BKK vor Ort

Moderne Technik und ihre Grenzen

von Torsten Dittkuhn, Politik und Kommunikation

Mit Schienen- und Bahntechnik verbindet längst niemand mehr analoge oder manuelle Technik. Die Digitalisierung ist mittlerweile weit fortgeschritten und die Technik ebenso. Das Siemens-Mobility-Werk in Braunschweig fungiert dabei als Denkfabrik für Signaltechnik und den digitalisierten Schienenverkehr. Hier werden Hightech-Lösungen für die Bahnautomatisierung entwickelt. Aber es gibt auch Parallelen zu unserem Gesundheitswesen. Denn wie bei der Digitalisierung im Gesundheitswesen gibt es auch bei der Entwicklung des Schienennetzes Limitierungen, die nicht sein müssten. Ein inspirierender Besuch und Austausch.

Bildcollage der Siemens AG


Der Werksbesuch des mit rund 3.600 Beschäftigten weltweit größten Standorts für die Entwicklung von Signaltechnik fand im Rahmen des Projekts diabetes@work statt. Einem Projekt, das es Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern mit Diabetes-Erkrankung ermöglicht, ihre berufliche Tätigkeit weiter auszuüben. Um sich sozusagen aus erster Hand ein Bild zu verschaffen, wie das Projekt und auch Gesundheitsprävention im betrieblichen Alltag im Werk umgesetzt werden, waren neben Dr. Gertrud Demmler, Vorständin der Siemens Betriebskrankenkasse und Anne-Kathrin Klemm, Vorständin des BKK Dachverbands, auch Dr. Christos Pantazis, Bundestagsabgeordneter mit Sitz im Ausschuss für Gesundheit und Abgeordneter des Wahlkreises Braunschweig Nord, vor Ort.

INNOVATIVE TECHNIK TRIFFT AUF REALITÄT

Der Rundgang durch die Werkshallen und die Ausführungen des Werksleiters machtenden Kontrast zwischen der Zukunftstechnik und der Technik, die teilweise immer noch in Gebrauch ist und damit auch die Parallelen zum Gesundheitswesen sehr deutlich. Die erste Station der Tour über den Siemens Campus ist das neue Lager, der sogenannte „Autostore“. Hier erkennt man bereits, was Technologie und Digitalisierung leisten können. Ein Hochregal mit Staplerfahrer sucht man vergebens. Auf einer relativ kleinen Fläche stapeln sich auf 13 Stockwerken mehr als 32.000 kleine schwarze Boxen, die von 16 Robotern angesteuert werden. Der Inhalt wird über das interne Logistiksystem verteilt. Koordiniert wird das gesamte System, das rund 40 Prozent Lagefläche einspart, über einen Algorithmus. Obwohl die Roboter kein Crash-Safety-System besitzen, ist es nicht möglich, dass sie miteinander kollidieren, da jeder Roboter die „Route“ der anderen kennt und bei einem möglichen Ausfall durch einen der anderen Roboter ersetzt werden kann. Die zweite Station der Besichtigung findet unter der Überschrift „Norwegen“ statt und liefert einen weiteren Hinweis innovativer Technik, die in Braunschweig entwickelt wird.
In einem kleinen Showroom steht in einer Ecke ein Schrank mit einer Glasfront. Er hat die Maße eines großen Kühlschranks mit Gefrierfach: Etwa 60 Zentimeter breit, 60 Zentimeter tief und etwa zwei Meter hoch. Mit einigen Luftschlitzen bestückt, wirkt der grau-beige Kasten sehr unscheinbar. Und auch der Blick durch die Glastür lässt den Betrachter nicht erahnen, welche Technik in dem Schrank steckt. Aber im Volksmund spricht man ja auch nicht von ungefähr von den „inneren Werten“, auf die es ankommt. Das gilt hier auch. Das Original dieses Kastens steht in Norwegen und steuert den gesamten Schienenverkehr des skandinavischen Landes – das entspricht ungefähr der Größe des Schienennetzes von Niedersachsen, nur auf einer sehr viel größeren Fläche. Es ist also ein Stellwerk, das alle Informationen per Funk von kleinen gelben Platten erhält, die wie Fußabtreter aussehen und die in Sekundenbruchteilen Daten erfassen und übertragen, wenn der Zug mit einer Geschwindigkeit von 67 km/h über sie hinwegrollt.

Das individuelle Gesundheitsverhalten geht in der „Solidargemeinschaft Gesundheit“ insofern auf, dass jeder quasi als „Social-Healthcare-Clickworker“ seinen (kleinen) Teil zum Gelingen des großen „Projekts“ planetare Gesundheit beiträgt.

EIN WERK MIT HIGHTECH UND ANALOGEN ARBEITSPLÄTZEN

Auch unser Gesundheitswesen pflegt und erhält Technik und Strukturen, die veraltet sind. Die Hürden legen der Gesetzgeber und/oder auch einzelne Akteure im System fest, die dem Fortschritt im Weg stehen. Die Beispiele sind zahlreich. Die elektronische Patientenakte (ePA) ist eines davon. Die ePA ist im Prinzip so ein Stellwerk-Schrank im Hosentaschenformat. Sie könnte lückenlos die Krankheitsgeschichte von Versicherten dokumentieren, dadurch unnötige Doppel- und Mehrfachuntersuchungen vermeiden, das gesamte Gesundheitsmanagement in die Hände von Patientinnen und Patienten legen und Effizienzreserven durch Digitalisierung heben. Stattdessen sind die Leistungserbringer in Deutschland immer noch nicht vernetzt und Praxen und Gesundheitsämter nutzen weiterhin Faxgeräte. Und die Abrechnungsdaten von Ärztinnen und Ärzten werden auch nicht, wie bei den „kleinen gelben Fußabtretern“, in Echtzeit übertragen, sondern kommen mit bis zu neun Monaten Verzögerung dort an, wo sie verarbeitet werden müssen.

GESUNDHEITSSYSTEM HINKT BEI INNOVATIONEN HINTERHER

Das sind nur zwei Beispiele, die im Widerspruch zu den Möglichkeiten stehen, die vieles erlauben und vieles möglich machen würden. Visionen, wie beispielsweise der Einsatz von Künstlicher Intelligenz oder Big Data im Bereich von Disease Interception, um perspektivisch ein präventives Gesundheitssystem zu ermöglichen und nicht ein reagierendes Krankheitssystem, sind hier noch ganz weit weg. Über diese „Trasse“ denken andere allerdings längst nach, während wir noch darum streiten, über welchen (Um) Weg Versicherte ihren Zugang zur ePA legitimieren können. Der Widerspruch zur Technik, die wir alle ganz selbstverständlich privat nutzen, könnte nicht größer sein. Umso erstaunlicher, dass die Digitalisierung nicht mit mehr Verve von verschiedenen Akteuren selbst getrieben wird. Stattdessen erleben wir gerade im Social Media-Bereich unter dem Hashtag #PatientendatenInGefahr eine Kampagne aus Gesundheitsberufen gegen die Nutzung von Versichertendaten.

DIE GESUNDHEITSVERSORGUNG NEU DENKEN

Um die elektronische Patientenakte, den Präventionsansatz sowie die Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung drehte sich auch der Austausch der Werksbesucherinnen und Werksbesucher vor und nach dem Rundgang über das Werksgelände. Dabei stellte Dr. Pantazis heraus, dass die Gesundheitspolitik einen Ansatz benötige, der die Verhinderung von Krankheitsereignissen in den Fokus stelle: „Prävention muss integraler Bestandteil von Gesundheitspolitik werden. Es müssen die gesetzlichen Grundlagen geschaffen werden, dass die präventiven Ansätze in den Betrieben unterstützt und gestärkt werden.“ Die elektronischen Patientenakte könne – so seine Überzeugung – eine entscheidende Rolle spielen, um die Verhinderung von Krankheiten deutlich zielgenauer anzugehen. Das ist im Prinzip der Kerngedanke der Qualitätsoffensive der Betriebskrankenkassen: Den Wettbewerb nicht über den Beitrag zu fördern, sondern über die Versorgungsqualität, die sich auch durch erfolgreiche Präventionsprojekte „messen“ lässt. Der Schlüssel liegt dabei in der sektorenübergreifenden Zusammenarbeit und Vernetzung. Diese fehlt und dies macht das System ineffizient und gemessen an den Kosten, die entstehen, die Outcomes durchschnittlich bis unterdurchschnittlich.
Dazu tragen unter anderem auch Regelungen des Gesetzgebers bei. Dr. Demmler verdeutlicht dies an dem Beispiel, dass Betriebsärzte in der Überleitung von Prävention keine digitalen Gesundheitsanwendungen verordnen dürfen und Mitarbeitende hierfür an die ambulante Praxis verweisen müssen, obwohl das Präventionsprogramm im Betrieb angesiedelt ist. Ihre Forderung ist unmissverständlich: „Wir müssen Gesundheitsversorgung neu denken. Prävention in übergreifenden Settings denken und auch den Arbeitsplatz, die Betriebsmedizin und die Gesundheitsförderung in die Kette der Gesundheitsversorgung integrieren.“ Ein Plädoyer für eine patienten- bzw. menschenzentrierte Versorgung. Die Relevanz dieser, nicht nur perspektivisch, sondern schon jetzt, stellt Frau Klemm noch einmal heraus, indem sie das Thema Prävention in den Kontext des Klimawandels stellt. Viele Möglichkeiten können aktuell nicht ausgeschöpft werden, da die gesetzlichen Rahmenbedingungen das nicht hergeben. Das schränkt die Krankenkassen in ihrem Handlungsspielraum beispielsweise in Leistungsverträgen mit Versicherten stark ein. „Da benötigen wir deutlich mehr Freiheit, deutlich mehr Vernetzung und deutlich mehr Möglichkeiten, um das, was wir an Klimaveränderungen sehen, im Zusammenhang mit Prävention und Versorgung zu gestalten und umzusetzen“, betont sie. Im Prinzip greifen alle genannten Punkte ineinander und lassen sich zu einer gesundheitspolitischen Leitlinie ausarbeiten.

BKK Magazin 1/2023

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EINE PERSPEKTIVE FÜR DIE ZUKUNFT

Denken wir Gesundheit patientenzentriert, also aus der Perspektive der/des einzelnen Versicherten, liegt es auf der Hand, das Umfeld – Arbeitsplatz, Bildung, Wohnort, Einkommen – und dadurch bedingte mögliche Gesundheitsrisiken zu berücksichtigen. Damit verliert Gesundheit jedoch nicht wieder den kollektiven und solidarischen Charakter, der im Laufe der Pandemie, den Trend der Eigenverantwortung der letzten Jahre etwas verdrängt hat. Im Gegenteil. Wenn das Gesundheitswesen den präventiven Ansatz stärkt, sodass jede oder jeder Einzelne Verhaltensmuster beispielsweise in den Bereichen Ernährung und Bewegung ändert, trägt dies zu Kosten- bzw. Ressourceneinsparungen bei und hat damit Einfluss auf das Gesundheitssystem wie auch auf unser Klima. Das heißt, dass der persönliche Lebensstil, die eigene Gesundheitskompetenz und auch das betriebliche Setting elementare Einflussfaktoren auf die kollektive Gesundheit sind. Das individuelle Gesundheitsverhalten geht in der „Solidargemeinschaft Gesundheit“ insofern auf, dass jeder quasi als „Social Healthcare-Clickworker“ seinen (kleinen) Teil zum Gelingen des großen „Projekts“ planetare Gesundheit beiträgt: Gesundheits-Crowdsourcing, wenn man so will! Dabei kommt neben dem einzelnen Akteur der Digitalisierung eine entscheidende Rolle zu. Sie schafft durch Früherkennung, Big Data und dem Einsatz von künstlicher Intelligenz in der Diagnose die Grundlage für eine dezidierte Analyse, die uns anleitet woran wir – abgesehen von unserem Lebenswandel – an uns „arbeiten“ müssen. Die Digitalisierung gibt dann jedem Einzelnen Tools in Form von Wearables, Fitnessapps oder digitalen Gesundheitsanwendungen an die Hand um das umzusetzen oder zu kontrollieren. Und letztendlich ist ohne die Digitalisierung kein Gesundheitsmanagement möglich, weshalb den Krankenkassen die Kompetenz erteilt werden muss, Versichertendaten so nutzen zu können, dass eine individuelle Ansprache möglich ist, damit sie ihre Rolle als Lotse durch den Gesundheitsdschungel wahrnehmen können. Das ist elementar, denn nur dann können Krankenkassen aktiv gestalten.

KEINE COPY & PASTE-VERSORGUNG

Bisher hatte man häufig den Eindruck in unserem Gesundheitssystem wird immer nach Blaupausen gesucht. Die galten lange Zeit als moderne technische Reproduktionslösung. Zum Beispiel für Schaltpläne. Damit wurde das Wort Blaupause populär. Aber mit der Popularität kam auch die Kritik an der Massenproduktion und Normung. Auch im Gesundheitswesen war man lange der Meinung – teilweise ist man es noch – Bewährtes einfach übertragen zu können. Warum nicht kopieren, was Erfolg hat? Aber das Mindset hat sich geändert. One size fits all- oder Präventions-Lösungen „von der Stange“ wollen wir Krankenkassen längst nicht mehr, weil wir erkannt haben, dass Erfolgsfaktoren und geschaffene Strukturen keine Allgemeingültigkeit besitzen. Wir wollen die Weichen stellen für ein modernes Gesundheitswesen, das über den Tellerrand hinausschaut und eine aktive, gestaltende Rolle einnimmt. Dafür benötigen wir in einigen Bereichen dringende Reformen und im Prinzip so einen grau-beigen Kasten, der das alles steuert. Digital. Ist besser.