Gesundheit und Politik

Integrierte Versorgung als Leitbild

Brown-Bag-Studienreise 2021

Der Gedanke der Integrierten Versorgung stand im Mittelpunkt unserer Studienreise. Zweieinhalb Tage in vier niederländischen Städten mit 13 Vorträgen gaben uns viele Möglichkeiten zum intensiven Netzwerken. Die Brown-Bag-Studienreise des Bundesverbandes Managed Care e. V. (BMC) im Oktober 2021 hat 22 begeisterte junge Menschen aus dem Gesundheitswesen zusammengebracht. Daraus ergab sich ein interdisziplinärer Austausch mit einer Vielzahl an Informationen, Anregungen und spannenden Gesprächen – alles unter dem Leitbild der Integrierten Versorgung. Kennengelernt in Amsterdam und in der BKK-Welt zu Hause, wollen wir den Bogen schlagen zum Krankenkassenumfeld und von unseren Erkenntnissen berichten.

Teilnehmerinnen der Studienreise vor einer Präsentation

Der Input war vielfältig: Im Rahmen der Dinner Speech von Prof. Dr. Niek Klazinga haben wir gelernt, dass es in den Niederlanden keine niedergelassenen Fachärzte gibt. Auf dem Philips High Tech Campus in Eindhoven stellten wir im Design Thinking Workshop fest, dass im Gesundheitswesen ein Kulturwandel notwendig ist. Das Bernhoven Krankenhaus als Best-Practice-Beispiel hat diesen Wandel auf beeindruckende Art und Weise gemeistert. Mit der digitalen Plattform ‚Fit4Surgery‘ wird der Nutzen der Prähabilitation wissenschaftlich belegt, indem Patientinnen und Patienten vor einer Operation durch ein Programm fit gemacht werden, um schneller zu genesen. Bei Vilans in Utrecht erfuhren wir, dass die Definition von Gesundheit seit 1948 nicht mehr angepasst wurde und ein Update braucht, wofür das Konzept ‚Positive Health‘ einen spannenden Ansatz bietet. Technologien wie ein Hüftairbag, Coaching per App und Wearables zu Ernährung und Bewegung stärken die Unabhängigkeit und Resilienz von Seniorinnen und Senioren. Eine weitere Besonderheit in den Niederlanden sind Bürgerinitiativen, wie z. B. Nachbarschaftsteams, die in einem generationenübergreifenden Netzwerk zur Integrierten Versorgung beitragen. Das ‚Huis van de Tijd‘ setzt wirkungsvolle neue Ansätze zur Integration und damit zu einer Verbesserung des Umgangs mit Demenzerkrankten um.

Mit Desing Thinking zu menschenzentrierten Innovationen 

Die Methode des Design Thinking hat uns auf der Reise beeindruckt. Daher haben wir sie für das Verfassen dieses Beitrages direkt angewandt. Wir rufen dazu auf, sich verstärkt mit dieser Methodik zu beschäftigen, sie im Arbeitsalltag einzusetzen und auszuprobieren. Denn innovatives Denken wird in Deutschland insbesondere für die Entwicklung und Umsetzung von Integrierter Versorgung benötigt. Welches Potenzial kann die Methode im Krankenkassenumfeld bieten?
Design Thinking ist eine systematische Herangehensweise an komplexe Problemstellungen, die sich iterativ an Nutzerwünschen und -bedürfnissen orientiert. Aus der Perspektive von Nutzen, Umsetzbarkeit und Marktfähigkeit bringt sie Innovation hervor. Die Methode besteht aus sechs Phasen: Verstehen, Beobachten, Synthese definieren, Ideen finden, Prototypen entwickeln und Testen. Philips hat diesen Ansatz ‚Cocreate‘ genannt und für sich in die vier Phasen Entdecken, Rahmen, Idee und Bauen weiterentwickelt. Für die zukünftige Arbeit im Gesundheitswesen ist folgender Kerngedanke besonders wichtig: die Lösungsfindung aus der Perspektive der Kundinnen und Kunden heraus zu entwickeln. Gemeinsam mit ihnen muss man ein Verständnis für die Herausforderung erarbeiten, indem sektorenübergreifend gearbeitet und Silodenken abgebaut wird. Mit den Erkenntnissen können innovative Lösungen, neue Ideen und Prototypen hervorgebracht werden. Anwendung kann die Methode z. B. bei der Entwicklung bzw. Beschaffung neuer digitaler Tools und Dienstleistungen oder bei Prozessanalysen finden - prinzipiell für jede Herausforderung mit mehreren Stakeholdern, die einen umsetzbaren Plan benötigt. Sie kann in kleinem Rahmen beispielsweise innerhalb von Organisationen in Workshops oder auch im größeren Maßstab bei Hackathons oder Connectathons angewendet werden.

Richtige Versorgung, zur richtigen Zeit, am richtigen Ort durch geeignete Leistungserbringer

Integrierte Versorgung lautete die Überschrift der Studienreise. Doch was genau ist unter Integrierter Versorgung überhaupt zu verstehen? Wir haben schnell erkannt, dass es nicht die eine Definition und nicht das eine vollumfängliche konzeptionelle Verständnis Integrierter Versorgung gibt. Neben den in der Literatur unzählig zu findenden Theorien und Modellen, kommt es aus unserer Sicht vor allem auf die Elemente und deren Umsetzung an, die Integrierte Versorgung ausmachen. Ziel einer Integrierten Versorgung ist die bessere Zusammenarbeit und Information aller, die an der Behandlung eines Patienten beteiligt sind. Im Mittelpunkt steht die Verbesserung und Erhaltung der Gesundheit der Patientinnen und nicht die Optimierung der Versorgungsstrukturen an sich.

    One person supported by people acting as one team from organisations behaving as one system

    Der Ansatz klang für uns erst einmal plausibel. Aber warum ist es so schwierig, von einem fragmentierten zu einem integrierten, sektorenübergreifenden Versorgungsmodell zu gelangen, in dem die Patientinnen und Patienten und ihr soziales Umfeld im Mittelpunkt stehen? Vier Bausteine, die uns auf der Studienreise beim Kennenlernen der unterschiedlichen Fallbeispiele immer wieder begegneten, sind dabei aus unserer Sicht entscheidend, um das so oft verwendete Schlagwort Integrierte Versorgung auch wirklich zum Leben zu erwecken:

    1. Kommunikation: Integrierte Versorgung ist vor allem eine Frage der offenen Kommunikation und des Vertrauens. Kommunikation muss effizient zwischen den Leistungserbringern sowie empathisch und zugewandt den Menschen gegenüber erfolgen.

    2. Leadership und Kompetenzen: Integrierte Versorgungsmodelle leben von Menschen, die eine Vision und die Fähigkeit haben, Veränderungen anzustoßen, andere zu inspirieren und mitzureißen. Daneben braucht es aber auch Managerinnen und Manager, die professionelles Wissen und Verständnis über das gesamte Gesundheits- und Sozialsystem mitbringen. Gefragt sind Fähigkeiten, wie Kommunikations- und Teamfähigkeit, auf die Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten und ihrer Familien eingehen zu können, aber auch diese zu bestärken, sich aktiv in den Behandlungsprozess einzubringen und sich um die eigene Gesundheit zu kümmern.

    3. Kulturwandel: Innovative Versorgungsansätze wie das Beispiel der Integrierten Versorgung können in der Praxis nur gelingen, wenn es zu einem echten Kulturwandel kommt und die Bereitschaft auf institutioneller und individueller Ebene vorhanden ist, Lern- und Entwicklungsprozesse mitzugehen und aktiv mitzugestalten. Die Menschen müssen und wollen mitgenommen werden. Grundlage dafür sind gemeinsame Werte und eine gemeinsame Vision.

    4. Digitalisierung: Eine sektorenübergreifende Integrierte Versorgung steht und fällt mit der Digitalisierung. Eine kooperative Zusammenarbeit ist nur möglich durch die Gewährleistung von Interoperabilität. Es muss sichergestellt sein, dass die verschiedenen IT-Lösungen der am Behandlungspfad Beteiligten einrichtungs- und sektorenübergreifend kommunizieren können. Die erhobenen medizinischen Daten müssen qualitativ hochwertig und für alle auf Knopfdruck verfügbar sein. Nicht zuletzt geht es darum, durch Ausschöpfung des digitalen Potenzials mehr Zeit für die eigentliche Patientenversorgung zu gewinnen.

    Teilnehmer*innen vor Philips-Gebäude

    Die Vision von Bernhoven: Es muss möglich sein, die Qualität der Patientenversorgung zu optimieren und Kosten zu senken

    Für uns besonders eindrücklich war der Vortrag von Wink de Boer, Gastroenterologe und ehemaliger Medizinischer Direktor des Bernhoven Krankenhauses in Uden, Niederlande. Das Allgemeinkrankenhaus mit ca. 380 Betten hat einen beachtlichen Transformationsprozess hinter sich. 
    Wie viele niederländische Krankenhäuser verzeichnete Bernhoven steigende Kosten. Das Szenario, dass durch Effizienzsteigerungen und Kostensenkungsmaßnahmen weniger Zeit für Patienten bleibt und Abstriche bei Patientensicherheit und Qualität gemacht werden müssen, sollte vermieden werden. Daher wurde von 2014 bis 2018 eine Strategie entwickelt: ‚Better care by less care‘. Der Kerngedanke ist, dass durch den Abbau von Überversorgung und infrastrukturellen Überkapazitäten und dem Aufbau einer prozessorientierten Krankenhausorganisation die Qualität der Versorgung verbessert und der Patientennutzen erhöht werden. Geschäftsmodell und Unternehmenskultur wurden komplett umgekrempelt. Patientenzentrierung und gemeinsame Entscheidungsfindung mit dem Patienten wurden in den Mittelpunkt gestellt. Die Arbeitsbedingungen und Anreize wurden so gesetzt, dass es für Ärzte und Pflegekräfte möglich ist, diesen Ansatz entsprechend umzusetzen und zu leben. Voraussetzung dafür war eine strategische Partnerschaft mit Kostenträgern. Das Krankenhaus als Ganzes erhält einen vereinbarten Erlös. Ebenso wird den medizinischen und pflegerischen Fachkräften ein festes Gehalt ausgezahlt, unabhängig von der Anzahl der durchgeführten Behandlungen und Operationen.

    Wenn die Voraussetzungen stimmen, kann ein echter Kulturwandel auf lokaler Ebene gelingen

    Leadership, Kooperation, Kommunikation und der Wille von der Führungsebene bis hin zum einzelnen Mitarbeitenden an einem Strang zu ziehen, um sowohl top-down als auch bottom-up einen wirklichen Kulturwandel herbeizuführen, waren Grundlage des Erfolgs von Bernhoven. Standardisierte Patientenbefragungen ergaben, dass die Patientenzufriedenheit gesteigert werden konnte. Des Weiteren konnte z. B. durch den Einsatz von erfahrenen Spezialistinnen und Spezialisten in der Notfallversorgung die Hospitalisierungsrate reduziert werden. Die gemeinsame Entscheidungsfindung und Informationsversorgung der Patientinnen und Patienten über Risiken führte zu konservativeren Behandlungsformen. Resultierend daraus nahm die Anzahl der Eingriffe und Pflegetage ab. Daneben sprechen die Zahlen für sich: zwischen 2014 und 2018 konnten die Kosten um 17 Prozent gesenkt werden; seit 2014 ist die Anzahl an Operationen um 26 Prozent gesunken und der pflegerische Zeitaufwand um 28 Prozent. Nicht nur der Transformationsprozess innerhalb des Krankenhauses, sondern auch die Einbettung in ein integriertes Versorgungsnetzwerk mit der Klinik als Dreh- und Angelpunkt trugen zum Erfolg bei.

    Digitalisierung nicht als Selbstzweck, sondern zum Zwecke integrierter Versorgung 

    Eine unserer wichtigsten Erkenntnisse aus der Studienreise ist, dass die Digitalisierung der ‚patient journey‘ Integrierte Versorgung erst ermöglicht. Integration bedeutet auch Kommunikation. Nicht nur auf der Ebene der Patientinnen und Patienten, sondern viel mehr auch auf der Ebene der interdisziplinären Versorgung. Denn das Ziel der besseren Zusammenarbeit der behandelnden Personen kann nur durch den vollständigen Zugang zu allen behandlungsrelevanten Informationen sichergestellt werden. So ist die Einführung der elektronischen Patientenakte (ePA) ein wichtiger Schritt, um im fragmentierten deutschen Gesundheitssystem zu ermöglichen, dass alle behandelnden Personen Zugriff auf die entscheidungsrelevanten Informationen erhalten. 
    Ebenso ist eine stärkere Vernetzung der Akteure nur dann sinnvoll, wenn mehr behandlungsrelevante Daten zur Verfügung stehen. eHealth und Integrierte Versorgung gehen Hand in Hand oder auch: Keine sektorenübergreifende Versorgung ohne eHealth. Unter dem Stichwort ‚ganzheitliches Denken‘ gilt es zukünftig, neue Wege im Kontext der regel- und selektivvertraglichen Versorgung zu entwickeln. Ebenso gilt es, die Patientenautonomie zu stärken, indem Patientinnen und Patienten mit Hilfe digitaler Versorgungsangebote und telemedizinischer Leistungen in das Versorgungsgeschehen einbezogen werden. 

    Abbau von gewachsenen Barrieren und der nachhaltige Umbau von Prozessen

    Die Studienreise verdeutlichte, dass die Umsetzung einer Integrierten Versorgung aus einem fragmentierten Gesundheitssystem heraus auf viele Herausforderungen stößt. Zum einen sind die Patientenpfade heterogen und komplex, zum anderen geht einem strukturellen Wandel immer auch ein kultureller Wandel voraus. Schlussendlich braucht es eine stärkere, an den Bedürfnissen der Patientinnen und Patienten orientierte, intersektorale Versorgung. Ebenso hat die Reise ins Nachbarland gezeigt, dass es neuer Strukturen und insgesamt einer Modernisierung der Versorgungs- und Vergütungsformen bedarf. 

    Culture of a learning Health Care System builds value

    Im Koalitionsvertrag der Ampel-Koalition wird deutlich, dass Deutschland ebenfalls die Vision einer Integrierten Versorgung verfolgt. So wurden bereits wichtige Eckpunkte festgehalten, wie z. B. die Gesundheits- und Pflegepolitik sektorenübergreifender zu gestalten und die flächendeckende Einführung sowie den Ausbau der ePA zu beschleunigen. Dies sind wichtige Elemente, um den Ausbau der Integrierten Versorgung voranzutreiben. Eines wurde auf dieser Studienreise besonders deutlich. Wir brauchen ein neues Verständnis von Versorgung: patientenzentriert, integrativ und losgelöst von starren Sektorengrenzen. Die Studienreise war ein hervorragendes Beispiel für die Überwindung dieser Grenzen und die gemeinsame Fokussierung auf eine bessere Gesundheitsversorgung. 

    Kontakt

    Ellen Kexel
    Referentin Krankenhaus

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