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Chronisches Fatigue Syndrom: Bessere Versorgung

von Stefan B. Lummer

Erschöpfung ist bei einer Covid-19 Erkrankung eines der wichtigsten Leitsymptome – neben Kurzatmigkeit oder vorübergehenden Geruchsverlust. Vier von fünf Patienten leiden während der akuten Infektion an Erschöpfung, naheliegend beim Verlauf dieser Krankheit. Doch während bei vielen Covid-Patienten diese Erschöpfung nach der Infektion wieder verschwindet, klagt ein großer Teil auch Monate später noch über Erschöpfungssymptome. Hier rückt eine Krankheit in den Fokus der Folgen einer Covid-Infektion: Das Chronische Fatigue Syndrom (CFS), das von einer Fatigue, die bei unterschiedlichen Erkrankungen auftritt, klar abzugrenzen ist, als eine eigenständige komplexe Erkrankung. Typischerweise kommt es bei CFS nach einem Infekt zu schwerer Erschöpfung, die stets mit ausgeprägten körperlichen und kognitiven Symptomen einhergeht. In einem Innovationsfonds-Projekt vernetzen sich die Betriebskrankenkassen mit dem Charité Fatigue Centrum, dort wird unter anderem die Erkrankung CFS erforscht. Ziel ist, die Diagnose, die Versorgung und den Gesundheitszustand der Menschen mit dieser Erkrankung zu verbessern.

Frau sitzt erschöpft vor dem Computer

Dauerhafte Fatigue und schwere Krankheitsschübe oft nach kleinster Belastung. Das ist das Hauptmerkmal einer schweren chronischen Erkrankung, die zwar von der Weltgesundheitsorganisation WHO als eine eigenständige neuroimmunologische Multisystemerkrankung klassifiziert, aber von behandelnden Ärzten oft nicht erkannt wird. Nach einer Infektion schleppen sich Patienten häufig durch eine Phase einer schweren krankhaften Erschöpfung, Fatigue genannt. Bei einem Verlauf über mindestens sechs Monate und den Leitsymptomen schwere Erschöpfung, Konzentrationsstörungen, Schlafstörungen, Muskelschmerzen, Kopfschmerzen und einer ausgeprägten Belastungsintoleranz besteht der Verdacht auf das Chronische Fatigue Syndrom. Wegen der neurokognitiven Symptome wird im Englischen meist die Bezeichnung myalgische Enzephalomyelitis (ME) verwendet, gebräuchlich ist inzwischen der Begriff CFS/ME. Patientinnen und Patienten leiden unter deutlichen Einschränkungen im Alltag: Schon kleine Anstrengungen können eine erhebliche Verschlechterung auslösen. Duschen, Kochen kann für die Patienten unmöglich sein. Ein Telefongespräch kann die Erkrankten überfordern. Stressintoleranz, Konzentrationsstörungen, sogar ständige Bettlägerigkeit drohen am Folgetag oder schon Stunden nach einer Anstrengung. Viele Erkrankte sind dauerhaft arbeitsunfähig. „Wir sehen jetzt vermehrt Patienten in unserer Ambulanz, die auch Monate nach einer durchgemachten Infektion mit SARS-CoV-2 noch über anhaltende Fatigue klagen, aber auch an Belastungsintoleranz und kognitiven Störungen leiden. Diese Symptome kennen wir gut von CFS/ME. Viele Patienten erfüllen die Kriterien für das Chronische Fatigue-Syndrom“, sagt die Immunologin und Onkologin Carmen Scheibenbogen. Die Professorin an der Charité – Universitätsmedizin Berlin leitet das Charité Fatigue Centrum.

ME/CFS war lange vor Covid-19 bekannt, Mediziner wissen, dass diese Erkrankung durch das Epstein-Barr-Virus oder durch Grippeviren ausgelöst wird. Weil inzwischen auch viele junge Menschen an einer Covid-19 Infektion erkranken, rückt das Chronische Fatigue Syndrom als ein häufiges Symptom von #LongCovid in den Bereich der Aufmerksamkeit von Medizinern und Medien. Wieviele Menschen in Deutschland an ME/CFS leiden, lässt sich schwer beziffern, die Forscher gehen von einer hohen Dunkelziffer aus, weil viele der behandelnden Ärztinnen und Ärzte mit dem Krankheitsbild nicht vertraut sind, was häufig zu Fehldiagnosen führt. Doch der Trend, diese Erkrankung nicht ernst zu nehmen, dreht sich gerade: In den USA, Australien und Kanada gibt es staatliche Förderprogramme. In Deutschland gibt es bislang nur das durch eine Stiftung geförderte Charité Fatigue Centrum für Erwachsene und in München das Chroniche Fatiguezentrum für Kinder. „Wir können bislang bei den meisten Patienten die Erkrankung nicht heilen“, sagt Prof. Carmen Scheibenbogen, denn es gibt bislang keine zugelassenen Medikamente für eine gezielte Therapie.“ Es gilt also, diese Krankheit besser zu verstehen und die Versorgung zu verbessern. Es kommt darauf an CFS/ME früh zu diagnostizieren und zu behandeln. Es müssen in Deutschland rasch Versorgungsstrukturen gemeinsam der Kranken- und Rentenversicherung aufgebaut werden. Deshalb haben sich innovative Betriebskrankenkassen mit der Charité vernetzt.

Drei Vorständinnen von Betriebskrankenkassen, die sich als Konsortialpartner im Rahmen des Innovationsfonds für eine bessere Versorgung für Menschen mit chronischem Fatigue-Syndrom/Myalgischer Enzephalomyelitis (ME/CFS) engagieren, erklären uns dieses Netzwerk, das den Erkrankten einen Zugang zu wirksamer Behandlung schaffen soll. „Uns ist bewusst, dass man die interdisziplinären Strukturen der Charité nicht so leicht auf ganz Deutschland übertragen kann. Insofern kann man auch die Erkenntnisse zur Versorgung nicht gleich eins zu eins in die Regelversorgung überführen, sondern sie müssen zunächst im Rahmen der Versorgungsstudie geprüft und weiterentwickelt werden. Wir erwarten uns aber durchaus, dass von dem Projekt wichtige Impulse für den weiteren Aufbau von Versorgungsstrukturen zur Therapie von ME/CFS ausgehen werden“, sagt Dr. Gertrud Demmler, Vorständin der SBK.

Hanka Knoche, Vorständin der BAHN-BKK einen zentralen Impuls, der von diesem Pilotprojekt in die Versorgungslandschaft ausgehen soll: „Der Schlüssel des Erfolges für dieses Projekt liegt darin, dass die in Deutschland festen Grenzen zwischen den Leistungssektoren überwunden werden müssen. Das heißt, die zwischen dem spezialisierten Zentrum an der Charité, den überweisenden und weiterbehandelnden Haus- und Fachärzten und der beteiligten Rehaklinik. Hierzu müssen alle Beteiligten eigene Arbeitspakete fristgerecht erledigen. Ziel ist es, das nach Projektende mehr Zentren und Leitfäden für Haus- und Fachärzte zur Diagnostik und Behandlung von ME/CFS implementiert werden können.“

Auch Andrea Galle, Vorständin der BKK VBU will nicht, dass eine gute interdisziplinäre Zusammenarbeit für eine wirksame Behandlung dieser Krankheit an Sektorengrenzen scheitert: „Das Ziel der gemeinsamen Arbeit in diesem Pilotprojekt ist es deshalb, neue Therapiekonzepte für die Versorgung von CFS-Erkrankten zu entwickeln, von denen auch Patienten mit Long Covid Syndrom profitieren können. Wir haben uns als Leitbild gesetzt, für unsere Kundinnen und Kunden ein Lebensverbesserer zu sein – und genau das treibt uns auch in dem gemeinsamen Projekt an.“

Prof. Dr. Carmen Scheibenbogen, die das Berliner Charité Fatigue Centrum leitet, spricht im Interview über die Krankheit und fehlende Versorgungsstrukturen. Eine wirksame Behandlung dieser komplexen Krankheit, die nicht an den Sektorengrenzen unterbrochen wird – das zählt für die vier Frauen in diesem Netzwerk.

Es spricht einiges dafür, dass es sich bei ME/CFS um eine Autoimmunerkrankung handelt

 

Viele Patienten leiden nach Covid an einer anhaltenden Erschöpfung, die sich jedoch oft nach einigen Wochen oder Monaten bessert. Einige Patienten fühlen sich jedoch auch ein halbes Jahr nach der Infektion anhaltend krank und ein Teil davon entwickelt ME/CFS. Jetzt zeigen Ihre Zahlen aber auch andere Studien diesen Zusammenhang. Ist mit einem Zuwachs an Betroffenen weltweit zu rechnen?

Davon gehe ich aus. Wir sehen jetzt vermehrt Patienten in unserer Ambulanz, die auch Monate nach einer durchgemachten Infektion mit SARS-CoV-2 noch über anhaltende Fatigue klagen, aber auch an Belastungsintoleranz und kognitiven Störungen. Diese Symptome kennen wir gut von CFS/ME. Um einen ersten Eindruck zu bekommen, haben wir 42 Teilnehmende untersucht, 29 Frauen, 13 Männer, alle litten immer noch unter Beschwerden. Bei allen lag die Erstinfektion mit dem SARS-CoV-2-Erreger sechs Monate zurück. Bei 19 der 42 Patientinnen und Patienten konnten nach den Kanadischen Konsens Kriterien ME/CFS diagnostiziert werden, also fast die Hälfte.

Je mehr Covid-Symptome Patienten anfangs hatten, umso höher das Risiko für Langzeitverläufe.

Das ME/CFS ist noch wenig erforscht. Was ist der derzeitige Stand der Forschung?

Die genaue Ursache der Erkrankung ist bislang nicht geklärt. ME/CFS wird von den meisten Ärzten und Wissenschaftlern als eine Multisystemerkrankung betrachtet, mit einer Störung des Immunsystems, des Nervensystems und des zellulären Energiestoffwechsels. Bei den meisten Patienten beginnt die Erkrankung mit einer Infektion. Vermutlich liegt dem Chronischen Fatigue Syndrom eine Überaktivierung des Immunsystems zugrunde, die den Energiestoffwechsel der Körperzellen durcheinanderbringt. Es spricht inzwischen einiges dafür, dass es sich um eine Autoimmunerkrankung handelt.

Ist CFS heilbar, wie kann es behandelt werden?

Noch können wir bei den meisten Patienten die Erkrankung nicht heilen. Es gibt bislang keine zugelassenen Medikamente für eine gezielte Therapie.“ Die Behandlung von ME/CFS ist bislang symptomorientiert und zielt darauf ab Schlafstörungen, Schmerzen und weitere belastende Symptome zu behandeln, genauso wie Infektionen, Allergien und Mangelzustände. Ganz wichtig ist es für Patienten Anstrengung zu vermeiden, Schon geringe körperliche Aktivität aber auch emotionale Belastung und mediale Reizüberflutung können eine erhebliche Verschlechterung auslösen. Hilfreich sind auch Techniken zur Entspannung wie autogenes Training oder Atemübun-gen. Eine symptomorientierte Behandlung kann langfristig zu einer Besserung führen und wenige Patienten können vollständig genesen. Erste klinische Studien zeigen die Wirksamkeit immunmodulierender Therapieansätze bei einem Teil der Erkrankten, diese stehen jedoch noch nicht zur Behandlung zur Verfügung.

Die Charité ist eine wichtige Anlaufstelle für behandelnde Ärztinnen und Ärzte. Die können ihre ME/CFS-Patienten im Charité Fatigue Centrum vorstellen – Für die CFS-Sprechstunde gibt es aber noch eine Begrenzung – ist das richtig?

Das Charité Fatigue Centrum bietet eine CFS Sprechstunde für Berliner Patienten an. Das Zentrum wurde mit dem Ziel der Forschung, Aufklärung und Fortbildung mit Unterstützung einer Stiftung gegründet, um Ärzten Hilfestellung bei der Diagnostik und Therapie zu geben. Die Versorgungslage für Patientinnen und Patienten mit ME/CFS ist denkbar schlecht, im ganzen Bundesgebiet gibt es nur eine einzige Spezial-ambulanz für Erwachsene – an der Charité in Berlin. Wir können allerdings wegen der vielen Anfragen in unserem interdisziplinären Verbund derzeit nur Termine für Patienten aus der Region Berlin/Brandenburg anbieten.

WEITERE INFORMATIONEN:

Institut für Medizinische Immunologie

Charité Fatigue Centrum

 

Bei der Behandlung von Menschen mit ME/CFS sehen wir große Versorgungslücken.

 

Die SBK engagiert sich als Konsortialpartner im Rahmen des Innovationsfonds für eine bessere Versorgung für Menschen mit chronischem Fatigue-Syndrom/Myalgischer Enzephalomyelitis (ME/CFS). Dazu unterstützt sie ein Projekt unter der Leitung von Prof. Dr. Carmen Scheibenbogen und Dr. Claudia Kedor vom Institut für Medizinische Immunologie der Charité Berlin, die mit einem interdisziplinären Team aus der Neurologie, Kardiologie, Schlafmedizin, Sportmedizin, Regenerativen Therapie, Physikalischen Therapie, Psychosomatik und Sozialmedizin zusammenarbeiten. Dr. Gertrud Demmler, Vorständin der SBK, erklärt, warum die Beteiligung der SBK an diesem Projekt für sie eine besondere Herzensangelegenheit ist.

Frau Dr. Demmler, warum unterstützt die SBK das Charité Projekt zur Entwicklung eines Versorgungskonzeptes für Menschen mit ME/CFS?

In den vielen Jahren als Vorständin in der SBK bin ich immer wieder in persönlichen Gesprächen mit an ME/CFS erkrankten Versicherten auf verzweifelte Menschen gestoßen. Nicht nur das persönliche Leiden, sondern auch die Odyssee der Betroffenen und die Hilflosigkeit, mit denen unser Gesundheitswesen darauf reagiert hat, haben mich sehr betroffen und manchmal auch wütend gemacht. Diese Ohnmacht wollte und konnte ich nicht akzeptieren. Deswegen hat mich das Engagement von Frau Professor Scheibenbogen für ein Forschungsprojekt zu ME/CFS direkt begeistert.

Mit ihrer Unterstützung will die SBK einen Beitrag dazu leisten, eine Entwicklung anzustoßen, hin zu einer spürbar verbesserten Versorgung der Versicherten mit ME/CFS. Die Zahlen zur Betroffenheit mit ME/CFS zeigen die Versorgungslücke deutlich: In Deutschland sind rund 300.000 Menschen von der Erkrankung betroffen – darunter ca. 40.000 Kinder. Und die Zahl der Erkrankten steigt auch nach unseren internen Zahlen kontinuierlich an: 2016 wurde unter den SBK-Versicherten 1385-mal die Diagnose ME/CFS gestellt. 2019 waren es schon 1770 Versicherte, die in diesem Jahr mit ME/CFS diagnostiziert wurden. Für 2020 liegen noch nicht alle Daten vor. Da ME/CFS aber eines der möglichen Symptome von Long Covid ist, rechnen wir mit einem starken Anstieg der Diagnosen im zweiten Halbjahr 2020 und in 2021. Einzig positiver Nebeneffekt dieser traurigen Entwicklung ist, dass das Thema plötzlich aufgrund von Corona unerwartet deutlich mehr Aufmerksamkeit bekommt. Diese Aufmerksamkeit beschleunigt hoffentlich den Aufbau einer besseren Versorgung für die betroffenen Versicherten.

Denn trotz der vielen Betroffenen gibt es in Deutschland so gut wie keine Versorgungsstrukturen zur Behandlung von ME/CFS. Die Erkrankten finden aktuell nur eine Anlaufstelle an der Charité Berlin sowie ein paar Privatärzte, die mit dem Leiden vertraut sind. Die meisten Ärzte wissen kaum etwas über ME/CFS, was zur Folge hat, dass die Patienten oft mit Jahren Verzögerung diagnostiziert werden. Und auch mit korrekter Diagnose ist es für die Erkrankten noch schwierig eine adäquate medizinische Versorgung zu finden. Die Folgen dieser fehlenden Versorgungsstrukturen sind für die Betroffenen gravierend: Unbehandelt führt die Krankheit häufig dazu, dass die Erkrankten ihren Alltag nicht mehr meistern können. Sie werden berufsunfähig und sind auf ständige Hilfe angewiesen. Das erklärte Ziel des Projekts von Prof. Scheibenbogen ist es, genau das zu verhindern und den Erkrankten die Fähigkeit zu erhalten, ihren Alltag möglichst selbstbestimmt zu meistern und weiter am Berufsleben teilzuhaben.

Dieses Anliegen können wir nur voll und ganz unterstützen, denn es ist eines unsere wichtigsten Ziele innerhalb der SBK, Erkrankten ein möglichst selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Zudem ist es vor dem Hintergrund der beachtlichen Zahl an Betroffenen, die so dringend eine gute Versorgung bräuchten, zwingend geboten, zu dieser Erkrankung nun Wissen(schaft) und Versorgungsstrukturen in Deutschland aufzubauen. Dazu leistet das Projekt von Prof. Scheibenbogen einen wichtigen Beitrag. Daher ist es uns ein großes Anliegen, dieses Projekt zu unterstützen und so auch daran mitzuwirken, dass die gewonnenen Erkenntnisse in den Aufbau einer besseren Versorgungsstruktur für Menschen mit ME/CFS einfließen.

Wie genau sieht die Beteiligung der SBK aus?

Als Konsortialpartner sind wir an der Gestaltung eines zugrundeliegenden Versorgungsvertrags sowie der Ausgestaltung der Prozesse rund um die Einbindung der Versicherten und ihrer Bedürfnisse beteiligt. Zudem fördern wir das Projekt natürlich indirekt auch finanziell, da die Mittel für den Innovationsfonds von den gesetzlichen Krankenkassen und aus dem Gesundheitsfonds getragen werden. Und erlauben Sie mir den Seitenblick: Vielleicht ist gerade dort der Platz für den Innovationsfonds, der aus GKV Geldern gespeist wird: Bei Themen, die keine Aufmerksamkeit bei privaten Investoren wie der Pharmaindustrie oder der Medizintechnik finden und deren Lösung in einem komplexen Behandlungsregime liegen könnte.

Daran anschließend können unsere Versicherten, sofern sie die Kriterien erfüllen, das heißt unter postinfektiöser ME/CFS leiden, am Innovationsfondsprojekt teilnehmen. Die Teilnahme von Versicherten am Projekt ist zum einen wichtig, um eine ausreichende Anzahl von Studienteilnehmern, die für aussagekräftige Ergebnisse notwendig sind, sicherzustellen. Gleichzeitig ist es natürlich eine einmalige Möglichkeit für unsere Versicherten, endlich fachkundige Hilfe zu finden und so hoffentlich ihren Zustand zu verbessern.

Da der Zugang bzw. die Teilnahme am Projekt nicht allen Versicherten möglich sein wird, werden wir begleitend Informationen zur Erkrankung und Erkenntnisse im Umgang mit ME/CFS aus dem Projekt sammeln und unseren Versicherten zur Verfügung stellen. Auch das ist ein erster Schritt hin zu einer besseren Versorgung: Je mehr Patienten über ihre eigene Erkrankung wissen, desto besser können sie ihre Gesundheitssituation beurteilen. Dieses Wissen kann Patienten (wieder) handlungsfähig machen. Sie werden in die Lage versetzt, Entscheidungen besser nachzuvollziehen und ihre Therapie aktiv mitzugestalten – wir möchten unsere Versicherten, die unter dieser schweren Erkrankung leiden, dabei unterstützen und so maßgeblich die Patienten stärken.

Nach Abschluss des Projektes werden wir dann unsere Möglichkeiten nutzen, um die durch das Team von Prof. Scheibenbogen gewonnen Erkenntnisse in den entsprechenden Fachkreisen zu verbreiten. Das ist ein wichtiger Schritt, um sicherzustellen, dass die Erkrankten schneller richtig diagnostiziert und angemessen therapiert werden können.

Welches Ergebnis erhoffen Sie sich von dem Projekt? Was werden konkrete Verbesserungen für die Versicherten sein?

Das übergeordnete Projektziel ist es, durch eine bessere Versorgung eine Verbesserung des Krankheitsverlaufs zu erreichen und es so den Betroffenen zu ermöglichen, ihren Alltag zu bewältigen und auch am beruflichen Leben weiter teilzuhaben. Ob dieses Ziel erreicht wird, wird mit dem Instrument der Patient Reported Outcome Measures gemessen, genauer gesagt über den etablierten SF-36-Fragebogen. Die Einschätzung der Patienten und Patientinnen ist maßgeblich für die Bewertung des Erfolges. Dieser patientenzentrierte Ansatz der Projektbewertung ist für uns ein wichtiges Qualitätsmerkmal des Projekts. Denn wir sind überzeugt, dass die Wahrnehmung des Patienten in der Versorgung ganz generell und insbesondere bei der Beurteilung von Therapieerfolgen eine deutlich größere Rolle spielen sollte.

Wir hoffen, dass nach Projektabschluss wissenschaftlich belegt werden kann, dass eine fundierte Therapie maßgeblich dazu beiträgt, das Ziel der Alltagsbewältigung und beruflichen Teilhabe für Menschen mit ME/CFS zu erreichen. Darüber hinaus hoffen wir natürlich auch auf Erkenntnisse darüber, welche Therapieansätze den Betroffenen am besten helfen. Und dort, wo Fragestellungen entstehen, die mit den bisherigen wissenschaftlichen Erkenntnissen nicht beantwortet werden können, hoffen wir Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler für dieses Thema zu begeistern und weitere Forschungen anzustoßen. Die Anbindung an die Charité ist hier eine gute Voraussetzung. Nicht zuletzt wünschen wir uns, dass für die Menschen, die an der Studie beteiligt sind, eine echte Verbesserung ihrer gesundheitlichen Einschränkungen erreicht werden kann.

Die wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Wirkung von Therapien wiederum sind die Basis, um das dringend benötigte Wissen um diese Erkrankung innerhalb der Ärzteschaft zu verbreiten. Schon davon erhoffen wir uns eine Verbesserung der Versorgung der Betroffenen in Zukunft. Uns ist bewusst, dass man die interdisziplinären Strukturen der Charité nicht so leicht auf ganz Deutschland übertragen kann. Insofern kann man auch die Erkenntnisse zur optimalen Versorgung nicht gleich eins zu eins in die Regelversorgung überführen. Wir erwarten aber durchaus, dass von dem Projekt wichtige Impulse für den weiteren Aufbau von Versorgungsstrukturen zur Therapie von ME/CFS ausgehen werden, so dass nach und nach immer mehr Versicherte von einer gezielten Therapie gegen ihr Leiden profitieren können.

 

Warum ist es aktuell wichtig, die Erkrankung CFS aus der Nische zu holen und den Möglichkeiten für eine bessere Therapie der Patienten viel mehr Aufmerksamkeit zu widmen?

Das Chronische Fatigue Syndrom (ME/CFS) ist bisher relativ unbekannt. Die Erkrankung wird noch nicht lange national und international erforscht. Zudem wurde sie lange als “psychosomatisch” betrachtet. Die Versorgungslage in Deutschland ist zudem nicht gut, da es aktuell jeweils nur eine spezialisierte Ambulanz für Kinder und Jugendliche und eine für Erwachsene gibt, in München bzw. in Berlin. Dabei ist ME/CFS ist eine komplexe Krankheit, die zahlreiche Symptome hat und leicht fehldiagnostiziert werden kann.

Für die Betroffenen ist die Krankheit fatal. Selbst eine kleine körperliche oder geistige Anstrengung kann zur totalen Erschöpfung führen, wie nach einem Marathon. Im besten Fall dauert es Tage oder Wochen, bis sich Patientinnen und Patienten davon erholt haben. Manche erholen sich aber überhaupt nicht mehr. Viele werden pflegebedürftig, an eine geregelte Arbeit ist für die Patientinnen und Patienten kaum noch zu denken. Dabei sind die Betroffenen meist jung.

Wie brisant das Thema ist, zeigt sich in aktuellen Forschungen zu den bereits in der Presse vorgestellten „Long-Covid“-Fällen. Ein Großteil dieser Fälle erfüllt tatsächlich die Kriterien von ME/CFS. Durch eine frühe und richtige Diagnose mit den richtigen therapeutischen Maßnahmen kann das Leiden der Betroffenen jedoch spürbar reduziert werden.

Damit das gelingt, muss das Chronische Fatigue Syndrom aber aus der Nische geholt werden. Denn mit ca. 300.000 Fällen jährlich in Deutschland ist ME/CFS keine seltene Erkrankung, sondern aus meiner Sicht vielmehr eine vernachlässigte. (neglected diseases).

Wie kann die BAHN-BKK als Konsortialpartner des Innovationsfondsprojekts Einfluss nehmen auf die Gestaltung der Prozesse und die Einbindung der Versicherten? (und worauf kommt es dabei besonders an?)

Als Konsortialpartner erarbeiten wir gemeinsam mit den anderen Partnern die für das Projekt notwendigen vertraglichen Grundlagen. Wir legen die Teilnahmebedingungen fest und konzipieren, wie wir die Versicherten informieren und ansprechen werden. Der Schüssel des Erfolges für dieses Projekt liegt darin, dass die in Deutschland festen Grenzen zwischen den Leistungssektoren überwunden werden müssen. Das heißt, die zwischen dem spezialisierten Zentrum an der Charité, den überweisenden und weiter-behandelnden Haus- und Fachärzten und der beteiligten Rehaklinik. Hierzu müssen alle Beteiligten eigene Arbeitspakete fristgerecht erledigen. Ziel ist es, das nach Projektende mehr Zentren und Leitfäden für Haus- und Fachärzte zur Diagnostik und Behandlung von ME/CFS implementiert werden können. Für niedergelassene Ärzte und Ärztinnen soll es außerdem auch nach dem Projekt weiterhin die Möglichkeit geben, bei Bedarf Spezialisten zu konsultieren. Wir freuen uns, unsere Gedanken einbringen zu können und mit dem Projekt im Interesse der Gesundung der Erkrankten, beweisen zu können, dass sektorenübergreifende Behandlung für alle von Nutzen sein kann.

In diesem Innovationsfonds-Projekt entsteht ein Netzwerk für bessere Therapie einer komplexen Krankheit. Welcher zentrale Impuls soll von diesem Pilotprojekt in die Versorgungslandschaft ausgehen?   

Die Behandlung von ME/CFS-Patienten kann, wie oben geschildert, nur verbessert werden, wenn wir über die Sektorengrenzen hinaus zusammenarbeiten. Dieses Pilotprojekt gibt den Impuls, konkret ein sektorenübergreifendes Budget für diese Diagnose zu bilden, damit die Versorgung der etwa 300.000 CFS Patientinnen und Patienten in Deutschland eben nicht an finanzielle Grenzen und persönliche Egoismen der Leistungssektoren stößt. Das könnten wir den Erkrankten, übrigens auch den durch die Pandemie- Erkrankten (Long-Covid Patienten), nicht erklären. Damit erfüllt sich für mich, eine lang artikulierte Forderung zum einen sektorenübergreifend zu arbeiten und zum anderen entsprechende finanzielle Budgets zur Verfügung zu stellen. Ich wünsche mir, das nach erfolgreichem Abschluss auch für andere Krankheitsbilder sukzessive eine komplexe und bedarfsgerechte Behandlung möglich wird. Das wäre für mich eine wichtige und richtige gesundheitspolitische Errungenschaft. 

Das Modellprojekt zeigt wie sinnvoll eine interdisziplinäre Zusammenarbeit ist.

 

Belastungsintoleranz, kognitive Symptome, Erschöpfung, Muskelschmerzen – bis zur Hälfte der Long-Covid-Betroffenen haben auch sechs Monate nach der Erstinfektion Symptome von Chronischem Fatigue. CFS ist leicht zu diagnostizieren aber relativ unbekannt. Hohe Zeit, ein Netzwerk von Wissenschaft, Kliniken, niedergelassenen Ärzten und Kassen zu knüpfen. Was erwartet die BKK VBU von diesem Pilotprojekt für ihre Versicherten?

Für uns ist es wichtig, als Konsortialpartner an diesem Projekt mitzuwirken, da es sich bisher bei CFS um eine bisher recht wenig erforschte Erkrankung handelt. Leider fehlt es noch an individuell angepassten medizinischen und rehabilitativen Versorgungskonzepten.

Das Ziel der gemeinsamen Arbeit in diesem Pilotprojekt ist es deshalb, neue Therapiekonzepte für die Versorgung von CFS-Erkrankten zu entwickeln, von denen auch Patienten mit Long-Covid-Syndrom profitieren können. Wir haben uns als Leitbild gesetzt, für unsere Kundinnen und Kunden ein Lebensverbesserer zu sein – und genau das treibt uns auch in dem gemeinsamen Projekt an: Gemeinsam für unsere Kundinnen und Kunden innovative und sektorenübergreifende Konzepte für ein gesundes Leben zu entwickeln!

Nicht zuletzt versprechen wir uns durch die begleitende Projektkommunikation eine Sensibilisierung der Öffentlichkeit für die Erkrankung und hoffen, auch für die gesundheitspolitische Diskussion neue Ansätze und Impulse für eine patientenzentrierte Versorgung „Hand in Hand“ liefern zu können. 

Mit welchen Hebeln können die Betriebskrankenkassen im Projekt dazu beitragen, die Strukturen interdisziplinärer Zusammenarbeit an der Charité auf Krankenhäuser in ganz Deutschland und in den Bereich der niedergelassenen Ärzte zu übertragen?

Wir können zumindest als gutes Vorbild in dem Modellprojekt zeigen, wie sinnvoll und bereichernd eine interdisziplinäre Zusammenarbeit ist. Eine wirksame Behandlung und Therapie einer Krankheit sollte nicht an Sektorengrenzen scheitern. Nicht nur, aber gerade bei Erkrankungen wie dem chronischen Fatigue-Syndrom ist es für den Behandlungserfolg immens wichtig, eine integrative, patientenzentrierte Sicht einzunehmen.  Eine Abschottung der einzelnen Sektoren führt unweigerlich zu „Schnittstellenverlusten“, also intransparenten Abläufen oder auch Doppelarbeit. Für die Patienten bedeutet dies, dass Behandlung und Betreuung nicht optimal aufeinander abgestimmt sind, was zu langen Wartezeiten und lückenhaftem Informationsfluss oder vermeidbarem Kommunikationsaufwand führt. Gerade bei Patienten, in denen sich stationäre und ambulante Phasen häufig abwechseln, ist es ein großer Gewinn, wenn alle Beteiligten teamübergreifend und koordiniert zusammenarbeiten. Die Digitalisierung spielt bei diesen Prozessen eine wichtige Rolle und bietet hier ein großes Potenzial für eine verbesserte Versorgung. Nicht zuletzt ist aber auch die Einbeziehung der Patienten in die Abläufe und Entscheidungen unerlässlich, wie sie in unserem Projekt CFS_CARE umgesetzt wird.

Eine patientenzentrierte Sicht ist maßgeblich für den Behandlungserfolg.

Kann es gelingen, aus der im Innovationsfonds-Projekt gesammelten Expertise und den Prinzipien Netzwerk und Einbindung der Patienten einen Impuls in die Versorgungslandschaft zu senden, der nachhaltig Wirkung entfaltet? Kann daraus eine Blaupause werden?  

Genau das ist ja das Ziel des Innovationsfonds: Impulse und Weiterentwicklungen für die Versorgung zu erbringen. Der G-BA fördert in diesem Rahmen Modellprojekte, die die sektorenübergreifende Versorgung weiterentwickeln, die innersektorale Schnittstellen optimieren oder Ansätze enthalten, die Trennung der Sektoren zu überwinden. Wenn die Evaluation der Projektvorhaben dann positive Ergebnisse belegen, spricht der Innovationsausschuss einen Beschluss mit Empfehlungen zur Überführung in die Regelversorgung aus, so dass künftig auch über das Modellprojekt hinaus in breiter Fläche von den Innovationen profitiert werden kann. Im Rahmen unseres Projekts ist es vorgesehen, ein Konzept für eine Versorgungsstruktur zu entwickeln, das von anderen Ambulanzen, niedergelassenen Ärzten und Rehakliniken künftig übernommen werden kann. Aus meiner Sicht müssen wir viel stärker die Strukturen und Prozesse unserer heutigen Regelversorgung hinterfragen. Die Entwicklung eines neuen Verständnisses, was wir eigentlich meinen, wenn wir von guter Regelversorgung sprechen, ist eigentlich überfällig. Optimal wäre es, wenn wir mit unserem Projekt beitragen können, darauf Antworten zu geben.