Interview

Veränderung schnell adaptieren und sie produktiv machen

Interview mit Andrea Galle, Vorständin der BKK VBU

Andrea Galle, Vorständin der BKK VBU blickt im Interview mit uns auf das Entstehen einer Betriebskrankenkasse und auf die Umwälzung einer Gesellschaft und eines Gesundheits-systems zurück. Daraus wird ein Blick nach vorn mit Lösungen, die aus unterschiedlichen Perspektiven und mit anderen Erfahrungen im Osten entstehen. Im Zuge der deutschen Vereinigung wurden vor 30 Jahren die zentralen Strukturen und Institutionen der Bundes-republik auf das sogenannte „Beitrittsgebiet“ der vormaligen DDR ausgedehnt. Auch alle Institutionen des westdeutschen Sozialstaates und Gesundheitssystems wurden weitgehend unverändert in die neuen Länder transferiert. Damit verbunden war ein erheblicher Eliten-transfer von West nach Ost. Ganz gegen diesen Trend ist Andrea Galle als Vorständin der Betriebskrankenkasse aus dem Unternehmen herausgewachsen: Im Autobahnbaukombinat – zur Wende umfirmiert Verkehrsbau-Union GmbH – hatte die junge Ökonomin und Arbeits-wissenschaftlerin das neue Personalmanagement begleitet: Die Chance der Gründung der Betriebskrankenkasse hat Andrea Galle genutzt, sie hat das Potenzial erkannt, „das dem nahekommt wie ich meine Arbeit machen möchte“, wie sie im Interview sagt. Aber eben auch das Potenzial, ein völlig neues Unternehmen zu führen in einem neuen Gesellschaftssystem.

Portrait Andrea Galle

Andrea Galle, nehmen Sie uns mit in die Zeit des Neubeginns, zu den Bruchstellender Entstehung Ihrer persönlichen Erfolgsgeschichte – aber auch zu den Unterschieden, die wir feiern wollen, weil wir in der Geschichte nach der Expertise der Ostdeutschen graben, die aktuell in diesem Land gefragt ist: Innovation und Zukunftschancen besser anzunehmen aus der Erfahrung eines gesellschaftlichen Umbruchs. Wie dicht lagen für Sie Freud und Leid beisammen?

»Zunächst wurde die Veränderung mit sehr viel Freude wahrgenommen, im Nachhinein betrachtet, sicher auch mit einer gewissen Naivität und späteren Ernüchterung, wenn man die rasch folgenden Ein- und Umbrüche berücksichtigt. Dieser Umbruch ist an vielen Menschen nicht spurlos vorübergegangen. Die Generation der damals Mitte 50-jährigen hatte es schwer auf dem Arbeitsmarkt wieder anzukommen und wurde über verschiedene Gesetze sehr frühzeitig in den vorzeitigen Ruhestand gedrängt. Diesen Menschen hat man dadurch die Chance genommen, sich in dem neuen System nochmal zu etablieren und daraus für sich Zufriedenheit zu ziehen. Gerade das überlagert die Wahrnehmung der Wende in der heutigen Rentnergeneration, obwohl genau die Menschen diesen Alters aus der Wende einen sehr hohen Benefit gezogen haben, wenn wir uns das Thema Gesundheit anschauen. Der große Gewinn – gerade für die Gruppe der nicht mehr im Arbeitsleben befindlichen Menschen – der viel zu wenig dargestellt wird, ist, dass Menschen sehr viel besser versorgt werden – genau dann, wenn sie in höherem Alter Gesundheitsversorgung brauchen. Es gibt Studien u.a. vom Max-Planck-Institut über die Lebenserwartung, die signifikant nach der Wende gestiegen ist. Innerhalb der ersten vier Jahre nach der Wende ist es demnach gelungen, das Risiko, an einer Herz-Kreislauferkrankung zu sterben, um 40% zu senken – und zwar nicht nur, weil ohnehin medizinischer Fortschritt stattgefunden hat, sondern weil das Gesundheitssystem zuvor an dieser Stelle doch sehr unter der Mangelwirtschaft zu leiden hatte. Aus meiner Sicht wird dies viel zu wenig erzählt, wenn wir auf die Erfolgsgeschichte der deutschen Einheit blicken. Abgesehen von den Trends, die wir darüber hinaus haben, ist der persönliche Gewinn aus der Chance, sich gut zu ernähren, bessere Luft zu atmen und eine bessere Infrastruktur zu haben eben auch mehr Lebensqualität und eine höhere Lebenserwartung. Dem im Zusammenhang mit Klagen über das Jetzt gerade von älteren Menschen gern bemühten Satz „Das hätte es im Osten nicht gegeben“ kann man durchaus eine gewisse Doppeldeutigkeit geben. Stellen wir uns jemanden vor, der zu Hause einen Herzinfarkt erleidet. In der DDR hätte diese Person mit hoher Wahrscheinlichkeit gar nicht in einem Krankenhauszimmer gelegen. Kaum jemand hatte in der DDR ein eigenes Telefon, um den Rettungswagen zu rufen, ein Rettungshubschrauber wäre sowieso nicht gekommen. Und ob wirklich alle, die dann das Krankenhaus lebend erreicht haben, auch adäquat versorgt wurden, das müssen wir mit einem großen Fragezeichen versehen. „Das hätte es im Osten nicht gegeben“! Wir sollten die Chance nutzen, diese Geschichte zu erzählen: Die großen Gewinner sind die Menschen, die im hohen Alter medizinische Versorgung benötigen und dazu Zugang haben, noch dazu in hoher Qualität und auf der Höhe des medizinischen Fortschritts. Das wird zu wenig kommuniziert.«

Aus den Erzählungen der jungen Ostdeutschen, die sich in der Initiative „Wir sind der Osten“ organisiert haben, lernen wir: Die Kinder haben den traumatisierenden Bruch der Erwerbsbiographie der Eltern als entscheidend wahrgenommen. Im besten Falle wurde daraus ein schneller Blick auf eigene Chancen. Aber welchen Spagat musste die Elterngeneration schaffen um in der neuen Gesellschaft anzukommen?

»Da spielt der Zeitgeist eine Rolle, den wir nicht unterschätzen dürfen: In den 80er Jahren haben sich Menschen sehr viel stärker als heute über Arbeit definiert. Arbeitslosigkeit war ein Riesen-Stigma. Das hatte nicht nur mit dem drohenden sozialen Abstieg zu tun, sondern mit der eigenen Vorstellung des Selbstwertes. Im Osten war diese Einstellung sehr viel stärker ausgeprägt wegen der staatlich proklamierten Vollbeschäftigung. Es gab beispielsweise keine Hausfrau. Einfach zu Hause zu bleiben ohne krank zu sein, das war in der Gesellschaft der DDR nahe an „asozial“. Dieses Selbstverständnis, nur über Arbeit den eigenen Wert zu definieren, prägt die Situation der Wende in besonderem Maß: Weite Teile der Bevölkerung in die Arbeitslosigkeit zu drängen, das hat eine große Gruppe traumatisiert. Auch bei den Jüngeren hatte meine Generation der geburtenstarken Jahrgänge keinen guten Start: Wir waren viele und kämpften um Arbeitsplätze, die immer weniger wurden und um gute Positionen, die in der Spitze aus dem Westen besetzt wurden.«

Haben die Ostdeutschen ein ausgeprägteres Gespür entwickelt, gesellschaftlichen Wandel früher wahrzunehmen? Und könnte man soweit gehen zu sagen, dass dies innovationsfreudiger macht?

»Ich denke nicht, dass man pauschal sagen kann, dass die Ostdeutschen hier ein besseres Gespür entwickelt haben. Es gibt aus solchen umfassenden Umbrüchen immer zwei Tendenzen. Die eine ist Rückzug, die Situation nicht gut verarbeiten zu können und sich am Ende auch selbst auszugrenzen. Die andere ist, einen weitaus chancenorientierteren Blick zu entwickeln. Wir haben damals erlebt, dass von heute auf morgen nichts mehr von dem galt, was man gelernt hat. Die Vorstellung, was richtig war und was nicht – das war weg. Und trotzdem ging die Welt nicht unter. Ich persönlich habe gelernt und weiß, dass eine Krise nicht dazu führen muss, dass die Welt einfach untergeht und es immer eine Chance gibt. Mich hat es offener gemacht für Veränderung und ich bin relativ schnell in der Lage, Veränderung zu adaptieren und sie produktiv zu machen. Ein großer Teil der Bevölkerung im Osten ist aus der Wendezeit herausgegangen mit der Erfahrung: „Ich habe den Untergang eines politischen und wirtschaftlichen Systems erlebt. Es gibt mich immer noch. Ich kann in einen Vorwärtsmodus gehen. Und daraus persönlichen Gewinn ziehen.“ Wir dürfen auch nicht vergessen, dass ein erheblicher Teil sich den Untergang dieses Staates und des Systems gewünscht hat.«

Nach vorne denken und nicht ängstlich Festhalten am Bestehenden. In der Lausitz nicht ängstlich an der Braunkohle festhalten, sondern mit einigem Mut auf neue Energie setzen. Wie kommuniziert man das? Zu sagen: Wir sind die, die Transformationsprozesse unterstützen. Wir können das?

»Ich weiß gar nicht, ob das eine Frage des Könnens ist. Der andere Blick ist entscheidend, dass man gelernt hat, dass nicht nur eines richtig ist. Beweglich zu bleiben, um schneller auf sich verändernde Verhältnisse reagieren zu können. Was im Übrigen nicht bedeutet, opportunistisch zu handeln, sondern auf Basis eines stabilen Wertegerüsts. Diese Kultur will ich auch in der BKK VBU halten: Sich nicht festfahren, eine Flexibilität zu erhalten, die es ermöglicht, veränderte Rahmenbedingungen rasch zu adaptieren und schnell wieder in den produktiven Zustand zu kommen. Das ist für mich eine wichtige Erfahrung aus dieser Wendezeit: Es ist gut, zu verstehen, dass es häufig nicht nur die eine richtige „Wahrheit“ gibt. Entspannter zu sein, weil man erkennt, dass es fast immer verschiedene Möglichkeiten gibt. Nicht in Dogmen zu denken und auf jeden Fall nicht ideologisch. Vieles von dem, was wir heute als Stillstand erleben, ist entstanden, weil jemand etwas ideologisch verteidigt. Das machen Menschen im Osten, die vor 30 Jahren den Umbruch der Verhältnisse erlebt haben, vermutlich tatsächlich weniger. Die Menschen wissen, dass man mit Ideologie scheitert. Aus der Ostvergangenheit kommt uns auch zugute: Wir haben ein klares Gefühl dafür, wie sich Diktatur anfühlt und haben zugleich weniger das Bedürfnis, über Macht zu den gewünschten Ergebnissen zu kommen. Man sagt der BKK VBU nach, dass wir Fusionen gut managen können. Das sind Transformationsprozesse, die vor allem Kulturwandel bedeuten und viel Vertrauensarbeit erfordern. Vielleicht sind die elf Fusionen der BKK VBU, die ich begleiten durfte, deshalb gut gelungen, weil ich eigene Erfahrungen in der Wendezeit gemacht habe – ebenso wie ein großer Teil der Beschäftigten der BKK VBU – und deshalb verstehe, was das mit Menschen macht. Es braucht ein Gespür, gut zu kommunizieren, nahbar zu sein und zuzuhören, Bedenken ernst zu nehmen, Zusagen einzuhalten und Orientierung zu geben. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass bisher jeder Partner etwas Neues mitgebracht hat, das uns gemeinsam gut tat – „gemeinsam besser werden“ ist der Treiber jeder Fusion und zugleich das verbindende Element der aufeinandertreffenden Belegschaften für ein gemeinsames Zukunftsbild, in dem wir die Unternehmensgeschichte zusammen weiterschreiben, die nicht mehr zwischen Ost und West beziehungsweise „wir“ und „die“ unterscheidet.«

Welche Traditionen aus den Trägerunternehmen waren denn wirksam, als die BKK aufgestellt wurde? War es für Sie leicht, Ihren Platz zu finden in der Führungsriege? Sie wurden ja nicht sofort von einer Welle des kulturellen Wandels in den Chefsessel getragen?

»Es gibt ja immer die persönlichen Erfahrungen, die man nicht unbedingt verallgemeinern kann. Ich habe mich neulich sehr lange mit einer Vorstandskollegin unterhalten. Sie war, wie ich auch, ursprünglich in einer Baufirma. Das waren Firmen mit einem hohen männlichen Beschäftigungsanteil. Im Unterschied zu den Erfahrungen, die meine Kollegin gemacht hat, hatten in meinem Arbeitsumfeld die ostdeutschen Männer kein Problem mit Frauen in der Verwaltung, weil man sich nicht in Konkurrenz sah. Im Osten war Standard: Die Männer waren grundsätzlich in der Produktion, auf der Baustelle, und die Frauen waren in der Regel in den Verwaltungen im Büro. Man sollte sich aber nicht von dem Bild verleiten lassen, dass es im Osten die Gleichberechtigung gab in Bezug auf Führungspositionen. Natürlich wurde offiziell propagiert: „Alle sind gleichberechtigt und jede Frau kann werden, was sie will.“ Wenn man sich allerdings die Führungsebene ansieht, in der Baufirma, in der ich gearbeitet habe, sah das dort genauso aus, wie in einer Baufirma im Westen. Da waren wieder die Männer am Tisch. Ich persönlich hatte das Glück, dass ich immer auch Förderung erfahren habe. Aber den Platz auf dem Chefsessel musste ich mir nach der Wende hart erkämpfen. Weiblich, jung und aus dem Osten, die Hypothek hätte damals kaum größer sein können.«

Beweglich bleiben, um schneller auf sich verändernde Verhältnisse reagieren zu können. Was im Übrigen nicht bedeutet, opportunistisch zu handeln, sondern auf Basis eines stabilen Wertegerüsts.

Mit dem West-Blick wurden vor allem die Errungenschaften zur Gleichberechtigung der Frauen für ihre ökonomische Unabhängigkeit wahrgenommen, die Möglichkeit eigenes Geld zu verdienen, die Kinder gut versorgt in der Krippe. Männer und Frauen haben zwar rasch geheiratet, um eine Wohnung zu bekommen, aber sie konnten sich schnell wieder scheiden lassen. Das spiegelt sich in den hohen Scheidungsraten der DDR. Warum hat sich diese Freiheit nicht übersetzt in Karrierechancen?

»Grundsätzlich waren viele Herausforderungen, mit denen Frauen heute zu kämpfen haben, gut geregelt. Ökonomische Unabhängigkeit, Kinderbetreuung etc. Aber der Treiber war nicht die eigene Karriere. Das hat damit zu tun, dass wir so nicht gedacht haben. Und überhaupt: Das Wort „Karriere“ hätte in diesem Zusammenhang keiner verwendet. Fragen Sie sich, warum z.B. unsere Kanzlerin ganz bescheiden sagt „Ich möchte Deutschland dienen“? Bloß nicht Stolz zeigen. Es könnte jemand denken, man wäre abgehoben oder hielte sich für etwas Besseres, wo doch Gleichheit gefordert wurde. Das wirkt nach. Es gab zwar in jedem Ost-Betrieb zwingend einen Frauenförderplan, aber das war eine staatliche und keine individuelle Karriereplanung. Aber reden wir über die Unterschiede: Ich hatte im Osten kein Problem, als Frau in einem Baukombinat in einem verwaltenden Beruf zu arbeiten, weil dies von den Männern so akzeptiert war – unter den Bedingungen, die ich skizziert habe. Aber gleich nach der Wende machte ich überraschende Erfahrungen, die ich anfänglich überhaupt nicht einordnen konnte. Fragen „was mein Mann denn dazu sagen würde“, Hinweise „dass an diesem Besprechungstisch noch nie eine Frau gesessen hätte, weil Frauen hier nur bedienen würden…“ Belehrungen, ausschließlich an mich, die einzige Frau im Raum gerichtet „dass man zur Verschwiegenheit verpflichtet wäre“… damit musste ich erstmal klarkommen.«

Wir finden im Osten die Umsetzung disruptiver Ideen. Wir finden dort neue Perspektiven für Geschäftsmodelle, die Ländergrenzen überschreiten, und dabei konsequent europäisch denken und wir finden einen sehr klaren Blick für historisch gewachsene europäische Regionen und deren Chancen. Dinge auch anders machen zu können, ist das ein Vorteil der Menschen östlich der Elbe? Hat Digitalisierung die Chance, im Osten schneller verstanden und umgesetzt zu werden?

»Auch hier würde ich nicht verallgemeinern. Wir haben im Osten das Verständnis entwickelt, dass Dinge sich grundsätzlich ändern und dass diese Veränderungen nicht unbedingt vom Gesetz ausgehen müssen. Dr. Gottfried Ludewig hat kürzlich in einem Gespräch mit den BKK Vorständen gesagt: „Die Welt wartet nicht auf das SGB V.“ Auch in der gesetzlichen Krankenversicherung bemerken wir zunehmend, dass wir gefordert sind, Neuland zu betreten und kollidieren häufig genug mit einem Rechtsrahmen, der Handeln blockiert. Wir verstehen im Osten womöglich ganz gut, dass es Veränderungen gibt, die beim Staat und seinen Institutionen noch nicht angekommen sind, die aber da sind. Das kann schon sehr produktiv sein. Hilfreich ist hier ein Grundverständnis zu entwickeln, dass Regeln natürlich gelten, aber das Regeln von Menschen gemacht werden. Und deshalb können Menschen diese Regeln ändern, wenn es sinnvoll ist, das zu tun. Was uns in diesem Zusammenhang gut täte: Weniger sektoral zu denken, weniger Schutzräume zu bauen, weniger Augenmerk auf den Bau von Wassergräben und Zugbrücken. Stattdessen die Eigenschaft, neugierig über den Zaun zu gucken. Und auch die Bereitschaft, den Zaun nicht nur neu anzustreichen, sondern zu fragen, warum der da steht und ihn notfalls einzureißen.«

Gottfried Ludewig sagt: Der Gesetzgeber hat im SGB V eine Tür geöffnet. Wir haben den Krankenkassen ermöglicht, sich in der Wertschöpfungskette des Gesundheitssystems mit digitalen Angeboten vor der Arztpraxis zu positionieren. Zugleich sehen wir jetzt junge Gründer von Start-up Unternehmen, die froh sind, gleich zu Beginn der Entwicklung einer App an der Seite einer Kasse stehen zu können und gemeinsam den Weg zur Zulassung als DiGA zu gehen. Wieviel kreativen Gestaltungsraum und welchen Grad an Unfertigkeit vertragen eigentlich die gesetzlichen Krankenkassen?

»Unfertig ist ein gutes Stichwort. Wenn der „Ossi“ etwas konnte, dann war es das, Improvisieren, mit etwas Unfertigem umzugehen und etwas daraus zu machen. Das ist die eine Seite der Medaille. Mit agilen Arbeitsmethoden fühle ich mich persönlich wohl, wir kultivieren das in der BKK VBU: Etwas ausprobieren, nicht alles erst zur Perfektion treiben, Mut entwickeln, auch Fehler zu machen und die schneller zu erkennen. Das ist leichter umzusetzen mit Belegschaften, die wissen, dass auch Unfertiges nicht per se schlecht ist, als mit Menschen, die total in der „SGB V Denke“ sozialisiert sind, nach dem Motto: Du darfst erst dann handeln, wenn du absolut sicher bist. Um hier mehr Handlungsspielraum zu haben, würde man sich natürlich wünschen, dass der Gesetzgeber diesen SGB Paragraphen schleift, in dem sinngemäß steht: Alles was nicht in diesem Gesetz aufgeschrieben ist, ist nicht erlaubt. Das ist, mit Verlaub, die angestaubte Denke frei nach Arnulf Herrmann „Die meisten Bürokraten litten schon als Kinder unter der schier unendlichen Weite ihres Laufstalls.“ Es gibt immer die Tendenz, dass überall, wo Freiheit entsteht, sich andere finden, die versuchen, das wieder einzudampfen. Paradebeispiel ist das OLG Hamm, das entscheidet: Krankenkassen dürfen keine risikobehafteten Entscheidungen treffen. Das passt natürlich überhaupt nicht in diese Zeit. Wenn wir in die Entwicklung einer App investieren, können wir natürlich nicht vorhersagen, ob diese App dann ein Jahr, drei Jahre oder fünf Jahre genutzt wird und ob es 20 oder 40 Prozent der Versicherten sein werden, die diese App nutzen – oder im worst case – eben keiner. Leider gehört nach meiner Wahrnehmung auch zur Realität, dass Politik selten mutig ist und wenn dann doch einmal Räume entstehen, werden sie durch ein nächstes Gesetz wieder eingedampft. Nach meinem Eindruck machen Gesetze aktuell den Raum tendenziell für unternehmerische Entscheidungen enger und nicht weiter. Den Rest besorgt dann die Kassenaufsicht. Das ist teilweise schon recht frustrierend. Wahrscheinlich bin ich auch mit meiner Ost-Biographie und Erfahrung weitaus sensibler in der Beurteilung der Zentralisierungstendenzen. Digitalisierung und auch die Corona-Pandemie sind gerade Booster für Zentralisierung. Und ich erkenne eben eine Tendenz zur Zentralisierung aus einem Machtanspruch heraus. Das halte ich für eine kritische Entwicklung, weil sie in eine Staatsmedizin führen könnte. Ich wünsche mir das auch nicht zurück: Die Einheitskasse mit einem staatlich finanzierten System, in dem dann auch von Staats wegen festgelegt ist, was der Einzelne an Versorgung bekommt oder eben nicht. Wenn wir uns heute staatliche Gesundheitssysteme in der Welt ansehen, werden überall ähnliche Erfahrungen gemacht. Das hat also nichts damit zu tun, dass es in der DDR einfach schlecht gemacht wurde oder weil es alte Zeiten waren und man es heute selbstverständlich besser machen könne. Ich halte die Selbstverwaltung für eine große Errungenschaft und sehe es einfach kritisch, wie der Gesetzgeber heute Dinge an sich zieht und in einer Detailtiefe regelt, die eine funktionierende Selbstverwaltung einfach nicht mehr möglich macht.«

Nach meinem Eindruck machen Gesetze aktuell den Raum tendenziell für unternehmerische Entscheidungen enger und nicht weiter. Den Rest besorgt dann die Kassenaufsicht.

Wir sehen vor der Berliner Stadtgrenze in Rekordzeit eine TESLA Fabrik entstehen. Eigentlich baut Tesla dort keine Autofabrik, sondern ein Modul eines Gesamtkonzepts, das eine neue Art der Mobilität umsetzt. Wir bewegen uns im SGB V Horizont. Kein Biotop für Innovation. Sehen Betriebskrankenkassen, was sich außerhalb bewegt und sehr schnell auf unsere Welt im Gesundheitssystem einwirken wird?

»Ich sehe mich mit der BKK VBU gut aufgestellt. Wir haben ein gutes Zukunftsbild. Wir reden auch im BKK System chancenorientiert über digitale und disruptive Entwicklungen, was aber nicht heißt, dass wir auf jeden digitalen Zug aufspringen. Mich interessiert die Frage: Wie können wir beitragen, dass Digitalisierung die Versorgungsqualität verbessert? Wie können wir die Digitalisierung nutzen, um Kundenbedürfnisse eher zu erkennen? Welche Produkte und Instrumente unterstützen Menschen, eine eigene digitale Gesundheitskompetenz zu entwickeln? Ich sehe mir sehr interessiert an, was Big Tech Firmen wie Tesla und Amazon an digitalen Lösungen und Prozessen entwickeln. Ich würde mir aber wünschen, dass Politik in den gesetzlichen Krankenkassen den ersten Ansprechpartner sucht, wenn es um Lösungen geht und nicht, wie jüngst geschehen, mit Google kooperiert, ohne zuvor mit uns zu sprechen, was möglich ist. Ich persönlich würde beispielsweise zuerst meiner Krankenkasse meine Daten geben – einfach weil gesetzliche Krankenkassen diesbezüglich keine Primärinteressen haben. Ich sehe sehr kritisch auf Tendenzen, große Datensammelstellen einzurichten. Das Argument, man bräuchte große Datenmengen für den Erfolg der Digitalisierung, begründet diese Entwicklung aus meiner Sicht nicht hinreichend. Ja, die Datenmengen brauchen wir, aber das heißt nicht, dass diese Daten an einem Ort gehortet werden müssen. Das hat immer mit Macht zu tun und gibt Raum für mehr staatlichen Einfluss. Vielleicht bin ich da auf Grund meiner Erfahrungen zurückhaltender. Es gibt aber noch einen anderen Grund für eine gewisse Skepsis: Mit solchen Datenhorten geht einher, dass tendenziell wenige entscheiden werden, was mit den Daten geschieht. Diese Entscheider werden dies mit dem immer gleichen Blick tun und sie werden tendenziell nicht, wie das heute bei einzelnen Kassen der Fall ist, vielfältige Lösungen pilotieren. Wir vergeben uns mit solchen Zentralstellen die Möglichkeit, vielen verschiedenen Lösungen Raum zu geben. Ein großer Vorteil von Betriebskrankenkassen ist, dass sie schon in der Vergangenheit diejenigen gewesen sind, die innovativen Lösungen Raum gegeben haben. Bei der BKK als Start-up mit einer Idee zu pitchen, bei der die Entscheidungsstrukturen straffer sind, ist leichter, auch weil die BKK ein Projekt in einem kleineren Rahmen umsetzen kann, bei dem der Aufwand und das Risiko überschaubar ist. Anders als bei einer Kasse, die so etwas sofort bei mehreren Millionen Versicherten ausrollen müsste. Das war in der Vergangenheit ein großer Vorteil zum Nutzen von Versicherten, die von diesen Lösungen partizipieren, von dem ich hoffe, dass wir den behalten werden.«

Sehen wir uns doch mal die gesamtdeutsche medizinische Versorgungslandschaft an im Vergleich zur Situation vor der Abwicklung der DDR. Wie sieht diese Bilanz aus im Hinblick auf Innovationsfähigkeit? Haben wir Chancen vergeben, weil wir zu viel planiert haben? Hätten die 1990 umstrittenen Polikliniken eine Chance verdient?

»Es gibt grundsätzlich nur zwei Themen, die einem immer wieder begegnen, wenn es um die angeblichen Vorzüge des ostdeutschen Gesundheitswesens geht – die Polikliniken und die Prävention. Wir sehen zunächst, dass es besser gewesen wäre, die Idee der medizinischen Versorgungszentren nicht einfach wegzuwischen, sondern diese Idee zu begreifen und aufzunehmen als gesamtdeutsches Referenzmodell für gute patientenzentrierte Versorgung. Wenn wir uns ansehen, wo wir heute stecken bleiben mit der Innovation, sind es auch die Einzel-Arztpraxen in denen Digitalisierung scheitert. Heute wird auch in der öffentlichen Meinung äußerst kritisch der Umstand diskutiert, wenn Teile des Gesundheitssystems – z. B. medizinische Versorgungszentren – an den Markt gehen und dort auf Beteiligungskapital der Börsen treffen. Staatsmedizin solle es aber auch nicht sein. Warum verlieren wir die selbstverwalteten gesetzlichen Krankenkassen aus dem Blick, die kein Primärinteresse der Gewinnmaximierung haben, und deshalb Teil der Lösung sein könnten? Ich habe bis heute nicht verstanden, warum man es Krankenkassen nicht erlaubt, z. B. Ärztehäuser als Eigenbetrieb zu führen. Das ist etwas, wo wir als Krankenkasse in einem neuen Zukunfts- und Rollenbild durchaus in der Lage wären, medizinische Versorgung nochmal aktiver mitzugestalten. Abgesehen davon, dass wir gute Arbeitgeber wären, die das Thema Familie und Beruf gut abbilden, was angesichts des steigenden Anteils von Ärztinnen nicht ganz unwichtig ist. Wir hätten auch das entsprechende Know-how und Ressourcen, um z.B. ein Ärztehaus aufzustellen, das vorbildlich digitalisiert ist. Abseits der aktuellen Herausforderung, unser Gesundheitssystem pandemiefest zu machen, haben wir die ständige Aufgabe, es demographiefest zu machen. Ein Beispiel: In Lichtenberg, einem Berliner Stadtteil, der mit dem höchsten Zuzug an Familien mit kleinen Kindern hat, bekommt die Verwaltung des Stadtbezirks keine ausreichende Ansiedlung von Einzel Kinderarztpraxen hin. Sie hätten dort gern ein Kindergesundheitszentrum. Aber es gibt weder das Know-how, noch die Ressourcen und die Geldmittel, so etwas zu machen. Wir könnten das. Die Krankenkassen können das.«

Gibt es Grund zu einem nostalgischen Blick auf das DDR Gesundheitssystem?

»Nein, überhaupt nicht. Wir wären damals gut beraten gewesen, die Chancen zu erkennen. Aber jetzt in der DDR ein Referenzmodell für eine künftige Staatsmedizin zu sehen? Warum wird das aktuell überhaupt diskutiert? Die Journalisten, die heute große Artikel darüber schreiben oder die Politiker, die darüber reden, kommen eher nicht aus dem Osten, und selbst wenn, dann haben sie das Gesundheitssystem der DDR nie erlebt, weil sie zu jung waren, um es zu brauchen. Jeder, der sich darin bewegt hat, hat genau gesehen, wie z. B. der Zustand der Krankenhäuser war, wie hoch der Mangel an medizinischem Gerät, Arzneimitteln und einfachsten Ressourcen. Und auch das Pflegepersonal hat wenig Wertschätzung erfahren, war schlecht bezahlt und schon gar nicht ausreichend vorhandenen. Ja, es gab mehr Prävention im Osten. Die Inanspruchnahme von Vorsorge, von Früherkennung, von Impfen ist im Osten bis heute nachweislich deutlich höher, als im Bundesdurchschnitt. Aber zur Wahrheit gehört auch, dass die Prävention vor der Wende deshalb so hohen Stellenwert hatte, weil alle wussten, dass man im Erkrankungsfall bezüglich der medizinischen Versorgung schlechte Karten hatte. Und es blieb dem Einzelnen keine Wahl, weder konnte man sich beschweren, noch konnte man mit Kassenwechsel drohen oder sich zur Behandlung und dem Behandler in Zweitmeinungsverfahren entscheiden. Wir sollten nicht nostalgisch drauf schauen. Das kann man sich nicht ernsthaft zurückwünschen. Eine Lehre bleibt: Einheitsversicherung ist Staatsmedizin und Staatsmedizin ist Mangelverwaltung! Hinter dieser Art von Organisation des Gesundheitssystems steht eine Frage, die auch 30 Jahre nach der Herstellung der politischen Einheit für uns gilt: Wie war der Blick des Staates auf seine Bürger?«