkasse ist es schwierig zu orchestrieren und passgenau dem Versicherten an die Hand zu geben. Die Folgen mangelnder Auffindbarkeit und Vernetzung für Bürger:innen, Leistungserbringer:innen, Kostenträger:innen und Politik sind vielfältig.

Gesundheitsförderung muss (auch) digital erreichbar sein 

Deshalb muss sich die Gesundheitsförderung konsequent digitalisieren, ohne analog nachzulassen. Auch wenn hier in den letzten 14 Monaten enorme Fortschritte vollzogen werden konnten, steckt das Präventionsgeschehen in größten Teilen noch in der analogen Welt fest. In Zeiten von Shutdowns und Social Distancing ist dies die denkbar ungünstigste Ausgangsposition, um gesehen und als „systemrelevant“ bewertet zu werden. Es braucht innovative digitale Formate, die aus Kundensicht (ux) gedacht sind. Und: Die fortschreitende digitale Transformation wird unweigerlich Spaltungen mit sich bringen und wird neue vulnerable Personenkreise bilden. Zusätzlich werden sich bestehende vulnerable Gruppen verändern, bzgl. des Grades ihrer Vulnerabilität, der definitorischen Merkmale und auch bzgl. der Adressierbarkeit im analogen und/oder digitalen Raum. Dies muss bei der Entwicklung digitaler Präventionsangebote fortwährend mitgedacht werden.

Konsequente Kooperation und Vernetzung der Aktuere 

Die Nationale Präventionsstrategie, die sich daraus ableitende Bundesrahmenempfehlung und die Landesrahmenvereinbarungen bilden eine wichtige Grundlage für eine effiziente und umfassende Vernetzung und Zusammenarbeit aller in der Gesundheitsförderung und Prävention relevanten Akteure. Die Träger der Nationalen Präventionsstrategie haben enorme Anstrengungen für mehr Gesundheitsförderung und Prävention in Deutschland unternommen und sind damit durchaus erfolgreich. Dies zeigt sich nicht nur an der Steigerung der Ausgaben für Präventionsleistungen um über 40 Prozent seit 2012. Durch die Orientierung der Zielsetzung an den Lebensphasen (Kindheit, Schule, berufliche Ausbildung, Arbeitsleben, Rentnerdasein) unterstreicht die Bundesrahmenempfehlung die Wichtigkeit einer ganzheitlichen Betrachtung von Prävention und Gesundheitsförderung. Sie macht damit deutlich: Prävention und Gesundheitsförderung sind eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Die GKV und andere Sozialversicherungsträger sind wichtige Akteure. Sie können aber nur bedingt Einfluss auf gesundheitsrelevante Faktoren wie Bildung, Lebens- und Wohnumfeld, Verkehr usw. nehmen. Die Krankenkassen können Bildungseinrichtungen, Kommunen beraten und bei der Umsetzung von Maßnahmen unterstützen. Ihre Möglichkeiten sind aber dort begrenzt, wo Veränderungen an den Strukturen und Rahmenbedingungen vor Ort notwendig sind, um wirksame Veränderungen zu erzielen. Ein stärkeres und aufeinander abgestimmtes Engagement aller Mitspieler und Ressorts, angefangen bei staatlichen Institutionen über die Sozialversicherungsträger bis hin zu zivilgesellschaftlichen und wissenschaftlichen Akteuren, ist unabdingbar, damit Prävention in Deutschland ihr potenzielles Leistungsniveau erreichen kann. Die Covid-Pandemie bietet sich als Kairos an: als Gelegenheit umzudenken, größer zu denken und vernetzter zu denken. Die Politik ist aufgefordert, einen starken Impuls zu setzen und ein kompromissloses Bekenntnis zu einem Health in All Policies zu konstatieren.

Setting-Silos auf den Prüfstand

Des Weiteren muss berücksichtigt werden, dass sich nicht jede Lebensphase singulär einem Setting zuordnen lässt. Frühe Kindheit findet nicht nur in der Kita, das Aufwachsen und die Adoleszenz (zum Glück) nicht nur in der Schule und das Arbeitsleben nicht ausschließlich im Büro oder an der Werkbank statt, sondern beschult wird auch digital  zu Hause, gearbeitet wird ebenfalls in vielen Branchen vom heimischen Küchentisch. All dies geschieht in der Lebenswelt des eigenen Kiezes, des eigenen Quartiers, der eigenen Kommune; und dies nicht erst seitdem die coronabedingten Lockdowns unsere Alltagsroutinen aus den Angeln gehoben haben. Das Präventionsgesetz aus dem Jahr 2015 definiert Lebenswelten als abgrenzbare soziale Systeme insbesondere  des  Wohnens, des Lernens, des Studierens, der medizinischen und pflegerischen Versorgung sowie der Freizeitgestaltung einschließlich des Sports. Hierzu zählen insbesondere Kitas, Schulen, Kommunen, Hochschulen und Pflegeeinrichtungen (§ 20a SGB V). Neben der isolierten Betrachtung der Wirkmechanismen innerhalb dieser künstlich gesetzten Interventionsräu- me könnten die Erforschung und Förderung von Vernetzungsprozessen und Organisationsentwicklung zwischen den Lebenswelten wertvolle Hinweise für die wirksame Prävention geben. In einer digital transformierten Lebens- und Arbeitswelt verliert die Abgrenzung der einzelnen Settings oder Lebenswelten nicht nur deshalb an Bedeutung, weil das eigene Zuhause immer öfter zum Ort des Homeschooling oder Homeoffice wird. Auch kleine und mittelständische Betriebe mit enger Anbindung an ihre Region werden sich immer öfter ihrer regionalen sozialen Verantwortung bewusst und möchten bspw. gemeinsam mit ihrer Kommune die Kinderbetreuungs- und Tagespflegeplätze erhöhen, um die Work-Life-Balan- ce ihrer Mitarbeitenden zu verbessern und stressbedingten Fehlzeiten vorzubeugen. Hier wächst das Setting Kommune mit dem Setting Betrieb zusammen. Durch die inzwischen flächendeckend verbreitete „Always-on-Kultur“, sind viele Beschäftigte  auch  während  ihrer Arbeitszeit mit den Anforderungen aus dem Privatleben konfrontiert und vice versa nach Feierabend weiter mobil im Arbeitskontext adressierbar. Die Lebenswelten diffundieren zunehmend. Kristallisationspunkt ist der Einzelne mit seinen individuellen Beanspruchungen und Belastungen. Die Menschen erfahren als Kunden in diversen anderen Lebenssituationen, dass sowohl Produkte als auch Dienstleistungen „customized“, d.h. in einer auf ihren persönlichen Bedarf zugeschnittenen Form angeboten werden. Die  Digitalisierung  böte die Möglichkeit, Primärprävention, Setting und BGF miteinander zu verbinden und so noch passgenauere Angebote für den Einzelnen zu machen.

Digitale Gesundheitskompetenz stärken – Mündige Versicherte/ Befähigte Konsumenten

Der Erwerb von (digitaler) Gesundheitskompetenz wird in einer immer digitaleren Welt und angesichts des hohen Komplexitätsgrades des Gesundheitswesens zunehmend notwendiger, um informierte Entscheidungen in Bezug auf die eigene Gesundheit zu treffen. Die Betriebskrankenkassen begrüßen daher ausdrücklich die Aufnahme eines Anspruchs auf Förderung digitaler Gesundheitskompetenz in die Sozialgesetzgebung durch das Digitale-Versorgung-Gesetz. Digitale Gesundheitskompetenz kann als Schlüsselkompetenz bezeichnet werden, da es um die Befähigung von Patientinnen und Patienten sowie gesunder Versicherter geht, qualitätsgesicherte Gesundheitsinformationen im Dschungel digitaler Informationsquellen für die Wiederherstellung oder Aufrechterhaltung der eigenen  Gesundheit zu finden, zu verstehen, zu beurteilen und anwenden zu können. Die Förderung der individuellen digitalen Gesundheitskompetenz reicht jedoch nicht aus. Denn es ist bekannt, dass Gesundheitskompetenz nicht nur von den individuellen Fähigkeiten einer Person abhängt, sondern auch ganz wesentlich von den Anforderungen und der Ausgestaltung des Gesundheitssystems (einschließlich der Krankenkassen) beeinflusst wird. Adressiert werden müsste somit auch organisationale Gesundheitskompetenz, insoweit als diese Organisationen die oder den Einzelnen in die Lage versetzen, Informationen  und Dienstleistungen zu finden, zu verstehen und zu nutzen, um gesundheitsbezogene Entscheidungen und Maßnahmen für sich selbst und andere zu treffen. Digitale Gesund- heitskompetenz muss im System, d. h. bei den Leistungserbringern und Kostenträgern vorhanden sein. Die Förderung digitaler Gesundheitskompetenz müsste integraler Bestandteil des „Schulfach Gesundheit“ sein. Für die Aufnahme eines solchen neuen Unterrichtsfaches zur kontinuierlichen Vermittlung wichtiger Kompetenzen für eine gesunde Lebensführung spricht sich der BKK Dachverband in seinem jüngsten Positionspapier aus.

Der BKK Dachverband positioniert sich in seinem aktuellen Papier „WEITERENTWICKLUNG DER PRÄVENTION – Vernetzter, Digitaler, Einfacher“ zu vielen in diesem Beitrag aufgegriffenen Aspekten und macht innovative Vorschläge für eine mutige Weiterentwicklung der Prävention in Deutschland. 

Kontakt

Dr. Julia Schröder
Abteilungsleiterin Gesundheitsförderung, Pflege und Rehabilitation

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