Regal oder Tonne

Träge Transformation

von Stefan B. Lummer

Johanna Sprondel und Sascha Friesike erzählen in ihrem Buch TRÄGE TRANSFORMATION „warum sich Digitalisierung in Deutschland anfühlt, als wate man durch Honig.“ Welche Denkfehler den digitalen Wandel blockieren. Lesen Sie hier, weshalb dieser Band aus Reclams Universalbibliothek Nr. 14188 in Ihren Bücherschrank muss.

Cover des Buches Träge Transformation

„Sascha Friesike und ich haben uns überlegt, warum sich Digitalisierung in Deutschland anfühlt, als wate man durch Honig.“ So präsentiert Johanna Sprondel das gemeinsame Buch TRÄGE TRANSFORMATION in einem Tweet. Ein Buch? Nun: ein schmales Reclam-Bändchen. Aber eben auch ein großartiger Essay, der die Antreiber der digitalen Transformation mit einem phänomenalen Versprechen lockt: „Welche Denkfehler den digitalen Wandel blockieren“.  


Die Lage ist ernst. In nahezu allen Branchen – nicht nur im entschleunigten Gesundheitswesen – droht Deutschland bei der digitalen Transformation den Anschluss zu verlieren oder hat ihn bereits verloren. Deutschland investiert Milliarden in Insellösungen, Leuchtturmprojekte und Pseudo-Veränderungen. Eine überforderte Staatsministerin für Digitales lässt in ihrer Phantasie ein Flugtaxi aufsteigen, um einer konkreten Frage zum Ausbau der Breitbandanschlüsse in Deutschland zu entgehen. Mal augenzwinkernd, mal mit grimmigem Witz entlarven Sprondel und Friesike vermeintliche Zauberformeln der digitalen Transformation als Monstranzen oder Missverständnisse. Sascha Friesike ist Professor für Design digitaler Innovation an der Universität der Künste Berlin und Direktor des Weizenbaum-Instituts für die vernetzte Gesellschaft. Er hat in St. Gallen promoviert und ist Associate Researcher am Alexander von Humboldt Institut für Internet und Gesellschaft. Johanna Sprondel ist Professorin für Medien- und Kommunikationsmanagement und berät international Unternehmen in Transformationsprozessen. Sie hat an der Universität Freiburg in Philosophie promoviert, an der Stanford University gearbeitet und forscht zur Frage, wie sich das Leben der Menschen mit der Digitalisierung verändert. Die beiden schneiden mit sicherer Klinge neun Glaubensbekenntnisse zu Innovation und Transformation aus dem Gestrüpp der Buzzwords heraus. „Sie zeigen sie auf, wo gutmeinende Unternehmen und Verwaltungen sich, anstatt ihr Kerngeschäft zu verbessern, in Floskeln verlieren und mehr Potenziale verheizen als Erfolge erzielen“, lobt Alexander Ebner, Professor für Politische Ökonomie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, diese Streitschrift in einer Rezension für das Schumpeter Center for Innovation and Public Policy. Ein Essay, der von Schwalbenschwänzen, Chipstüten, Jazz und dem Karmann-Ghia erzählt. Schwalbenschwänze sind Meisterstücke des süddeutschen Zimmermannshandwerks: Aufwendig gearbeitete Verbindungen von Holzbalken, präzise Aussparungen im Holz, die beim Zusammenbau milimetergenau ineinandergreifen und verwitterungsanfällige Nägel, Schrauben oder Leim überflüssig machen. Traditionelle, zeitintensive, nachhaltige Handarbeit, die längst durch weniger kostspielige Balkenverbindungen ersetzt und deren Eleganz in Sonntagsreden der Branche betrauert wurde. Roboter – automatische Fräsen, die nach einer digitalen Anleitung Balken ausrichten und zuschneiden, haben die Schwalbenschwänze wieder wettbewerbsfähig gemacht und in die Gegenwart zurückgeholt. 


„Die glänzende Erzählung, das Narrativ der digitalen Transformation, ist fast immer auch eine Erzählung ihrer Geschwindigkeit, gerne auch einer nie dagewesenen Geschwindigkeit“, beginnen Sprondel und Friesike eine wunderbare Provokation. Lässt sich also digitale Transformation nur meistern, wenn die eigene Arbeit rasant und die Ergebnisse radikal neu sind? Die Verführung, einfach nur schneller zu werden, den Wettlauf mit der rasanten Veränderung zu beginnen, ist groß. »Beschleunigung durch Komplexitätsreduktion« heißt so ein Glaubensbekenntnis. Im Werkzeugkasten findet sich die Sprint-Methode. Während eines Sprints bleibt jedoch keine Zeit für Nachdenklichkeit, denn Denken dauert und erzeugt keine sichtbaren Ergebnisse. Die gängigen Tools zur Reduktion von Komplexität bewerten Aktivität in der digitalen Transformation höher als Nachdenken. So ein „Action Bias“ ist aber keine Errungenschaft, die digitale Transformation leidet darunter, so sehen es die Autoren: „Konkret geht es fast immer darum, etwas zu bauen – anstatt zu verstehen.“


Die beiden zitieren einen Aufsatz des britischen Organisationsforschers Christopher Grey, der im Jahr 2013 argumentiert hat, die Annahme, wir würden gerade einen nie dagewesenen Wandel miterleben, sei „so stark in unser kollektives Gedächtnis eingebrannt, dass wir diese Annahme wie ein Naturgesetz hinnehmen.“ Johanna Sprondel und Sascha Friesike verraten uns auch den Titel des Aufsatzes: The Fetish of Change. Und Zack. Schon sind wir immun gegen den Stapel der Managementbücher, die alle damit beginnen, einen rasanten Wandel zu attestieren und deshalb rasante Antworten einfordern.  


Volkswagen baute 1964 den Käfer, den Bulli T1 und den Karmann-Ghia. Der bildschöne Zweitürer ist noch immer einer der aufregendsten VW aller Zeiten. Wir sehen im Rückblick die stärkste Epoche des VW Konzerns, was das Design angeht, aber einen lausigen Grad der Automatisierung. „Also keine Revolution? Doch zweifelsohne. Nur fehlt das Korrektiv, das die Umwälzung und vor allem die Wahrnehmung der Geschwindigkeit und der Konsequenzen der Umwälzung in Relation setzt.“ So lautet das Fazit des Kapitels „Technologie ist die Lösung“: „Zu einem gelingenden Prozess gehört es, dass auch verstanden wird, was genau erreicht, wie und mit welcher Absicht das Ziel erreicht werden soll – und vor allem, wie all dies vermittelt werden kann.“ Dieser Band aus Reclams Universalbibliothek Nr. 14188 muss in Ihren Bücherschrank: Ein wunderbarer Spaziergang für den Verstand in den einfachen Satz hinein, dass digitale Transformation nicht eine Frage der Technik, sondern eine Angelegenheit des kulturellen Wandels ist. 

Hrsg.: Sascha Friesenik/ Johanna Sprondel

Träge Transformation. Welche Denkfehler den digitalen Wandel blockieren.

Verlag: Reclam, Stuttgart 2022, 92 Seiten, ISBN 978-3-15-014188-5