Health in all Policies: Strategische Partner

Die Gesundheits-Landschaft vor dem Werkstor

Übergewicht, Bluthochdruck, erhöhter Blutzucker, eine Fettstoffwechselstörung, mit hohen Triglyzerid-Blutwerten und niedriger HDL-Cholesterin- Konzentration im Blut. Weil diese Risikofaktoren massiv die Gesundheit und das Leben von Beschäftigten bedrohen, haben die Audi BKK und die Volkswagen AG eine Studie der Medizinischen Hochschule Hannover zum metabolischen Syndrom unterstützt. Aus den Studienergebnissen wurde eine App, die Betriebsärzte und Beschäftigte zu Verbündeten macht. Die Betriebskrankenkasse hat wertvolle Erkenntnisse gewonnen zu Prävention, die dann erfolgreich ist, wenn sie in den Alltag der Menschen passt. Das Unternehmen konnte aus der Studie ableiten, wie Betriebsmedizin ihren Check-up verändern, Volkskrankheiten besser aufspüren und Beschäftigte rasch in die Versorgung leiten kann. Mit Dr. Lars Nachbar, Chief Health and Safety Officer bei Volkswagen Group und Dirk Lauenstein, Vorstand Audi BKK haben wir über den strategischen Anspruch gesprochen, eine Gesundheitslandschaft aus dem Unternehmen heraus zu gestalten.

Porträtbild von zwei Männern
Dr. Lars Nachbar, Chief Health and Safety Officer, Volkswagen Group (links), Dirk Lauenstein, Vorstand Audi BKK (rechts)

47 Millionen Menschen in Deutschland leben abseits der Städte und Ballungszentren auf dem Land. Das ist mehr als die Hälfte der Bevölkerung: 57 Prozent. Medizinische Versorgung wird schwieriger in Deutschland und das ist auch in den Regionen so, an denen die Standorte der Volkswagen AG präsent sind. „Das ist eine Erkenntnis, die uns nicht unvorbereitet trifft, denn das Thema Gesundheit spielt in unseren strategischen Überlegungen schon seit längerer Zeit eine Rolle. Auch in der Vergangenheit war die Gesundheit und Unversehrtheit der Menschen, die beim Volkswagen Konzern arbeiten, ein wichtiger Aspekt“, erzählt Dr. Lars Nachbar, Chief Health and Safety Officer bei Volkswagen Group.

Wer Gesundheit als strategische Management-Aufgabe im Unternehmen verankert, handelt nicht nur im engeren Aufgabenfeld der Betriebsärzte, also um die Gesundheit und Unversehrtheit zu schützen sowie den Erhalt der knappen Ressource ausgebildete Arbeitskräfte. Die Fehlzeiten am Arbeitsplatz sind erheblicher Kostenfaktor. Der Zugang zu Hausarzt, Fachärzten und diagnostischen Verfahren wie Bildgebung ist relevant, weil auf dieser Strecke Wartezeiten entstehen. Das ist eine Variable, die den Blick der Verantwortlichen für die Gesundheit in einem Unternehmen auch auf die Gesundheitslandschaft vor dem Werkstor richtet. Geschwindigkeit im Versorgungssystem in strukturschwachen Regionen ist ein strategisches Thema.

In einer alternden Industriegesellschaft sind nicht nur Sicherheit und gesundheitsfördernde Bedingungen am Arbeitsplatz entscheidend, sondern für Nachbar auch die Frage: „Wie lange muss ein Mitarbeiter bei Volkswagen auf Versorgung warten?“ Es gibt also gute Gründe, eine Gesundheitslandschaft auch aus dem Unternehmen heraus zu gestalten. „Wir sehen eine neue Qualität: medizinische Versorgung ist an unseren Standorten nicht mehr so gewährleistet wie früher“, so Lars Nachbar. „Wir erleben, dass Facharztsitze nicht wiederbesetzt werden können und dadurch wird das eben beschriebene Problem relevant größer. Bei fehlenden Versorgungsstrukturen und langen Wartezeiten auf leitlinienkonforme Versorgung wird Reintegration in den Arbeitsplatz verzögert und behindert – auch durch die Gefahr der Chronifizierung von Krankheiten.“

Die VW-Group, die laut Konzernbericht die Zukunft der Mobilität für heutige und kommende Generationen noch nachhaltiger gestalten will, bettet Gesundheit schon lange in ihr strategisches Zielbild ein: „Das Gesundheitswesen von Volkswagen setzt neben der Erfüllung der gesetzlichen Anforderungen in hohem Maße auf präventive Ansätze zu den Themen Gesundheit, Fitness und Leistungsfähigkeit“, steht es im Konzernbericht. Dies bringt die Verantwortlichen für Gesundheitsvorsorge und Arbeitsschutz direkt ins Feld der Audi BKK und macht aus Dr. Lars Nachbar und Dirk Lauenstein, Vorstand der Audi BKK enge Partner.

„Die Betriebskrankenkasse ist strategischer Partner für die Erreichung dieser Ziele“, so Lauenstein. „Als unternehmensnahe Kasse haben wir einen klaren Auftrag: die Gesundheitsversorgung der Beschäftigten eines Unternehmens und ihrer Familienangehörigen in der Region um die jeweiligen Standorte des Konzerns sicherzustellen.“ Angesichts des phänomenalen Erfolgs, Beschäftigte zu aktivieren, angeleitet und motiviert durch eine App, mit Radeln, Laufen oder auch Treppensteigen und Verzicht auf den Aufzug daheim und in der Firma, das eigene Infarkt-, Schlaganfall- und Krebsrisiko zu senken, ist Lauenstein begeistert: „Während Dr. Nachbar zunächst eine Perspektive hinter dem Werkstor einnimmt, beginnt die Arbeit des BKK Chefs vor dem Werkstor, also außerhalb des Unternehmens. Und das nicht nur im klassischen Sinn mit Blick auf die ärztliche Versorgungslandschaft.

Es ist Auftrag und Aufgabe, auch innovative Angebote der Versorgung und Prävention zu entwickeln in wirksamen Netzwerken mit der Wissenschaft.“ Das hat die Audi BKK getan. In Zusammenarbeit mit Professor Uwe Tegtbur, dem Direktor des Instituts für Sportmedizin an der Medizinischen Hochschule Hannover, haben Audi BKK und die Volkswagen AG eine Studie der Medizinischen Hochschule Hannover zum metabolischen Syndrom unterstützt. Aus den Studienergebnissen wurde eine App entwickelt, die Betriebsärzte und Beschäftigte zu einem Team zusammenschweißt. In unserem Format BKK INNOVATIV haben wir Studie und App vorgestellt, Julia Hoffmann berichtet ab Seite 38 darüber.

Die Betriebskrankenkasse ist strategischer Partner: Als unternehmensnahe Kasse haben wir einen klaren Auftrag: die Gesundheitsversorgung der Beschäftigten eines Unternehmens und ihrer Familienangehörigen in der Region um die jeweiligen Standorte des Konzerns sicherzustellen.

Dirk Lauenstein, Vorstand Audi BKK

Bleiben wir also bei den strategischen Fragen. In jedem Fall ist eine funktionierende, gut aufgestellte Gesundheitslandschaft um ein Unternehmen ein entscheidender Punkt bei der Anwerbung von Mitarbeitern. „Wenn wir nach vorne blicken, kommen wir zu der Frage, wie Fachkräfte sich für ein Unternehmen entscheiden“, so Nachbar. „Die basale Frage ist: Ziehen wir Menschen an unsere Standorte? Es gibt gleich zu Beginn der Entscheidung von neuen Mitarbeitern drei Fragen. Eine davon ist: Finde ich einen Kinderarzt für meine Kinder? Das ist ein Basisgut, das in vielen Regionen nicht mehr gegeben ist.“ Die Gesundheitslandschaft in der Umgebung des Unternehmens ist wichtige Human-Ressource- Management-Substanz – neben familienfreundlicher Landschaft mit KiTa und Schulen sowie vorhandenen Arbeitsplätzen für Lebenspartner.

Nachbar schlägt den Bogen zur Frage der strategischen Bedeutung von Gesundheit für den Volkswagen-Konzern: „Wenn wir das Gesamtpaket bündeln und klassische Faktoren ansehen: Fehlzeiten, Produktivitätsverlust durch Krankheit, Fachkräftemangel, Attraktivität eines Standorts und des Arbeitgebers, bis hin zur Fähigkeit der Refinanzierung am Kapitalmarkt nach ESG Kriterien, dann ist das Thema Gesundheit einer der Faktoren, die noch wesentlich an Bedeutung gewinnen werden.“ Kongenial nennt Lauenstein die Partnerschaft von Audi BKK, Volkswagen AG und Medizinischer Hochschule Hannover. „Wir wollten vor fünf Jahren einfach nur ein Projekt machen. Das haben wir durchgezogen. Und aus diesem Projekt sind viele neue Ideen und Folgeaktivitäten entstanden, die jeder von uns aus seiner Perspektive mit einbringt. Das diskutieren wir dann nicht in einem wissenschaftlichen Elfenbeinturm, sondern sehr an der Praxis ausgerichtet.

Wir wollen die Gesundheit von Menschen erhalten und nach Möglichkeit verbessern. Die präventiven Maßnahmen haben mit dem wahren Leben der Menschen zu tun, für die wir das machen. Das ist es, was unsere Partnerschaft auszeichnet und den Erfolg möglich macht.“ Was kann also die Rolle der Betriebsärzte sein, um Lücken in Versorgungslandschaften zu schließen? „Wir können es uns heute als Gesellschaft nicht mehr leisten, das große Kontingent an hochqualifizierten Ärztinnen und Ärzten in der Betriebsmedizin außerhalb jeglicher Versorgung laufen zu lassen“, folgert Nachbar. „Ich bin sicher, dass einige Kolleginnen und Kollegen unter den Betriebsärzten dazu auch eine andere Meinung haben. Aber in der Industrie haben wir in der großen Mehrzahl Kolleginnen und Kollegen, die alle eine klinische Ausbildung durchlaufen haben. Industrie achtet darauf, dass klinisch erfahrene Ärzte in die Betriebsmedizin wechseln. Das holt ehrlicherweise qualifizierte Ärzte aus der Versorgungsstruktur heraus, aber die Kompetenz ist immer noch vorhanden.“

Es geht also darum, die vorhandene und knappe Ressource Arzt zu nutzen. Betriebsärzte sind bereits vom Unternehmen bezahlt, können wertvolle präventive Impulse geben in Richtung niedergelassener Ärzte. „Unsere klinische Kompetenz führt dazu, dass die mir bekannten Ärzte in der Industrie schon seit vielen Jahren nicht mehr nur auf die klassischen Aufgaben der Arbeitsmedizin schauen, nämlich die arbeitsplatzbezogene Gefährdung der Gesundheit, die wir durch strukturierte Programme minimieren.

Wir stellen seit geraumer Zeit fest: Es sind eher die allgemeinen Risiken, die Allgemeinerkrankungen, die einen Einfluss auf die Beschäftigungsfähigkeit nehmen. Und deswegen haben mir bekannte Unternehmen der Industrie bereits Programme eingeführt, die nicht allein arbeitsplatzbezogene Untersuchungen beinhalten und schon viel breiter das präventive Potenzial der Betriebsmedizin in den Blick nehmen.“ Patienten mit einem bestimmten Risiko können also gezielt ohne Zeitverlust aus dem Betrieb an Fachärzte überwiesen werden, ohne sich in der Versorgungskette „hinten anstellen zu müssen“.

Was bedeutet das konkret? „Wir haben im Unternehmen eine Altersgruppe von 16 bis 65-Jährigen, die keinerlei Beschwerden haben, obwohl sie womöglich mannigfaltige Erkrankungsrisiken haben. Diese Menschen gehen nicht in die Artzpraxis, aber sie sind es gewohnt, zu betriebsmedizinischen Untersuchungen zu gehen“, erklärt Nachbar. „Die Geburtsstunde der Check-up Untersuchungen in der Industrie war, sich die Frage zu stellen: können wir nicht das, was wir an betriebsmedizinischen Untersuchungen sowieso bei diesen beschwerdefreien aber risikobehafteten Patienten durchführen und anreichern um allgemeinpräventive Potentiale?

Aus diesem Fokus ist die Frage entstanden: warum ist es nicht möglich, mit diesen Untersuchungsergebnissen auch die Steuerung in das Gesundheitssystem einzuleiten? Wenn wir aktuell Befunde haben, die relevant sind, müssen wir heute immer die Beschäftigten überzeugen, dass sie über den Weg zum Hausarzt in die Versorgung hineingehen. Das ließe sich beschleunigen, wenn auch Betriebsärzte diese Seite der Straße befahren dürfen.“

Es entsteht übrigens bereits gemeinsames Nachdenken darüber, was zu tun ist, damit im Netz der Gesundheitsversorgung keine Lücken einreißen – auch Funktionäre der Haus- und Fachärzte lösen sich von der Schablone, dass vor allem ein Budget zu verteidigen sei. Dazu sagt Nachbar vom strategisch glasklar denkenden VW-Konzern: „Wir bestimmen beim Betriebsarzt alle Herz-Kreislauf-Risikofaktoren und können Hochrisiko-Situationen erkennen, die einer Intervention bedürfen. Diese Menschen können wir gezielt in die Versorgung einsteuern. Dabei will ich primär gar nicht in die Vergütungsdiskussion einsteigen. Wir reden über eine medizinische Leistung, die wir heute bereits erbringen.“

Auf der anderen Seite können aus der Versorgungslandschaft um ein Unternehmen herum Möglichkeiten genutzt werden, die ein Unternehmen anbietet und das auch entsprechend vergütet wird. Nachbar spricht nicht über eine Einbahnstraße, in der Betriebsärzte mit ihren Diagnosen nach draußen vors Werkstor drängen. Der Weg kann genauso gut aus der Versorgungslandschaft um den Standort in das Unternehmen zurückführen. Es geht um sinnvolle Kooperation für den Patienten. Die aus der MHH-Studie entwickelte App hebt präventives Potenzial: Ernährung, Bewegung, Umgang mit Belastungssituationen haben wesentlichen Einfluss auf Gesundheit.

Was wir heute erleben: die klassischen BGF-Maßnahmen, die innerhalb der Sozialgesetzgebung etabliert sind, bleiben gekoppelt an bestimmte Bedingungen. „Es gelingt Betriebsärzten bisher nicht, Patienten so in bestehende Konzepte einzusteuern, das nachhaltige Wirkungen daraus entstehen. Warum muss ein Bewegungsangebot an einen Kurs gekoppelt sein? Warum gibt es Ernährungs- und Bewegungsangebote getrennt durch verschiedene Fördertöpfe? Wenn wir das eine mit dem anderen verbinden, schließen wir eine Fördermöglichkeit aus, zu der die Krankenkassen angehalten sind“, sagt Lauenstein. „Nach vorne gedacht ist eine App der Ausweg: entwickelt aus einer Studie, die Evidenz geschaffen hat, für ein Versorgungskonzept, das zielführender sein kann, als das, was wir heute machen.“

Lauenstein erklärt uns den Betrieb als Ort, an dem Gesundheit entsteht: „Der Faktor Zeit spricht entscheidend dafür, die Betriebsmedizin an die Primärversorgung anzubinden. Oft konsultieren Beschäftigte den Betriebsarzt, weil sie ein kleines oder massives Problem haben und der Betriebsarzt muss im alten Modell sagen: Geh‘ bitte mit deinem Problem zu deinem Hausarzt oder zu einem Facharzt. Ein nicht unerheblicher Teil der Beschäftigten wird diesem Rat nicht folgen und der Teil, der sich kümmert, stellt sich in der ambulanten Versorgung ganz hinten an. Obwohl die Erkenntnis da ist: Da ist etwas und es muss jetzt gehandelt werden. Die Betriebsärzte im Werk könnten Patienten direkt an die Arztpraxis überweisen, die sich gezielt um den Befund kümmern kann.“

Die Idee zur Bekämpfung des metabolischen Syndroms mit einer App steht einer Vielzahl von medizinischen Erkenntnissen zum metabolischen Syndrom und einer Vielzahl von Erkenntnissen zum präventiven Handeln der Krankenkassen gegenüber. „Diese App ist die erste Maßnahme im Rahmen der Betrieblichen Gesundheitsförderung gewesen, die fast zu 100 Prozent Wirksamkeit entfaltet hat: Wir haben eine sehr geringe drop-out Quote bei den Teilnehmerinnen und Teilnehmern. Es ist die erste Maßnahme einer Betrieblichen Gesundheitsförderung, die zu 80 Prozent außerhalb des Arbeitsplatzes stattfindet. Und zwar deshalb, weil wir uns mit diesem Projekt mitten im Leben der Menschen platziert haben“, so Lauenstein. „Mein größtes persönliches Learning aus diesem Projekt ist, dass ich verstanden habe, warum die meisten Präventionsangebote heute nicht laufen. Keiner will sich von einem Schlaumeier erzählen zu lassen: Du musst total anders leben.“

Wir müssen verstehen: wo sind die Trigger für Menschen im Rahmen der Prävention? Wie macht Bewegung im Alltag Spaß? „Primärpräventionsangebote müssen so gebaut sein, dass sie komplikationslos in das Leben der Leute passen. Getrennt davon muss man die Sekundärprävention sehen, über die wir hier im Projekt Rebirth Active reden. Die Menschen, die wir in diesem Projekt adressiert haben, sind ein problematischer Personenkreis. Sie haben seit Jahren nach Hilfe gesucht, unterschiedliche Sachen ausprobiert haben, damit immer wieder gescheitert und hochfrustriert waren. Diesen Menschen wurde die Hand gereicht und gesagt: komm‘ mit, wir haben eine Lösung für Dich“, beschreibt es Lauenstein. „Die Lösung waren Anreize zur Bewegung, die verstanden wurden. Die Teilnehmer haben schnell bemerkt, dass sich etwas verändert, wenn sie sich mehr bewegen. Und die Menschen haben bemerkt, mehr Bewegung verändert die Energiezufuhr. Und hier setzt eigenes Lernen ein über bessere Fortschritte, wenn man die Tüte Chips weglässt. Genau nach diesem Muster versuchen wir unsere Präventionsangebote der Audi BKK neu zu denken. Und ich wünsche mir einen Wettbewerb in der GKV um das beste Präventionsangebot, das nach genau diesem Prinzip funktioniert. Die Betroffenen von Anfang an mitnehmen, nicht an ihnen vorbei zu entwickeln und das Ziel im Auge behalten, dass Mitarbeiter ihre Gesundheit zu ihrer eigenen Sache machen.“

Ein Patient steht, da wo er steht, nicht ohne Grund, erklärt uns der Mediziner Lars Nachbar. Das heutige medizinische System leistet selbst keine Prävention. Sie wird nicht vergütet, deshalb ist sie nicht existent. Sie wird nicht an den Universitäten gelehrt, also spielt sie in den Praxen kaum eine Rolle. „Wir alle wissen, wie wichtig Prävention ist, aber sie spielt im medizinischen System keine Rolle“, sagt Lars Nachbar: „Und deshalb schildern Ärzten ihren Patienten Endzustände: Du musst 10.000 Schritte schaffen, darunter ist alles wirkungslos.

Die Kluft, die zwischen Nicht-Bewegen und 10.000 Schritten pro Tag liegt, ist so groß, dass Frust entsteht. Deshalb gebrauche ich ein Bild, dass ich schon meinen Studenten in der Ausbildung beibringe: Als Arzt musst du in der Lage sein, dich neben deinen Patienten zu stellen. Der Patient steht in der Praxis, weil die Lebensumstände etwas mit ihm machen. Das muss der Arzt verstehen und die Perspektive des Patienten einnehmen. Und zugleich muss der Arzt wissen: wo wollen wir gemeinsam hin? Denn das weiß der Patient gar nicht. Also motiviert man den Patienten zu einem ersten Schritt, dann zu einem zweiten und man nähert sich einem Ziel an, das Arzt und Patient gemeinsam erreichen wollen. Und dann folgt der dritte Schritt: Wir erstellen ein individualisiertes Programm.

Das große Konzept generell in der Medizin ist: wir gehen weg von der Gießkanne hin zu einer mit dem Skalpell gezielt gesetzten Intervention. Das machen wir in der onkologischen Therapie, in der Rheumatologie, in der Diabetes Therapie. Wir versuchen individualisierte, personalisierte Medizin zu machen. Aber in der Prävention schicken wir Leute in normierte Kurse und Gruppen. Wir müssen auch die Prävention personalisieren und Unterstützung geben bei der Zielerreichung. Das bedeutet auch digitale Möglichkeiten zu nutzen: Daten von wearables, Telecoaching und Telemedizin.“Ist Nachbar damit ein Kolibri oder ist das der aktuelle Stand des Wissens bei den Ärzten auf dem Werksgelände?

Also: Das Konzept der personalisierten Medizin auf die Prävention zu übertragen. Lauenstein springt ein, die schwierige Frage zu dieser besonderen Kultur der Betriebsmedizin zu beantworten: „Ich kenne schon einige Betriebsärzte bei uns im Konzern. Da gibt es viele, die sich als klassische Mediziner sehen und dann gibt es die Gruppe, die Betriebsmedizin als Managementaufgabe sieht und die Gesundheit der Mitarbeiter im Werk und außerhalb der Werkstore in den Mittelpunkt stellt. Die Betriebskrankenkassen haben das Konzept: Restart Prevention neu aufgelegt und im Entwicklungsboard „Prävention neu denken“ beschäftigen wir uns momentan mit einem in den Niederlanden entwickelten holistischen Medizinansatz.“

Lauenstein spricht über einen Ansatz, der eine grundlegende Wende in unserem Gesundheitssystem herbeiführen soll: Ziel ist eine zukunftsfähige Medizin, die Individualität und Vielschichtigkeit der Menschen und ihre Gesundheit ins Zentrum stellt. Personalisierte Medizin, die patientenorientiert, präventiv und bezahlbar ist. „Je eher wir an einen Punkt kommen, das sektorale Denken zu überwinden und dafür Verbündete zu suchen, umso früher werden sich Dinge verändern.“ Betriebskrankenkassen können mit ihrer Fähigkeit zur Vernetzung mit der Wissenschaft und in die Unternehmen hinein genau solche Wege öffnen.

Dr. Lars Nachbar erzählt uns von einem Patienten aus der Studie, der stolz über seinen Erfolg berichtet hat: „Ich brauche keine Medikamente mehr. Vorher habe ich Blutdruck-Medikamente gebraucht und Diabetes Medikamente einnehmen. Jetzt brauche ich die nicht mehr.“ Und er zieht dieses Fazit:„Am stärksten kann Prävention ihre Wirkung entfalten, wenn wir die Patienten zum Motor machen. Wir Ärzte müssen Patienten zu Verbündeten machen, die verstehen wo es hingehen soll. In dem Augenblick, wenn der Patient versteht, warum wir Dinge machen und sein eigenes Ziel darin erkennt, dann ist der nicht zu bremsen.“