Es liegt wohl nicht allein an der Corona-Pandemie, dass der 30. Jahrestag der Wiedervereinigung mit dem alljährlichen Einheitsfest am 3. Oktober 2020 nicht mit Pomp und Gloria gefeiert wurde und die üblichen Festreden wesentlich nüchterneren Betrachtungen gewichen sind. Das ist auch nicht allein auf die zurückhaltende Art des diesjährigen Gastgeberlandes Brandenburg und seines Ministerpräsidenten Dietmar Woidke zurückzuführen. Vielmehr scheinen der nationale Taumel um „blühende Landschaften“ (so der allseits bekannte Ausspruch des Kanzlers der Einheit, Helmut Kohl“) oder die unreflektierte Ostalgie ewig Gestriger einer differenzierteren Betrachtungsweise der jüngeren Vergangenheit gewichen zu sein. Der folgende Artikel versucht, diesen Differenzierungen nachzuspüren und Anregungen zu geben, sich selbst ein Bild zu machen.
Der Beitritt war keine Wiedervereinigung
Verfassungspolitisch und staatsrechtlich ist es unzweifelhaft: Trotz mehrerer Staatsverträge zwischen der alten Bundesrepublik und der untergegangenen DDR hat es eine echte Wiedervereinigung nie gegeben. Der Zusammenschluss unter Gleichen hat nie stattgefunden (Kowalczuk 2019). Vielmehr sind fünf neue Bundesländer und der östliche Teil Berlins der Bundesrepublik Deutschland beigetreten. Dabei wurde im Wesentlichen die westliche Wirtschafts-, Gesellschafts- und Rechtsordnung übernommen. Zwar gab es Übergangsbestimmungen und vereinzelt Sonderregelungen, jedoch bleiben diese zeitlich oder regional beschränkt. Während im Osten Strukturen zerfielen, Lebensläufe entwertet und Erwartungen enttäuscht wurden, änderte sich im Westen mit Ausnahme der Übernahme finanzieller Lasten relativ wenig. Lediglich der ab dem Jahreswechsel für fast alle Bürgerinnen und Bürger entfallene Solidarzuschlag zur Einkommenssteuer erinnert noch daran. Fast vergessen bleibt dabei, dass ein erheblicher Teil des Finanzausgleichs zwischen West und Ost aus den Kassen der Sozialversicherung stammen, ohne dass die deshalb prognostizierte Krise (Ritter 2007) oder gar der Zusamenbruch des Sozialstaats eingetreten wäre.
Deutschland wurde von den östlichen Nachbarländern befruchtet
Die ursprüngliche Idee vieler Idealisten aus Ost und West, eine neue nationale wie supranationale Ordnung quasi am Runden Tisch zu erarbeiten oder gar einen dritten Weg zwischen den Machtblöcken zu suchen, blieb Utopie – auch weil der östliche Block unter der „Führung der glorreichen Sowjetunion“ zerbröselte. Michail Gorbatschow, dessen Popularität allein auf Deutschland beschränkt blieb, traf die ungeliebte Pflicht, die Konkursmasse aus achtzig Jahren ideologischer Verblendung, totalitärer Verstrickung und ökonomischer Unvernunft zusammenzukehren, die militärische Präsenz in Mittel- und Osteuropa zu beenden und die „Bruderstaaten“ in Freiheit und Selbstbestimmung zu entlassen. Speziell in Deutschland blieb lange unbeachtet, welche bedeutsame Rolle Bürgerrechtsbewegungen wie die Solidarnosz in Polen oder die Charta 77 in der Tschechoslowakei für die Umwälzungen hierzulande gespielt haben (Ash 2019). Es war deshalb nur konsequent, dass Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zum 30-jährigen Erinnern seine Amtskollegen aus den östlichen Nachbarländern geladen hatte und ihnen den Dank für die mutigen politischen und intellektuellen Anstöße zur Entwicklung in Deutschland aussprach.
Damit das keine einmalige Angelegenheit bleibt, empfiehlt es sich, genauer hinzusehen, welche politischen, ökonomischen und sozialen Erfahrungen diese Länder nach 1989 gemacht haben (sehr ausführlich Spohr 2019) und wie diese ihr Verhältnis zur liberalen Demokratie westlicher Prägung und speziell zur Europäischen Union prägen (Krastev/Holmes 2019I). Dies soll weder die Attacken rechts-autoritärer Regime gegen freiheitliche Grundwerte und demokratische Rechtsstaatlichkeit legitimieren noch die Gegensätze zwischen liberalen Eliten, die zumeist in prosperierenden urbanen Räumen leben, und Modernisierungsverlierern auf dem Land oder in alt-industrialisierten Gebieten verharmlosen. Aber gerade im Hinblick auf die Entwicklung der internationalen Beziehungen und der Europäischen Union wäre es angebracht, nicht nur pragmatisch den Status Quo zu verwalten, sondern die Geschichte globaler zu interpretieren und mutige Zukunftsentwürfe zu entwerfen und transnational zu diskutieren (Beispielhaft Guerot 2017; Habermas 2011). Nicht wenige Stimmen bedauern, dass dem rheinischen Kapitalismus das sozialistische Konkurrenzmodell abhanden gekommen ist, so sei zumindest in Deutschland verhindert worden, dass der Marktwirtschaft das Adjektiv „sozial“ gestrichen worden wäre (Collier 2019).
Ambivalenz dominiert die Bilanz
Es ist deshalb erfreulich, dass der 30. Jahrestag des Beitrittsvollzuges nicht in Hurra-Patriotismus mündet und nicht zur Legendenbildung über eine uneingeschränkt positive Leistungsbilanz der Einheit oder eine Verzerrung der Enttäuschungen genutzt wird. Es mehren sich die Stimmen, die durchaus ambivalente Entwicklungen konstatieren. Exemplarisch dafür stehen die Beobachtungen des Berliner Soziologen Steffen Mau (siehe Interview in diesem Heft und Mau 2019) oder das politische Gespräch zwischen Wolfgang Engler und Jana Hensel (Engler/Hensel 2018). Solche differenzierten Betrachtungen kommen zum Ergebnis, dass Schwarz-Weiß-Betrachtungen allein der Realität der vielen Grautöne nicht gerecht werden. Weder sind die neuen Bundesländer ein Abbild der alten Bundesländer geworden, noch lassen sich viele allgemein gültige gesamtdeutsche Feststellungen treffen. Auch in den alten Ländern bestehen deutliche regionale Unterschiede beispielsweise bei den gesundheitlichen, sozialen und ökonomischen Kennziffern zwischen Oberbayern und dem Ruhrgebiet. Oder es fällt das Bildungsgefälle von Süd nach Nord auf. Und in den neuen Bundesländern lassen sich Leipzig und Dresden nicht nur in der medizinischen Versorgung schlecht mit der Uckermark oder Vorpommern vergleichen.
Der Osten hat das Potenzial zum Innovationsmotor zu werden.
Doch ist es weiterhin auffällig, dass in den Chefetagen von Firmen und Institutionen – selbst in den wenigen, die ihren Sitz in den neuen Bundesländern haben – kaum Menschen mit ostdeutschem Werdegang und kaum Frauen sitzen. Insoweit ist die in diesem Heft porträtierte Vorständin der VBU eine doppelte Ausnahme. Die Medien tun sich unverändert schwer, die Lebensrealitäten im Osten abzubilden. Der Rechtspopulismus wird oft als ostdeutsches Phänomen angesehen und die westdeutsche Sozialisation des AfD-Spitzenpersonals ausgeblendet. Umgekehrt ist die Opferhaltung selbst aus kritisch aufgeklärten Stimmen des Ostens nicht verschwunden. Exemplarisch sei auf den provokanten Buchtitel „Integriert doch erst mal uns!“ der sächsischen Ministerin für Soziales und gesellschaftlichen Zusammenhalt Petra Köpping verwiesen, der auf „unbewältigte Demütigungen, Kränkungen und Ungerechtigkeiten“ fokussiert ist (Köpping 2018). Richtig daran ist, speziell die verfehlten politischen Entwicklungen in den Neunziger Jahren wie die Treuhand-Politik (Böick 2018), der Austausch der Eliten oder die Abwertung von Berufsabschlüssen in den Blick zu nehmen (Umfassend Großbölting 2020). Dabei ist zu berücksichtigen, dass es keine Blaupause für diese gewaltige Transformation gab und die anderen ehemals sozialistischen Staaten keine Finanziers aus dem Westen hatten. Eine von Köpping geforderte gesamtdeutsche Aufarbeitung der Nachwendezeit macht nur dann Sinn, wenn sich daraus konkrete Vorschläge zur Gestaltung der Zukunft ableiten.
Die Potenziale für Innovationen sind noch nicht ausgeschöpft
Der Osten hat durchaus – wie der Verfasser schon vor zehn Jahren festgestellt hat – das Potenzial zum Innovationsmotor zu werden (Knieps 2010). Und in den neuen Bundesländern sind eine Vielzahl von Leuchtturmprojekten entstanden, die in diesem Magazin gewürdigt wurden und werden. Statt darüber zu räsonieren, was warum nicht erreicht worden ist, gilt es festzustellen, wie komplex die Aufgaben nach 1989 waren (Paque 2009) und welche Irrtümer über die deutsche Einheit (Schröder 2014) schnell mystifiziert wurden. Vor allem ist auf die deutsche Frage die Antwort zu geben, dass wir Unterschiede aushalten müssen (Bisky 2005), Verschüttetes freilegen (Martin 2020) und dass wir aus Unterschieden lernen und Kraft zu Veränderungen finden können (Mau 2019). Das gilt speziell für die jüngeren Generationen, die nicht mehr die individuellen Nackenschläge in den Jahren nach der Wende (Hacker et al. 2012) hinnehmen mussten und denen sich – etwa im Gefolge der digitalen Transformation – neue Möglichkeiten bieten. Es wird spannend sein zu beobachten, ob und wie die, die schon einmal eine große Transformation erlebt haben, sich auf die Digitalisierung und ihre Wirkungen auf Arbeit, Wirtschaft und Sozialleben einstellen können und wollen. Speziell im Umfeld der Universitäten ist zu beobachten, dass Forschungsergebnisse schnell den Weg in die Praxis finden. Die Erfolge einer schnellen Translation zeigen sich für das Gesundheitswesen beispielhaft in den Projekten der Community Medicine ausgehend von der Universität Greifswald oder den Telemedizin-Initiativen im Umfeld der Charité in Berlin-Brandenburg oder um die Technische Universität Dresden in Sachsen. Gleichwohl wird man bei genauerer Analyse, die den Rahmen dieses Beitrags sprengen würde, feststellen, dass vorhandene Potenziale längst nicht ausgeschöpft sind, auch weil die Angst vor weiteren Veränderungen weit verbreitet ist und der Mut zum Risiko gesellschaftlich und finanziell nicht adäquat honoriert wird.
Das Gesundheitswesen ist längst gesamtdeutsch, die Verhältnisse sind jedoch regional sehr verschieden
Ein kurzer Blick auf das Gesundheitswesen zeigt, dass Strukturen und Prozesse längst gesamtdeutsch organisiert sind, aber deutliche regionale Unterschiede aufweisen. Das Robert-Koch-Institut hat schon vor über 10 Jahren festgestellt, dass sich die gesundheitlichen Verhältnisse zwischen Ost und West – im Positiven wie im Negativen – schnell angeglichen haben (RKI 2009, bestätigt durch RKI 2015). Dies schließt erhebliche regionale und schichtspezifische Varianzen nicht aus. Der Prozess der institutionellen Transformation ist im Gesundheitswesen schneller als in fast allen anderen politischen Handlungsfeldern abgeschlossen worden (Knieps 2010). Flächendeckend arbeiten schon seit Anfang der neunziger Jahre Krankenkassen, Kassenärztliche Vereinigungen, Krankenhausgesellschaften und alle anderen Akteure, deren Konstruktion und leider oft auch Führungspersonal schon ab 1990 aus dem Westen importiert wurden.
Trotz aller ideologischen Ablehnung (Die Freiberuflichkeit sei durch eine sozialistische Staatsmedizin bedroht hieß es in der verfassten Ärzteschaft. Heute bedrohe der amerikanische Heuschreckenkapitalismus in Form von Hedgefonds und institutionellen Anlegern angeblich genau diese Freiberuflichkeit.) und teilweise schikanösen Behinderungen durch die Körperschaften haben sich Ambulatorien und Polikliniken – neudeutsch Medizinische Versorgungszentren (MVZ) betitelt, nachdem sie in allen ostdeutschen Bundesländern außerhalb von Berlin-Brandenburg abgewickelt waren und der Betriebsbezug von gesundheitlicher Versorgung eliminiert wurde, dank der Penetranz von Regine Hildebrandt und Ulla Schmidt von einer temporären Übergangslösung zu einem gesamtdeutschen Erfolgsmodell entwickelt. Ausschlaggebend dafür waren aber wenige politische Initiativen. So haben bisher Kommunen kaum von ihrem Recht Gebrauch gemacht, selbst Träger von Medizinischen Versorgungseinrichtungen zu werden. Auch die Weiterentwicklung zu Multiprofessionellen Grundversorgungszentren steht noch aus. Wesentliche Ursachen für den starken Anstieg der Zahl der MVZ und der dort tätigen Angestellten sind die anhaltende Ambulantisierung der Medizin und die veränderten Anforderungen der jungen, zumeist weiblichen Medizinergenerationen. Letztere sind weder bereit, sich für einen Praxiskauf erheblich zu verschulden und an einen bestimmten Ort zu binden, noch die Vereinbarkeit von Familie und Beruf in Frage zu stellen. Gerade der soziale und demografische Wandel ist eine gesamtdeutsche Herausforderung. Allerdings trifft diese Herausforderung weite Teile der neuen Bundesländer härter als die meisten alten Bundesländer. Zum einen ist der Osten Deutschlands dünner besiedelt, zum anderen ist die Abwanderung der arbeitsfähigen Bevölkerung in Richtung Westen erst in jüngster Zeit fast zum Stillstand gekommen. Der Fachkräftemangel ist im Osten früher und härter zu spüren als im Westen, nicht nur im Gesundheitswesen. Die höhere Akzeptanz und Wertschätzung für die Kompetenzen der Gesundheitsberufe – exemplarisch sei auf die Gemeindeschwester im sog. Schwester AGNES-Projekt verwiesen – sowie innovative Mobilitäts- und Digitalprojekte vermögen nicht vollständig dem Mangel abzuhelfen, sind aber gleichwohl beispielgebend für das gesamte Land (Beispiele bei Knieps/Pfaff 2020). Da die Demografen den neuen Bundesländern eine schnellere Alterung und eine stärkere Abnahme der Bevölkerung vorhersagen, sind Innovationen besonders gefragt. Das gilt nicht nur für Pflege- und Reha-Leistungen, wo schon heute ein höherer Bedarf festzustellen ist. Auch die flächendeckende ambulante und stationäre Grundversorgung ist gefährdet, zumal das Stadt-Land-Gefälle im Osten durch die Deindustrialisierung stärker ausgeprägt ist. Ausnahmen wie die Region Leipzig oder der brandenburgische Speckgürtel um Berlin bestätigen die Regel.
Fazit: Die neuen Länder sind nicht die Avantgarde, aber ein Laboratorium für die Zukunft
Selbst wenn sich die Erwartungen Wolfgang Englers, die Ostdeutschen seien die Avantgarde für künftige Veränderungen (Engler 2002), aufgrund der oben skizzierten Entwicklungen nicht gänzlich erfüllt haben, so wird man die neuen Bundesländer weiterhin als ein Laboratorium des Wandels ansehen dürfen. Dafür spricht auch die Bereitschaft vieler Ostdeutscher, auf neue Herausforderungen pragmatische Antworten zu finden (Überzeugende Beispiele bei Thelen/Victor 2018). Neben harten ökonomischen Fakten spielen kulturelle Prägungen und Rückbesinnungen (Martin 2020), mentale Befindlichkeiten und psychische Stärken eine Rolle für die Gestaltung der Zukunft. Das ist für Betriebskrankenkassen keine Überraschung. Denn zum BKK-Markenkern gehört die Bewahrung und Stärkung der mentalen Gesundheit. Auch haben wir durchaus Interesse, an die Traditionen betrieblicher Gesundheitseinrichtungen anzuknüpfen. Warum sollte es aktuell in der Pandemie beispielsweise keine betrieblichen Testzentren und Impfstationen geben? Auch betriebliche Versorgungszentren wären wieder denkbar. Manche Errungenschaften der Gesundheits- und Sozialpolitik im östlichen Deutschland warten darauf, aus dem Dornröschenschlaf erweckt zu werden. Wir werden deshalb dem Innovationsprozess in den neuen Bundesländern weiterhin besondere Aufmerksamkeit widmen.