Positionspapier

Hochpreisige Arzneimittel

Ansätze für eine patientenorientierte und wirtschaftliche Versorgung

Wie können neue, innovative Arzneimitteltherapien schnell in den Markt kommen, ohne die Beitragszahler finanziell zu überlasten? Hier sollte das AMNOG-Verfahren eine Balance sicherstellen. Doch diese Balance geht zunehmend verloren – und zwar zu Lasten der Versicherten. Höchste Zeit also, das AMNOG-Verfahren gleich zu Beginn der neuen Legislaturperiode weiterzuentwickeln und den sich ändernden Marktbedingungen anzupassen.

Gelbe Tablette.

Dies sind unsere Vorstellungen dazu: 

  • Der Preis muss zur Evidenz passen
  • Ende des Orphan Drug Privilegs
  • Neuer Preismechanismus bei Einmaltherapien
  • Rabatte für Kombinationstherapien
  • Marktzugang vor Zulassung nur im Härtefall-Programm

Der Preis muss zur Evidenz passen!

Derzeit kann ein Hersteller im ersten Jahr nach Marktzugang den Preis seines Produktes frei festsetzen. Das ist in Europa einmalig und problematisch. Denn die Preise kennen meist nur eine Richtung: nach oben. Der Kompromiss im Koalitionsvertrag sieht vor, dass der auf Grundlage der frühen Nutzenbewertung zwischen Hersteller und GKV-Spitzenverband verhandelte Erstattungsbetrag nicht mehr nach 12, sondern bereits nach sechs Monaten zur Anwendung kommt. (Eine Darstellung des zeitlichen Ablaufs des AMNOG-Verfahrens findet sich etwa hier.)
Für neue Arzneimittel, die im regulären Verfahren durch die Europäische Arzneimittel-Agentur (European Medicines Agency – EMA) zugelassen worden sind, ist dieser Kompromiss geeignet. Er ist der Mittelweg zwischen der Forderung der Krankenkassen nach rückwirkender Geltung des Erstattungsbetrags zum ersten Tag und der bestehenden Regelung. Ein nachträglich verhandelter Erstattungsbetrag ist jedoch immer strategieanfällig. Die kürzere Phase des freien Preises wird vorab eingepreist. Die politisch erhofften Einsparungen werden sich so nicht erzielen lassen. 
Für neue Arzneimittel, die nach einer beschleunigten Zulassung auf den Markt kommen, ist der Evidenznachweis oft dürftig. Zum Schutz der betroffenen Patient:innen muss für die Hersteller ein Anreiz geschaffen werden, sich um eine bessere Evidenz als bislang zu bemühen.  
Lösung: Das Verfahren muss dem Prinzip „Der Preis folgt der vorhandenen Evidenz“, also dem Nachweis der klinischen Wirksamkeit im Anwendungsgebiet, folgen: 

  • Der freie Einstandspreis wird durch einen niedrigeren Startpreis als Interimspreis ersetzt.
  • Der Startpreis orientiert sich grundsätzlich an den Kosten der zweckmäßigen Vergleichstherapie.
  • Erst wenn ausreichend klinische Daten vorhanden sind, wird ein Erstattungsbetrag verhandelt.
  • Die Evidenz wird durch ein Nutzenbewertungsverfahren des G-BA belegt.

Erläuterung: 

Unter beschleunigten Zulassungen versteht man eine Gruppe von Zulassungsarten mit zumeist geringer Evidenz. Dazu zählen etwa  

… bedingte Zulassungen („Conditional Approval“),

… Zulassungen unter außergewöhnlichen Umständen („Exceptional Circumstances“),

... Zulassungen für Arzneimittel für seltene Leiden („Orphan Drugs) und

… Zulassungen für Arzneimittel für neuartige Therapien (ATMP, „Advanced Therapy Medicinal Products“)

Darüber hinaus sind in Bezug auf nur geringe bzw. nicht vorhandene Evidenz noch die folgenden Maßnahmen denkbar: 

  • Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) beschränkt die Verordnung auf Patientengruppen, für die ein klinischer Zusatznutzen nachgewiesen wurde, wenn für die anderen Patientengruppen ein eklatanter Evidenzmangel festgestellt wurde.
  • Gibt es in einem Therapiegebiet mehrere neue, ähnliche Arzneimittel, kann der G-BA diese zusammenfassen. Eine Krankenkasse kann das Therapiegebiet ausschreiben und ihre Versicherten überwiegend mit einem dieser neuen Arzneimittel versorgen lassen (Bsp.: mehrere Migräneantikörper)

Ende des Orphan Drug Privilegs!

Orphan Drugs sind Arzneimittel zur Therapie seltener Erkrankungen. Im Zulassungsprozess der EMA erhalten sie Privilegien. Dabei ist für den Hersteller die Marktexklusivität am wichtigsten.  
Auch in der frühen Nutzenbewertung sind Orphan Drugs privilegiert. Ihr Zusatznutzen gilt mit der Zulassung bis zu einer Grenze von einem Jahresumsatz von 50 Millionen Euro als belegt. Erst bei Überschreitung dieser Grenze ist der Zusatznutzen gegenüber einer zweckmäßigen Vergleichstherapie nachzuweisen. Patient:innen mit Orphan Diseases (seltenen Erkrankungen) haben jedoch ein Recht auf eine vollständige und transparente Bewertung eines neuen Arzneimittels. Auch für sie ist die Frage nach dem zusätzlichen Nutzen ihrer Therapie bzw. einem Mehr an Lebensqualität essentiell.  
Entsprechend fordern wir: 

  • Der Sonderstatus in der frühen Nutzenbewertung von Orphan Drugs muss beendet werden.
  • Behelfsweise sollte pro seltene Erkrankung nur das erste Orphan Drug privilegiert sein. Alle nachfolgenden müssen sich einer vollumfänglichen Bewertung stellen. Die inhaltlich unbegründete Umsatzgrenze von 50 Mio. Euro ist – sollte ein Orphan Drug Privileg weiterhin bestehen – deutlich herabzusetzen.

Neuer Preismechanismus bei Einmaltherapien!

Seit Jahren nimmt auch die Zahl der extrem teuren Einmaltherapien zu. Diese Hochpreiser werden nur einmal verabreicht und sind häufig mit dem Versprechen auf anschließende Heilung verknüpft. Die Evidenz ist auch bei diesen Arzneimitteln zum Zeitpunkt der Markteinführung oft schlecht. 
Bis dato therapieren diese neuen Arzneimittel ausschließlich seltene Erkrankungen und zahlenmäßig wenige Patient:innen. In den Forschungspipelines der pharmazeutischen Industrie zielen sie allerdings auch auf weitere und größere Anwendungsgebiete: Die American Society of Gene and Cell Therapy schätzt, dass derzeit weitere 3.500 Advanced Therapy Medicinal Products (ATMP) untersucht werden. 
Auch für die hochpreisigen Einmaltherapien mit unsicherer Wirkung und Wirk-dauer muss ein Preismechanismus etabliert werden, der die Unsicherheiten berücksichtigt und über die Zeit einpreist. Die Lösung: Das Prinzip des prospektiv angepassten Erstattungsbetrags: 

  • Die Verhandlungspartner einigen sich auf einen Erfolgspreis des neuen Arzneimittels, der den Wert der neuen Therapie bei vollumfänglichen therapeutischen Erfolg widerspiegelt.
  • Zu Beginn des Markteintritts gilt jedoch der Interimspreis. Er schätzt ab, zu welchen Teilen der Therapieerfolg wahrscheinlich ist. Der Interimspreis ist damit niedriger als der Erfolgspreis.
  • Die Abschätzung erfolgt, indem die Erfolgsquote des neuen Arzneimittels in der Zulassungsstudie berücksichtigt wird.

Beispiel: Liegt der Erfolgspreis bei 1.000.000 Euro und in der Studie erreichten 75 % der behandelten Patienten das Therapieziel, so betrüge der Interimspreis 750.000 Euro. 

  • Mit dem transparenten Interimspreis startet die Markteinführung. Nach einem angemessenen Zeitraum, z. B. einem Jahr, wird die Erfolgsquote unter den real behandelten Patient:innen ermittelt: Ist ein höherer Anteil an Patient:innen erfolgreich behandelt als in der Zulassungsstudie, steigt der Preis entsprechend für zukünftige Behandlungen an. Ist ein kleinerer Anteil an Patient:innen erfolgreich behandelt als in der Zulassungsstudie, fällt ein niedrigerer Preis für zukünftige Behandlungen an.

Dieses Modell vereint folgende Vorteile:

  • Der Erstattungsbetrag ist vorwärtsgerichtet und einmalig zu zahlen. Es gibt keine Raten- oder Rückzahlungen, die einen zusätzlichen Aufwand für Krankenkassen oder Hersteller verursachen.
  • Der Erstattungsbetrag ist transparent.
  • Der prospektive Erstattungsbetrag ist mit dem Risikopool vereinbar.

Folgender Klärungsbedarf besteht:

  • Die Vertragspartner müssen sich auf einen Erfolgspreis einigen. Als Ori-entierung könnte der AIM Fair Pricing Calculator dienen.
  • Es besteht bei neuen Therapien in der Preisbildung eine Abhängigkeit vom Preisniveau im jeweiligen Therapiegebiet. Das Modell greift diesen wichtigen Punkt nicht auf.
  • Die Frage, welcher Zeitraum (im Gegensatz zu einer u.U. jahrelangen Dauertherapie) für eine potentiell lebenslang wirkende Einmaltherapie angenommen wird, ist noch nicht abschließend geklärt.
  • Der Erfolg der Therapie muss eindeutig definiert werden. Dieser muss patientenrelevant und objektiv messbar sein.

Erläuterung: Der Fall Zynteglo™

In der Vergangenheit fand das Modell des prospektiv angepassten Erstattungsbetrags einmal (fast) Anwendung: Zynteglo™ (Betibeglogene Autotemcel) gehört zur Gruppe der ATMP, konkret zu den Gentherapeutika. Der Hersteller Bluebird bio hatte Zynteglo™im November 2019 auf den deutschen Markt gebracht. In der frühen Nutzenbewertung attestierte der G-BA im Mai 2020 Zynteglo™ einen Anhaltspunkt für einen nicht quantifizierbaren Zusatznutzen.
Die Vertragspartner konnten sich auf das Modell einigen, lagen allerdings bei der Höhe des Erfolgs- und Interimspreises weit auseinander. Daher musste die Schiedsstelle nach §130b SGB V die Werte festlegen. Das Ergebnis lag unter den Erwartungen von Bluebird bio. Zeitgleich lief ein Verfahren bei der EMA. Das Arzneimittel stand im Verdacht, krebserregend zu sein. Bluebird bio nahm Zynteglo™ weltweit vom Markt. Der Verdacht ist inzwischen ausgeräumt, aber Zynteglo™ ist nach wie vor nicht auf den deutschen Markt zurückgekehrt.  

Rabatte für Kombinationstherapien!

Die Kombinationen aus mehreren Arzneimitteln zur Therapie einer Erkrankung ist kein neues Prinzip. Die Anzahl und auch die Kombinationspartner der neuen Kombinationen nehmen jedoch gerade im Bereich der Onkologie stark zu. Zwar ist hier der zusätzliche Nutzen eines weiteren Kombinationspartners für die Patient:innen gering bzw. geringer als in der Einzelbetrachtung. Die Hersteller erhalten jedoch für jedes eingesetzte Produkt den vollen Preis, unabhängig davon, ob es an zweiter, dritter oder gar vierter Stelle zur Anwendung kommt. 
Sinnvoll wäre daher hier die Einführung eines Kombinationsrabattes. Die Hersteller erhielten damit für jedes weitere angewendete Produkt nicht mehr den vollen Preis, sondern einen – u.U. auch gemäß der Reihenfolge der Anwendung – reduzierten bzw. abgestaffelten Preis. Damit würden kombinierte Arzneimittel dem Umstand Rechnung tragen, dass der zusätzliche therapeutische Gewinn einer Kombination aus Sicht der Patient:innen fast nie 1+1 = 2 ist. Auch hier gilt der Grundsatz der Preis folgt der Evidenz. 

Marktzugang vor Zulassung nur im Härtefall-Programm!

Eine Versorgung von Patient:innen mit einem Arzneimittel noch vor der europäischen Zulassung erfolgt in der Regel und im Sinne der Patientensicherheit nur im Rahmen eines Härtefall-Programmes. Während eines solchen Programmes werden klinische Daten erhoben und zur Bewertung des neuen Arzneimittels gesammelt und ausgewertet. Nur so gehen klinische Informationen über ein neues Arzneimittel vor seiner Zulassung nicht verloren und können in der Gesamtbewertung des klinischen Nutzens Berücksichtigung finden.  
Kürzlich wurde das Härtefall-Programm jedoch vom Hersteller ad absurdum geführt: Durch erheblichen, medialen Druck wurde das Arzneimittel außerhalb eines Härtefall-Programms in den deutschen Markt gedrückt. Fragen zu der Patientensicherheit blieben so unbeantwortet. Der Hersteller konnte vielmehr die Phase der freien Preissetzung zu seinen Gunsten nach vorne verlängern. Die Bewertung des Arzneimittels erfolgte erst ab dem offiziellen Marktzugang. 
Lösung: Um ein derartiges Vorgehen künftig zu vermeiden, sollte der Markteintritt eines neuen Arzneimittels mit dem ersten zu Lasten der GKV in Deutschland behandelten Patient:innen beginnen. Im Anschluss greifen die hier beschriebenen Regelungen.

PDF herunterladen