Gesundheit und Politik

Arzneimittelpreise neu gedacht

von Dr. Christina Diessel und Natalie Kohzer

Seit dem letzten Jahr stehen neben steigenden Arzneimittelausgaben immer mehr auch hohe Einstiegspreise einzelner Arzneimittel im Fokus. Mit neuartigen Gentherapien, wie Zolgensma®, sind Preisdimensionen erreicht, die bislang undenkbar schienen. Wegen massiver finanzieller Belastungen der GKV der letzten Jahre unter den Ministern Gröhe und Spahn sind Einsparungen auch im Arzneimittelbereich zukünftig unvermeidbar. Statt nur auf vermeintlich einfache Lösungen wie einer Anhebung des Herstellerabschlages zu setzen, gilt es, sich frühzeitig auch zu neuen Preismodellen Gedanken zu machen. Erste konstruktive Ideen hat der BKK Dachverband mit verschiedenen Arzneimittelexperten und -expertinnen in einem Werkstattgespräch entwickelt und diskutiert. Der Fokus lag dabei auf der Gewährleistung der Bezahlbarkeit der Arzneimittelversorgung für alle Patienten und Patientinnen.

Verpackung mit verschiedenfarbigen Tabletten

Arzneimittelpreise – ein glücklicher Status-Quo

Die Preise von Arzneimitteln mit guter Datenlage und Konkurrenz durch andere Hersteller orientieren sich meist an den bereits verfügbaren Arzneimitteln auf dem Therapiegebiet. Bei neuen Arzneimitteln für bisher nicht behandelbare Krankheiten steigen die Preise allerdings in astronomische Höhen. Im Jahr 2014 konnte das Medikament Sovaldi® noch  mit einem Preis von gut 800 Euro je Tablette die Öffentlichkeit schockieren. Seit dem Jahr 2020 spielt das neue Gentherapeutikum Zolgensma® mit einem Preis von mehr als zwei Millionen Euro für eine Einmalanwendung in einer ganz anderen Liga. Die postulierten Heilsversprechen der Gentherapien konnten langfristig noch nicht nachgewiesen werden. In den Pipelines der pharmazeutischen Industrie befinden sich nach Schätzungen der American Society of Gene and Cell Therapy derzeit weitere 3.500 Advanced Therapy Medicinal Products (ATMP). Die bekanntesten ATMP sind die neuen Gentherapeutika wie beispielsweise Zolgensma. Es wird längst nicht nur an seltenen Erkrankungen, sondern auch an Therapien für Volkskrankheiten geforscht. Alle diese Therapien werden ihren Weg voraussichtlich nicht in die Versorgung finden. Jedoch hat auch ein Bruchteil dieser innovativen Therapien unter dem aktuellen freien Preisbildungsmechanismus das Potential, die Grenzen der Belastbarkeit des GKV- Systems zu sprengen. Beispielsweise soll ein zukünftiges Arzneimittel gegen Hämophilie laut Börsenberichten um die 2,5 Mio. Euro kosten.

Die Situation in Deutschland

In Deutschland können Patienten meist früh mit neuen Arzneimitteln versorgt werden. In anderen europäischen Ländern warten sie deutlich länger auf neue Therapien. Der sogenannte W.A.I.T. Indicator gibt an, wie lange Patienten und Patientinnen warten, bis ein Arzneimittel verordnet werden kann: Zwischen der Zulassung und dem Marktzugang vergeht in Deutschland mit nur 53 Tagen (Median) am wenigsten Zeit. In Österreich sind es bereits 273 Tage und in Portugal warten Patienten und Patientinnen im Schnitt zwei Jahre auf neue Arzneimittel. 

Dieser schnelle Marktzugang in Deutschland ist einzigartig und für die Hersteller ein wichtiger Ankerpunkt, um Eckpfeiler hinsichtlich der Arzneimittelpreise in der EU zu setzen. Ein weiterer wesentlicher Faktor hierbei ist die freie Preisbildung im ersten Vermarktungsjahr, weil der zwischen Hersteller und GKV-Spitzenverband verhandelte und meist niedrigere Erstattungspreis erst ab dem zweiten Jahr gilt. Durch den hohen Einstiegspreis ist das Preisniveau für das jeweilige Arzneimittel gesetzt. Zusätzlich kann der Hersteller die zu erwartenden Preisnachlässe nach dem ersten Jahr vorab einpreisen. Auch das ist international einzigartig. Bei extrem hohen Einstiegspreisen stößt das aktuelle System an seine Grenzen. Viele Hersteller begründen hohe Preise, indem sie Kosten einer Einmalanwendung mit denen einer Dauertherapie vergleichen. Zusätzlich führen sie hohe Einsparungen an, die sich durch eine einmalig angewendete Gentherapie ergeben würden. Dabei wird oftmals auch der „Wert“ einer Therapie im Sinne eines weiteren Nutzens, z. B. hinsichtlich des Erhalts der Arbeitsfähigkeit oder einer vermiedenen Pflegebedürftigkeit angeführt. Es stellt sich aber die Frage: wem gehören diese Einsparungen – dem Hersteller, der Krankenkasse oder nicht doch der Gesellschaft? Daher ist es erforderlich, andere und neue Wege der Finanzierung zu finden, um die Bezahlbarkeit von Arzneimitteln weiterhin zu erhalten

Der Preis muss der Evidenz folgen!

In dem Werkstattgespräch des BKK Dachverbands stuften die Arzneimittelexperten und -expertinnen vor allem die Evidenz als wichtigstes Preiskriterium ein. Die Evidenz beschreibt den Nutzen und die Risiken eines neuen Arzneimittels, wobei auch die Zuverlässigkeit der getroffenen Aussage berücksichtigt wird. Aus ethischer Sicht ist die Evidenz das führende Instrument für die Patientenversorgung.

Die Arzneimittelzulassungsbehörden lassen immer mehr neue Arzneimittel auf Sonderwegen zu

Für Arzneimittel mit einer Sonderzulassung ist die Datenlage meist nicht ausreichend gesichert. Der Anteil dieser Zulassungen beträgt bereits 25 Prozent. Die Hersteller legen wenig aussagesichere Daten für nur eine kleine Zahl von Patienten vor. Medizinische Erkenntnisse werden erst nach der Zulassung in der Echt-Anwendung an Patientinnen gewonnen. Das führt zu Herausforderungen bei der Nutzenbewertung von neuen Arzneimitteln. Als Instrument zur Berücksichtigung des zusätzlichen Nutzens von Arzneimitteln im Vergleich zu alternativen Therapieoptionen wurde in Deutschland die frühe Nutzenbewertung etabliert. Dabei bewertet der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) nicht nur klinische Daten aus der Zulassung, sondern vergleicht auch deren Nutzen mit dem Nutzen älterer Medikamente.

Bei 43 % aller Verfahren zwischen 2011 und 2019 konnte keinerlei Zusatznutzen festgestellt werden. Zukünftig werden Hersteller auch Daten aus der Echt-Anwendung erheben. Diese Daten sollen helfen, zusätzliche Erkenntnisse zum Nutzen eines neuen Arzneimittels zu gewinnen. Wichtig sind auch die vom G-BA definierten qualitätssichernden Anforderungen für die Anwendung. Dabei geht es vor allem um die Fachkompetenz, die vorhandenen Erfahrungen und die räumliche und medizintechnische Ausstattung, die die Krankenhäuser und Praxen erfüllen müssen, um Patientinnen behandeln zu dürfen.

Evidenz als Dreh- und Angelpunkt

Bei einer Vielzahl an Arzneimitteln liegen beim Marktzugang keine ausreichend gesicherten Daten vor. Für diese ist die freie Preisfestsetzung durch den Hersteller zu hinterfragen. Nur für Arzneimittel mit stichhaltiger Evidenz sollte der Hersteller weiterhin frei seinen Einstiegspreis bestimmen dürfen, so eine Expertin im Werkstattgespräch. Wenn nicht genügend Daten zum Zeitpunkt des Marktzugangs in Deutschland vorliegen und zu wenig über das Arzneimittel im Vergleich zu herkömmlichen Therapien bekannt ist, sollten Alter- nativen in der Preisbildung gefunden werden.

Eine Möglichkeit ist, den freien Einstiegspreis durch einen niedrigeren Startpreis zu ersetzen. Erst wenn ausreichende Daten vorhanden sind, wird ein – vermutlich höherer – neuer Erstattungsbetrag verhandelt. Wichtig ist: Der Preis muss der Evidenz folgen! Der Gedanke, für die Datenunsicherheit einen Abschlag vom Preis einzufordern, ist nicht neu. Auf Seiten der Hersteller wurde über ein derartiges System bereits nachgedacht. Ein Abschlag hätte allerdings den Nachteil, dass dieser vorab von dem Hersteller eingepreist werden kann. Die Teilnehmenden des Werkstattgesprächs favorisieren daher einen alternativen Mechanismus zur Festlegung eines fairen Einstiegspreises. Ein Kriterium für den Einstiegspreis könnte das Preisniveau in anderen europäischen Ländern sein. Zum Zeitpunkt der Preisfestsetzung sind aber oftmals nur sogenannte „Schaufensterpreise“ bekannt. Die tatsächlich gezahlten Preise sind aufgrund von vertraulichen Verhandlungen über Preisnachlässe unbekannt. Hier kann nur die Transparenz über reale Preise weiterhelfen.

Auch denkbar ist ein Vergleich mit der zweckmäßigen Vergleichstherapie, also die Standardtherapie in der betroffenen Erkrankung nach aktuellem Stand des Wissens. Die Kosten der zweckmäßigen Vergleichstherapie dienen dabei als Basis, um einen angemessenen Preis zu finden. Für einige neue Arzneimittel gibt es keine zweckmäßige Vergleichstherapie, weil das neue Arzneimittel Krankheiten behandelt, die bislang nicht therapierbar waren. Auch hierfür müssen Lösungen gefunden werden.

Transparente F&E-Kosten können ein faires Kriterium der Preisbildung werden

In der Diskussion mit den Experten wurde die Möglichkeit der Berücksichtigung der Forschungs- und Entwicklungskosten (F&E-Kosten) für neue Arzneimittel genannt. Gelänge es, die F&E-Kosten konkret auf ein Arzneimittel für Deutschland herunter zu rechnen, wäre ein anteiliger Aufschlag auf den niedrigen Einstiegspreis für ein Arzneimittel mit nicht ausreichender Evidenz denkbar.

Leider besteht über die F&E-Kosten derzeit keine Transparenz. Hersteller müssen „ihre Bücher“ nicht so detailliert offenlegen, als dass die Ausgaben spezifisch für jeden einzelnen Wirkstoff bekannt wären. Untersuchungen zufolge investieren die TOP 10 Pharma- unternehmen der USA 22 Cents pro US-Dollar in F&E-Kosten. Doppelt so viel entfällt auf Werbung, Verwaltung und Gewinne.

Erste Hinweise auf die tatsächlichen F&E-Kosten könnten aus Informationen zu den Aufkäufen von kleineren (Biotechnologie-)Unternehmen gefunden werden. Die Pharmazeutische Industrie ergänzt ihre eigene Forschung durch milliardenschwere Aufkäufe kleinerer Unternehmen. Diese haben oft nur an einem einzigen Wirkstoff geforscht, so dass durch den Verkauf konkrete Zahlen zu den F&E-Kosten, abzüglich staatlicher Fördergelder, abgeleitet werden können. So hat Gilead das Arzneimittel Sovaldi® nicht selbst entwickelt, sondern durch Aufkauf des kleinen Start-ups Pharmasset erworben. Zur Zeit der Übernahme beliefen sich die Entwicklungskosten auf 53 Mio. Euro. Selbst wenn die Kosten für die gescheiterten Wirkstoffentwicklungen mit einbezogen würden, lagen die F&E-Kosten bei circa 220 Mio. Euro. Gekauft wurde das Unternehmen für 9 Mrd. Euro. Alleine im Jahr 2014 hat der weltweite Umsatz mit Sovaldi® diese Ausgabe überkompensiert.

Die Berücksichtigung von F&E-Kosten könnte auch für die pharmazeutische Industrie einen wichtigen Beitrag für eine faire Preisbildung leisten. Aus ihrer Perspektive sollten aber auch Herstellungs- und Vertriebskosten sowie Ausgaben für administrative Vorgänge rund um ihr neues Arzneimittel berücksichtigt werden. Zuletzt wird auch ein gewisses Maß an Profit für vergangene Erfolge und zukünftige Entwicklungsaktivitäten innovativer Arznei- mittel gefordert. Für die Gesellschaft dagegen sind die Bezahlbarkeit, der therapeutische Nutzen und die Versorgungssicherheit von größerer Bedeutung. Es gilt, ein Preiskonzept zu finden, das den Bedürfnissen der pharmazeutischen Industrie und den Krankenkassen Rechnung trägt. Dabei wäre ein Wissen um die wirklichen Zahlen hilfreich, um einen fairen Preis für beide Seiten zu erreichen. Auch andere Länder stehen vor sehr ähnlichen Herausforderungen.

Best-Practice Beispiel aus Australien

Im Werkstattgespräch wurde ein Blick über den deutschen Horizont auf ein neues Preismodell in Australien gelenkt. In dem sogenannten „Netflix-Modell“ wird eine pauschale Zahlung vereinbart, wobei die tatsächlich verbrauchten Mengen der Medikamente nicht berücksichtigt werden. Die australische Regierung und vier pharmazeutische Unternehmer einigten sich in einem Pilotprojekt (Laufzeit 2015-2020) auf ein fixes 5-Jahres-Budget für die neu zugelassenen Arzneimittel gegen Hepatitis C. Die beteiligten Hersteller waren Gilead, Bristol-Myers Squibb, Merck und AbbVie. Die vereinbarte Pauschale in Höhe von knapp 630 Mio. Euro galt für alle an Hepatitis C Erkrankten. Die Auswertung des australischen Pilotprojekts ist bereits erfolgt und einige grobe Fakten sind publiziert. Die genauen Vertragsinhalte bleiben jedoch geheim. Wesentlich ist: Die Behandlungskosten in Australien fielen weit unter den eigentlichen Einstiegspreis der Therapie. Nach Schätzungen bezahlte die australische Regierung im Rahmen des Piloten je Patient im Durchschnitt gut 6.000 Euro. Das liegt weit unter dem sonst üblichen Preis in Australien und auch weit unter den Arzneimittelkosten in Deutschland. Beispielsweise führte Gilead im Jahr 2014 sein Präparat Harvoni® für gut 18.000 Euro in Deutschland ein. Harvoni® ist ein innovatives Arzneimittel  zur Therapie der Hepatitis C und war auch Bestandteil des „Netflix-Modells“. Für eine Therapie über zwölf Wochen ergaben sich je Patient Kosten von gut 60.000 Euro bei Markteintritt.

Auch andere Länder testen Modelle mit Pauschalen 

Neben Australien testen auch andere Gesundheitssysteme ähnliche Modelle. In Europa werden zwei Pilotmodelle für Reserveantibiotika (RAB) ausprobiert. Bei beiden Piloten steht die Bekämpfung der Antibiotika-Resistenzen im Vordergrund. Eine pauschale Vergütung soll die Vermarktung von RAB für die Hersteller lukrativer machen. Im Vereinigten Königreich (UK) zahlt das Nationale Gesundheitssystem an die Hersteller einen festen jährlichen Betrag zur Behandlung aller Patientinnen mit zwei ausgewählten RAB. Dieser Be- trag ist von der tatsächlich verbrauchten Menge unabhängig. Das Modell ist auf England begrenzt.

Auch in Schweden wird ein neues Erstattungsmodell für RAB in einer Pilotphase von 2018 bis 2022 getestet. Die schwedische Gesundheitsbehörde garantiert dem Hersteller einen minimalen jährlichen Gewinn. Sollte die vereinbarte Menge überschritten werden, wird dem Hersteller zusätzlich Geld bereitgestellt. Damit bleibt dieses Modell aus Sicht der pharmazeutischen Industrie attraktiv. In beiden Fällen ist mit einer Zunahme der Kosten pro Arzneimittelpackung im Vergleich zur Standardversorgung zu rechnen. Ziel bei den Projekten ist weniger eine Kostenersparnis als eine sinnvolle Verordnung von RAB und eine Forschungsförderung in diesem wichtigen Sektor. Ergebnisse zu den beiden europäischen Piloten stehen noch aus.

Netflix-Modell eine mögliche Alternative für Deutschland?

Diese Beispiele machen deutlich, dass für bestimmte Anwendungen definierter Arzneimittelgruppen ein „Netflix-Modell“ medizinisch oder auch finanziell sinnvoll sein kann. Dabei können, aber müssen die Arzneimittel nicht günstiger als in der bisherigen Erstattung werden. Darüber hinaus bestehen keine Anreize, Arzneimittel zu lange oder bei nicht geeigneten Patienten einzusetzen. Gerade im zweiten Beispiel der RAB ist das besonders wichtig. Antibiotika sollen gezielt und nur so lange wie nötig eingesetzt werden. Für bestimmte Erkrankungen kann dieses Modell auch für Deutschland interessant werden.

Folgende  Kriterien  sollten  erfüllt  sein.  Erstens  muss  eine  medizinische   Notwendigkeit für die Arzneimitteltherapie bestehen. Zweitens muss die Wirksamkeit der Arzneimitteltherapie nachgewiesen sein. Drittens muss es einen klaren und begrenzten Anwendungsbereich geben, um die Patientenanzahl richtig abschätzen zu können. Ein Nachteil des „Netflix-Modells“ besteht jedoch: Der Preis je Arzneimittel bleibt intransparent. Zu Beginn des Projekts ist nicht bekannt, wie viele Patientinnen behandelt werden. Erst nach der Schlussabrechnung kann die Ausgabe je Patient ermittelt werden.

Fazit des BKK Werkstattgesprächs

Die Zeit ist reif. Wir brauchen ein neues Modell zur Preisbildung von neuen Arzneimitteln. Das Prinzip – Preis folgt der Evidenz – muss dabei zentral sein. Dabei müssen alle Player zu Wort kommen, um eine tragbare Lösung zu finden. Der BKK Dachverband wird die Ideenfindung weiter aktiv vorantreiben.

Kontakt

Dr. Christina Diessel
Referentin Arzneimittel

  • +49 30 2700 406 - 405
  • Nachricht schreiben
  • Visitenkarte herunterladen

Kontakt

Natalie Kohzer
Referentin Arzneimittel

  • +49 30 2700 406 - 406
  • Nachricht schreiben
  • Visitenkarte herunterladen