Auf dieser Seite finden Sie Pressematerial zum BKK Gesundheitsreport 2021

Die Coronavirus-Pandemie verändert die Welt. Auch in Deutschland stehen in deren Folge Beschäftigte, Unternehmen sowie die gesamte Gesellschaft enormen Herausforderungen gegenüber. In vielen Bereichen wirkt die Pandemie als Beschleuniger eines bereits stattfindenden Wandels – etwa in puncto digitaler Transformation – der dauerhaft unser Leben und Arbeiten verändern wird.

Deshalb befasst sich das diesjährige Schwerpunktthema mit eben dieser Krise und deren weitreichende Folgen besonders in der Arbeitswelt. Anhand dessen wird zudem beispielhaft die Bewältigung von Krisen im Allgemeinen sowie der dadurch beschleunigte Wandel der Arbeitswelt betrachtet. Daran schließt sich zudem die Frage nach der zukünftigen gesunden Gestaltung von Arbeit an.

Um dem nachzugehen, werden Kennzahlen zu Arbeitsunfähigkeit, ambulanter und stationärer Versorgung sowie den Arzneimittelverordnungen im Zusammenhang mit Covid-19-Infektionen und darüber hinaus betrachtet. Ferner zeigen Ergebnisse einer Umfrage zum Schwerpunkthema die kurz- und langfristigen Auswirkungen der Coronavirus-Pandemie auf. Überdies bereichern wieder zahlreiche Gastautorenbeiträge aus Wissenschaft, Politik und Praxis zur Pandemie und deren Folgen sowie längerfristigen Entwicklungen in der Arbeitswelt genauso wie zu hierzu relevanten Projekten und Initiativen dieses Buch.

Der diesjährige BKK Gesundheitsreport will nicht nur Erkenntnisse über Auswirkungen und Bewältigung der Coronavirus-Pandemie liefern, sondern auch Impulse für die zukünftige bedarfs- und gesundheitsgerechte sowie krisenfeste Gestaltung von Arbeit aufzeigen.

Der Podcast zum BKK Gesundheitsreport 2021

SPRECHERIN Irgendwie scheint die Welt aus den Fugen geraten. Was wir gewiss meinten, weicht einem Neuen. Und das Neue verändert uns, unsere gesamte Lebens- und Arbeitswelt. Ein winziges Virus schafft Distanz. Und beschleunigt doch nur den Wandel, der sich längst anbahnte. Häufig erleben und begegnen wir einander nur noch im digitalen Raum. Aber wo bleibt der Mensch? Dieser Frage geht auch der diesjährige Gesundheitsreport der Betriebskrankenkassen nach. Franz Knieps zieht Bilanz. Er ist Vorstand des Dachverbands Betriebskrankenkassen in Berlin:

OT1 Knieps Wir erleben, dass die früher scharfe Trennung zwischen Selbständigkeit und abhängiger Beschäftigung zunehmend ineinander übergeht. Wir erleben, dass früher die klaren und tief gestaffelten Hierarchien zunehmend aufgeweicht werden. Die Welt der Arbeit und die Welt der Wirtschaft wandelt sich. Die frühere Situation, dass Menschen lebenslang bei einem Arbeitgeber beschäftigt sind, wird eher die Ausnahme. Und last but not least die digitale Transformation erfasst natürlich auch die Wirtschaft und das Arbeitsleben. Neue Skills werden benötigt, um digital mithalten zu können. Aber diese neuen Skills führen auch dazu, dass Entfernung und Entfremdung von der Arbeit größer werden können. Die Gliederung der Arbeit in Raum und Zeit wird zunehmend aufgeweicht. Und das kann, muss aber nicht zu Problemen führen.

SPRECHERIN Paradigmatisch für diese Aufweichung steht die Arbeit im Homeoffice, lange ein Trend, doch durch Corona fast schon Normalität, die so manchem Beschäftigten zusetzt. Dr. Matthias Richter, Referent für die Gesundheitsberichterstattung beim BKK Dachverband:

OT2 Richter Mehr als jeder vierte Beschäftigte gibt an, dass sich das eigene Unternehmen gut oder sogar sehr gut auf die Herausforderungen der Coronavirus-Pandemie eingestellt hat. Gleichzeitig sagt aber auch etwa ein Viertel der Befragten, dass die Arbeitsmotivation, genauso wie der Zusammenhalt in der Belegschaft schlechter geworden ist. Beim Gesundheitszustand zeigt sich eine Verschlechterung mit zunehmender Dauer der Pandemie. In der Befragung im Jahr 2020, einige Monate nach Beginn der Pandemie, waren die gemachten Angaben kaum anders als vor der Pandemie. Hingegen ein Jahr später, im Jahr 2021, gaben deutlich mehr Personen an, dass ihr körperlicher oder psychischer Zustand sich verschlechtert hätte.

SPRECHERIN Gefühlt birgt sich das Virus überall. Und die Gefahr ist real. Vor allem für die Menschen, die nicht aufs Homeoffice zurückgreifen können – durch alle Personengruppen, sagt Dirk Rennert, Leiter der Gesundheitsberichterstattung beim BKK Dachverband:

OT3 Rennert Vor allem die jüngeren Beschäftigten sind häufiger von einer Arbeitsunfähigkeit aufgrund von COVID-19 betroffen. Aber je älter die Beschäftigten sind, desto länger sind sie im Durchschnitt wegen Covid-19 krankgeschrieben. Zudem zeigt sich, dass beschäftigte Frauen häufiger von Fehlzeiten wegen Covid-19 als ihre männlichen Kollegen betroffen sind. Das liegt vor allem daran, dass Frauen besonders häufig in Berufen und Branchen mit erhöhtem Infektionsrisiko arbeiten.

SPRECHERIN Etwa in Pflegeberufen, nur als Beispiel. Unter Masken wird das Gesicht unkenntlich und der Wunsch nach Begegnung desto größer, weiß BKK Vorstand Franz Knieps:

OT4 Knieps Je länger natürlich die Pandemie dauert, desto größer wird die Sehnsucht wieder zu Gewohntem, zu kollegialer Kooperation zurückzukehren. Man darf ja nicht vergessen, es ist ja nicht nur die Arbeit, der Betrieb ist ja auch ein sozialer Ort, wo Freundschaften stattfinden, wo gute Nachbarschaften stattfinden, wo gemeinsam etwas erarbeitet wird. Und das ist schwieriger, wenn man nur auf die Kachel des Bildschirms schaut.

SPRECHERIN Der Betrieb als Ort des Sozialen. Den Gedanken unterstreicht auch Prof. Holger Pfaff, Professor am Institut für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft der Universität zu Köln:

OT5 Pfaff Das Unternehmen muss so eine Art Gemeinschaftsgefühl wieder erzeugen. Das geht jetzt verloren, weil wir sind in gewisser Weise atomisiert. Und das führt dazu, dass das Gemeinschaftserleben wegbricht. Und das ist ein großer Teil der Emotion und auch der Motivation für Leute zur Arbeit zu gehen. Es ist nicht so sehr die Arbeit selbst, sondern es ist auch dieses Unter-Leuten-sein, sich mit Leuten austauschen können, mal gemeinsam Lachen.

SPRECHERIN Folgt man Prof. Pfaff trägt nicht bloß die Arbeit an Inhalt und Strategie zur Resilienz, zur Widerstandsfähigkeit von Unternehmen bei, sondern auch und vor allem der beiläufige Kontakt miteinander:

OT6 Pfaff Wir entdecken auch den Wert der Gespräche neben der eigentlichen Sache, also das Gespräch nach einer Sitzung, wo man sich noch kurz austauscht. Da werden auch die geheimen Informationen, wenn man so will, ausgetauscht. Aus organisationswissenschaftlicher Sicht haben wir ja zurzeit eine Formalisierung der ganzen Arbeit. Und das Informelle, was die Arbeit auch ausmacht, das wird jetzt geringer, weil es gar nicht gelebt werden kann.

SPRECHERIN Bei aller Sehnsucht nach dem Gewohnten, die Welt schreitet fort, transformiert sich in Richtung des Digitalen. Dem pflichten auch die im Gesundheitsreport der BKK Befragten bei. Die Frage bleibt, wie das Neue mit dem Alten zu verbinden sei und im Sinne einer gesunden Lebens- und Arbeitswelt – nicht zuletzt eine Frage des politischen Willens. Franz Knieps:

OT7 Knieps Ich wünsche mir von einer neuen Regierung, dass sie mal innehält und sagt, was wollen wir eigentlich politisch längerfristig erreichen. Man nennt das neudeutsch ‚Ordnungspolitik‘. Ich bin von Hause aus Jurist. Da müsste man meinen, dass Juristen das kleinteilige Gesetze-machen lieben. Ich halte aber diesen Weg für falsch. Ich glaube, wir brauchen weniger Regulierungsmenge und eine geringere Regulierungsdichte. Ich bin nahezu süchtig danach, Spielräume für Innovationen und Experimente zu bekommen, denn das altehrwürdige Gesundheitssystem ist in die Jahre gekommen und muss den Herausforderungen angepasst werden. Deshalb hat für mich absolute Priorität, integrative Leistungserbringung zu fordern und zu fördern und digitale Transformation zu beschleunigen und auch in den eigenen Reihen dafür zu werben, sich auf diese digitale Welt einzustellen.

Interview mit Franz Knieps zum Gesundheitsreport 2021

Franz Knieps ist Vorstand des BKK Dachverbands e.V. und Herausgeber des BKK Gesundheitsreports.

FRAGE 1 Herr Knieps, die Arbeitswelt wandelt sich und nicht erst seit Beginn der Corona-Pandemie. Wie stellen sich die veränderten Arbeitsformen und Arbeitsbedingungen Ihnen dar?

OT1 Ja, es ist ein sehr vielfältiger Prozess. Wir erleben, dass die früher scharfe Trennung zwischen Selbständigkeit und abhängiger Beschäftigung zunehmend ineinander übergeht. Wir erleben, dass früher die klaren und tief gestaffelten Hierarchien zunehmend aufgeweicht werden, dass diese Hierarchien ergänzt werden durch Teambildung, durch agile Arbeitsformen. Außerdem, das ist ja nicht schlecht, haben jüngere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer einen anderen Anspruch an die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Und deshalb spielt Teilzeit eine immer größere Rolle. Die Welt der Arbeit und die Welt der Wirtschaft wandelt sich, das heißt, die frühere Situation, dass Menschen lebenslang bei einem Arbeitgeber beschäftigt sind, wird eher die Ausnahme, ein häufiger Wechsel zwischen Arbeitgebern die Regel. Und last but not least die digitale Transformation erfasst natürlich auch die Wirtschaft und das Arbeitsleben. Neue Skills werden benötigt, um digital mithalten zu können. Aber diese neuen Skills führen auch dazu, dass Entfernung und Entfremdung von der Arbeit größer werden können. Die Gliederung der Arbeit in Raum und Zeit wird zunehmend aufgeweicht. Und das kann, muss aber nicht zu Problemen führen.

FRAGE 2 Sie sprachen von zunehmender Entfernung und Entfremdung von der Arbeit. Exemplarisch dafür kann wohl die Arbeit im Homeoffice stehen. Dem geht auch der diesjährige Gesundheitsreport der Betriebskrankenkassen nach, sprich der Frage, wie die Beschäftigen ihre Arbeit im Homeoffice einschätzen, ob eher problematisch oder eher nicht?

OT2 Wir stellen fest, dass einerseits Arbeitnehmer sehr zufrieden sind, dass sie Arbeitsort und Arbeitszeit freier wählen können als früher. Bei Umfragen sind das immer so zwischen ein Viertel und ein Drittel der Befragten. Auf der anderen Seite haben wir aber auch Leute, die an Vereinsamung leiden, die sich zu Hause eingesperrt fühlen, die zurückkommen wollen ins Büro, die die Gemeinschaft mit Kolleginnen und Kollegen vermissen. Auch da wird man davon ausgehen müssen, dass es bei rund einem Viertel der Fall ist. Je länger natürlich die Pandemie dauert, desto größer wird die Sehnsucht wieder zu Gewohntem, zu kollegialer Kooperation zurückzukehren. Man darf ja nicht vergessen, es ist ja nicht nur die Arbeit, der Betrieb ist ja auch ein sozialer Ort, wo Freundschaften stattfinden, wo gute Nachbarschaften stattfinden, wo gemeinsam etwas erarbeitet wird. Und das ist schwieriger, wenn man nur auf die Kachel des Bildschirms schaut.

FRAGE 3 Einerseits belastet das mobile, digitale Arbeiten die Beschäftigten, andererseits schreitet der digitale Wandel unserer Arbeitswelt voran. Wie lässt sich das im Sinne einer „gesunden Arbeit“ zusammenbringen? Was können Betriebe tun, um etwa die Motivation und den Zusammenhalt ihrer Beschäftigten zu stärken?

OT3 Also das Wichtigste ist einmal diese Widersprüche auszuhalten und resilient, also widerstandsfähig, gegen solch unterschiedliche Belastungen zu werden. Das Zweite ist, in die Betriebe hineinzuhorchen, mit den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zu sprechen. Und das dritte ist, Führungskräfte auf die Besonderheiten des Führens in einer digitalen Umwelt anzusprechen und sie entsprechend zu trainieren. Also die Flexibilität muss größer werden, aber auch die Sensibilität der Unternehmensführung muss größer werden, damit sie rechtzeitig erkennt, wo sich Belastungen zeigen, wo sich psychische Auffälligkeiten entwickeln, wo Hilferufe nur unterdrückt wahrnehmbar sind. Die Führungsverantwortung ist größer geworden.

FRAGE 4 Sie sprechen von der besonderen Rolle von Führungskräften in einer veränderten digitalen Umwelt. Doch stehen wohl auch die Beschäftigten in der Pflicht. Wie kann das Zusammenspiel zwischen Führung und Mitarbeitenden gelingen?

OT4 Das ideale Mittel ist betriebliches Gesundheitsmanagement und betriebliche Gesundheitsförderung. Die Belastungsfähigkeit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hängt von einem guten Betriebsklima ab, hängt davon ab, ob Entscheidungsmöglichkeiten geboten werden, ob die Arbeit abwechslungsreich ist. Und da, das hat die Pandemie gezeigt, ist viel mehr möglich als früher überhaupt gedacht werden konnte. Im eigenen Haus hab ich die Erfahrung gemacht, dass die Produktivität steigt, wenn die Vielfalt steigt.

FRAGE 5 Mehr Vielfalt, sagen Sie, aber wie stellt sich diese Vielfalt konkret dar?

OT5 Ja, bei Beginn der Pandemie haben einige Führungskräfte in unserem Haus befürchtet, dass sie weniger Kontakt zu ihren Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen haben und dass sie nicht mehr quasi täglich sehen können, was passiert. Aber die digitale Arbeitsform bietet ja die Möglichkeit jeden Morgen sich zu einer kurzen Runde zusammenzuschließen. Ich persönlich hab beispielsweise fast alle Kinder meiner Mitarbeitenden kennengelernt, die früher oder später mal mit auf dem Bild waren. Und wir haben es auch lustig genommen, wenn bestimmte Dinge mal nicht so funktioniert haben und unterbrochen wurden. Insgesamt hatte ich so den Eindruck, dass der Zusammenhalt gestärkt und nicht geschwächt wurde.

FRAGE 6 Wir sprachen von Führungskräften und Mitarbeitenden in den Betrieben, zuletzt auch in ihrem Verband, dem Dachverband der Betriebskrankenkassen. Nun fordern Sie des Weiteren auch eine Neubestimmung der Rolle von Krankenkassen und insofern auch der Betriebskrankenkassen. Was dürfen wir darunter verstehen?

OT6 Ja, es ist der alte Spruch vom Payer zum Player zu werden, also vom Finanzamt zur gestaltenden Institution im Gesundheitswesen zu werden. Der Gesetzgeber hat uns so viele Aufgaben gegeben, wo wir unsere Versicherten unterstützen sollen, wie wir Leistungsprozesse im Gesundheitswesen organisieren sollen. Und das verlangt eine andere Rolle als das klassische Sozialversicherungsgeschäft, nämlich Beiträge einzuziehen und sie an Organisationen der Leistungserbringer weiterzuleiten. Wir nehmen diese Rolle wirklich bewusst an, wir haben eine besondere Nähe zu unseren Versicherten und zu unseren Betrieben aus der Tradition heraus, aber auch gelebt durch neue Angebote. Wir sind als Betriebskrankenkassen nicht der große Tanker oder Flugzeugträger, der 15 Kilometer weiter fährt, bevor er erst einmal anhalten kann und dann einen riesigen Radius braucht, um zu wenden. Wir sind kleine, schnelle Beiboote, die sehr flexibel auf das reagieren können, was Versicherte wollen und das, was Betriebe wollen. Und dazu treten wir in einen aktiven Dialog, wir befragen die Leute. Und wir sind stolz auf unsere Selbstverwaltung, die noch direkt aus den Betrieben stammt. Das sind Betriebsräte, das sind Personalverantwortliche mit täglichem Bezug zur Praxis. Und im Dialog mit dieser Selbstverwaltung entwickeln wir unsere Angebote sehr praxisnah.

FRAGE 7 Sie sagen praxisnah, nah am Kunden und schon immer im Zusammenspiel mit den Betrieben. Wo greift da die eigentliche Neubestimmung der Rolle von Kassen?

OT7 Ja, aber sie hat früher so ein bisschen vor sich hin gewurschtelt und jetzt entwickeln wir gemeinsame Aktivitäten mit Betrieben. Wir haben Projekte im Innovationsfonds mit Betrieben, mit Personalverantwortlichen, mit Betriebsräten, mit Gewerkschaften, mit Arbeitsmedizinern direkt vor Ort. Und das ist recht neu! Und das tun wir in der BKK-Gemeinschaft von über 70 Kassen gemeinsam. Wir erfinden also die Welt nicht 70 Mal, sondern wir entwickeln etwas einmal und rollen es dann aus in die Betriebe, direkt zu den Versicherten.

FRAGE 8 Das Wirken gesetzlicher Kasse wie der Betriebskrankenkassen ist immer auch eng mit dem politischen Willen, dem Staat als Gesetzgeber verbunden. Die Bundestagswahl liegt hinter uns. Was erwarten Sie von der Gesundheitspolitik einer künftigen Bundesregierung?

OT8 Also meine Erwartungen sind nicht so hoch. Ich möchte nicht, dass wieder Dutzende von Gesetzen gemacht werden, Dutzende von Verordnungen gemacht werden, die oft nur eine Halbwertszeit von Tagen oder Wochen haben. Ich wünsche mir von einer neuen Regierung, dass sie mal innehält und sagt, was wollen wir eigentlich politisch längerfristig erreichen. Man nennt das neudeutsch ‚Ordnungspolitik‘. Also eine gewisse Klarheit, welche Ziele hat diese Regierung und woran misst sie, ob diese Ziele erreicht werden. Ich bin von Hause aus Jurist. Da müsste man meinen, dass Juristen das kleinteilige Gesetze-machen lieben. Ich halte aber diesen Weg für falsch. Ich glaube, wir brauchen weniger Regulierungsmenge und eine geringere Regulierungsdichte. Ich bin nahezu süchtig danach, Spielräume für Innovationen und Experimente zu bekommen, denn das altehrwürdige Gesundheitssystem ist in die Jahre gekommen und muss den Herausforderungen – wir sprachen beispielsweise über die digitale Transformation – angepasst werden. Deshalb hat für mich absolute Priorität, integrative Leistungserbringung zu fordern und zu fördern und digitale Transformation zu beschleunigen und auch in den eigenen Reihen dafür zu werben, sich auf diese digitale Welt einzustellen.

FRAGE 9 Sich auf die digitale Welt einstellen, sagen Sie, abschließende Frage: Wie sehen Sie persönlich den digitalen Wandel unserer Arbeitswelt? Eher als Chance oder mehr als Problem?

OT9 Also das Glas ist für mich immer halb voll. Das kriegt man in die DNA des Rheinländers schon mitgegeben. Von daher überwiegen für mich die Chancen, die die digitale Transformation bietet. Im Übrigen ist sie auch nicht aufzuhalten. Also wenn man wie die Ärzte mal ein Jahr Pause von der digitalen Transformation fordert, dann kann man auch sagen, das schlechte Wetter soll mal ein Jahr lang wegbleiben oder es soll ein Jahr lang Sommer bleiben in Berlin. Für mich ist das so ein bisschen das Anbellen des Mondes. Man muss wachsam sein, man muss sensibel sein für die Gefahren, die digitale Angebote, digitale Leistungen, digitale Veränderungen mit sich bringen, aber man muss die Potenziale ausschöpfen. Ich hab’s ja gesagt, man muss die Widersprüchlichkeit aushalten. Und da können wir noch deutlich zulegen.

Interview mit Prof. Dr. Holger Pfaff zum BKK Gesundheitsreport 2021

Prof. Pfaff ist Direktor des Instituts für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft (IMVR) der Humanwissenschaftlichen Fakultät und der Medizinischen Fakultät der Universität zu Köln und Herausgeber des BKK Gesundheitsreports.

FRAGE 1 Herr Prof. Pfaff, welcher Fähigkeiten bedürfen Unternehmen, um sich in einer Krise wie der Coronavirus-Pandemie widerstandsfähig aufzustellen?

OT1 Die Unternehmen brauchen erst einmal einen Ausblick in die Zukunft. Sie müssen versuchen Dinge vorauszusagen, die noch eintreten werden. Dann müssen Sie genau identifizieren, welche Dinge auf sie zukommen, die wirklich relevant sind für sie. Dann müssen sie schnell reagieren können auf unvorhergesehene Ereignisse, das heißt, ihre Entscheidungsstrukturen und Prozesse müssen so sein, dass man wirklich schnell zum Punkt kommt. Und man muss auch überlegen, was man aus dem Vergangenen lernen kann, also man muss den Blick zurück machen, wo standen wir und was hätten wir besser machen müssen.

FRAGE 2 Unternehmen beschäftigen unterschiedliche Menschen mit teils sehr unterschiedlichen Interessen und Ansichten. Wie bringe ich – gerade in einer Krise – die Menschen dazu, gemeinsam an einem Strang zu ziehen, um als Unternehmen handlungsfähig zu bleiben?

OT2 Das Unternehmen muss so eine Art Gemeinschaftsgefühl wieder erzeugen. Das geht jetzt verloren, weil wir sind in gewisser Weise atomisiert. Jeder macht sein Ding zuhause oder auch bei der Arbeit. Jetzt muss die Arbeit auch so organisiert werden, dass man möglichst wenig miteinander zu hat. Und das führt dazu, dass das Gemeinschaftserleben wegbricht. Und das ist ein großer Teil der Emotion und auch der Motivation für Leute zur Arbeit zu gehen. Es ist nicht so sehr die Arbeit selbst, sondern es ist auch dieses Unter-Leuten-sein, sich mit Leuten austauschen können, mal gemeinsam Lachen. All das geht verloren und kann fast nur durch Präsenz wieder hergeholt werden.

FRAGE 3 Also plädieren Sie dafür, zumindest auf längere Frist, zu einer Kultur der Präsenz in Unternehmen zurückzukehren?

OT3 Auf jeden Fall! Wir haben ja jetzt wieder eine hohe Inzidenzrate bei Corona, aber als Führungskraft kann ich Wert darauf legen, dass bestimmte Termine in Präsenz stattfinden und nicht als online oder digitale Veranstaltung. Solange es eben geht, von der Inzidenz her, muss die Wahl eher sein, dass man sagt, wieder Präsenz, zumindest bei zentralen Sitzungen, wo dann auch Entscheidungen getroffen werden müssen.

FRAGE 4 Sie sprachen gerade von Führungskräften. Welche Rolle kommt der Führung von Unternehmen konkret zu?

OT4 Der Punkt ist, Führungskräfte können gegensteuern und nur sie können eigentlich gegensteuern und ermutigen, dass die Leute sich wieder treffen, auch persönlich treffen, um eben auch diese Zwischen-Tür-und-Angel-Gespräche führen zu können. Also wir entdecken auch den Wert der Gespräche neben der eigentlichen Sache, also das Gespräch nach einer Sitzung, wo man sich noch kurz austauscht. Da werden auch die geheimen Informationen, wenn man so will, ausgetauscht, die man sonst nicht in einer offiziellen, digitalen Konferenz austauscht. Aus organisationswissenschaftlicher Sicht haben wir ja zurzeit eine Formalisierung der ganzen Arbeit. Und das Informelle, was die Arbeit auch ausmacht, das wird jetzt geringer, weil es gar nicht gelebt werden kann.

FRAGE 5 Das Arbeiten im Homeoffice ist inzwischen gang und gäbe, zumindest dort, wo es möglich ist. Laut diesjährigem Gesundheitsreport der Betriebskrankenkassen erlebt das etwa ein Viertel der Beschäftigten als Chance, ein anderes Viertel als Belastung …

OT5 … was man jetzt machen muss, ist so eine Regel finden wie – und das wollen viele – ich sag mal vielleicht von fünf Tagen zwei Tage im Homeoffice, drei Tage in Präsenz. Und die Tage in Präsenz, die müssen aber so sein, dass alle dann auch wirklich da sind. Das heißt, man braucht feste Tage, wo alle wieder sich treffen, wo dann auch die konkreten Entscheidungen und Einschätzungsgespräche stattfinden können.

FRAGE 6 Verstehe ich Sie recht, ist also nicht die Frage, ob wir im Falle des Endes der Coronavirus-Pandemie wieder arbeiten werden wie zuvor, in Präsenz, oder zunehmend im digitalen Raum, richtig?

OT6 Ja, in Zukunft werden wir eine Mischung haben von beidem. Und man wird genauer unterscheiden bei welchen Problemlagen im Team man die Präsenz braucht und bei welchen Problemlagen auch digitale Lösungen der Kommunikation möglich sind. Man wird also stärker differenzieren und gucken, wo brauche ich Präsenz und in die Augen schauen und wo nicht. Und wir werden es auch erleben, dass Sitzungen hybrid stattfinden. Das heißt, es wird Leute geben, die vor Ort sind, und andere Leute, die zugeschaltet sind. Und darauf muss man eingerichtet sein, auch technologisch.

Interview mit Dirk Rennert zum BKK Gesundheitsreport 2021

Dirk Rennert ist Referent in der Abteilung Datenmanagement, Empirie, IT und Projektleiter Gesundheitsberichterstattung im BKK Dachverband e.V.

FRAGE 1 Weit mehr als ein Jahrzehnt schon beobachtet die BKK die alljährliche Entwicklung von krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit, kurz AU, ihrer Versicherten. Welche Krankheitsarten schlagen derzeit am häufigsten zu Buche?

OT1 Mehr als die Hälfte der Fehltage verursachen nach wie vor Muskel-Skelett-Erkrankungen, psychische Störungen und Atemwegserkrankungen. Aufgrund der Coronavirus-Pandemie gehen die Fehlzeiten im Jahr 2020 aber vor allem bei den Infektionskrankheiten zurück. Ein besonders starker Rückgang tritt bei den meist leichten und kurz andauernden Atemwegsinfekten auf. Gründe für diesen Rückgang sind unter anderem Hygiene- und Abstandsregeln, die vermehrte Nutzung von Homeoffice und die Möglichkeit zur Fernbehandlung per Video oder Telefon.

FRAGE 2 Die Corona-Pandemie, deren Auswirkung in den Betrieben, bildet auch einen Schwerpunkt des diesjährigen BKK-Gesundheitsreports. Welche Personengruppen sind von dem Virus am häufigsten betroffen?

OT2 Vor allem die jüngeren Beschäftigten sind häufiger von einer Arbeitsunfähigkeit aufgrund von COVID-19 betroffen. Aber je älter die Beschäftigten sind, desto länger sind sie im Durchschnitt wegen Covid-19 krankgeschrieben. Zudem zeigt sich, dass beschäftigte Frauen häufiger von Fehlzeiten wegen Covid-19 als ihre männlichen Kollegen betroffen sind. Das liegt vor allem daran, dass Frauen besonders häufig in Berufen und Branchen mit erhöhtem Infektionsrisiko arbeiten.

FRAGE 3 Sie sprechen von Berufen mit erhöhtem Infektionsrisiko, welche sind das?

OT 3 Beschäftigte in Gesundheits- und Pflegeberufen sowie in sozialen und Erziehungsberufen – das sind überwiegend Frauen – haben die meisten Fehlzeiten aufgrund einer COVID-19-Diagnose, weil hier das Infektionsrisiko am größten ist. Aber auch in anderen Berufen, die meist nur vor Ort oder in geschlossenen Räumen ausgeübt werden können, wie zum Beispiel im produzierenden und verarbeitenden Gewerbe, treten überdurchschnittlich hohe Fehlzeiten im Zusammenhang mit Covid-19 auf.

FRAGE 4 Umgekehrt gefragt, welche Berufe oder Branchen verzeichnen eher niedrige Fehlzeiten?

OT4 Berufe, bei denen Homeoffice möglich ist, zum Beispiel Büro- oder IT-Berufe, haben eher geringe Fehlzeiten aufgrund von COVID-19. Berufe, die durch die Pandemiemaßnahmen besonders stark eingeschränkt waren, wie zum Beispiel im Tourismus- oder Hotelbereich, weisen ebenfalls niedrige Fallzahlen auf. Etwas überraschend treten auch bei Beschäftigten mit Lehrtätigkeit sowie Verkäuferinnen und Verkäufern niedrige Fehlzeiten im Zusammenhang mit COVID-19 auf. Grund hierfür sind vor allem die besonderen Hygieneregeln in diesen Bereichen.

FRAGE 5 Beschäftigte sind nicht gleich Beschäftigte. Wenn wir in die Betriebe selber schauen, deren Hierarchien oder die Ausbildung von Mitarbeitern – lassen sich da Unterschiede hinsichtlich der Fehlzeiten ausmachen?

OT5 Ganz allgemein lässt sich sagen: Je höher die berufliche Position ist, also beispielsweise ein höheres Einkommen, eine bessere berufliche Position oder auch die Möglichkeit zum Homeoffice, desto niedriger sind die Fehlzeiten sowohl allgemein als auch im Zusammenhang mit COVID-19. Dagegen haben Berufstätige mit niedrigem Schul- und Berufsabschluss, die meist einfache Tätigkeiten ausüben, mehr Fehlzeit

Interview mit Dr. Matthias Richter zum BKK Gesundheitsreport 2021

Dr. Matthias Richter ist Referent in der Abteilung Datenmanagement, Empirie, IT im BKK Dachverband e.V. 

FRAGE 1 Abstand ist einer der wohl am häufigsten gebrauchten Begriffe, die uns das Coronavirus aufzwingt mit Konsequenzen auch für unsere Arbeitswelt. Stichwort Homeoffice …

OT1 … Homeoffice wird mittlerweile deutlich mehr genutzt. Laut einer Studie zur Mobilität in Deutschland arbeiteten im Jahr 2017 nur rund 13 Prozent der Beschäftigten zumindest manchmal im Homeoffice. Im ersten Pandemiejahr 2020 waren es in unserer Beschäftigtenbefragung hingegen schon mehr als ein Drittel. In diesem Jahr 2021 waren es sogar 42 Prozent als Höchstwert. Es hängt natürlich auch von der Tätigkeit selbst ab wie häufig Homeoffice genutzt wird. Wer Homeoffice aber nutzen kann, der nutzt das dann in der Regel auch. Wenn die Arbeit ortsunabhängig ausgeübt werden kann, wird dies auch besonders häufig genutzt, wie zum Beispiel in IT-Berufen oder Bürojobs. Nicht so häufig genutzt wird hingegen Homeoffice in Gesundheitsberufen oder im Bereich Verkehr und Logistik …

FRAGE 2 … also Dienste direkt, unmittelbar am Menschen. Doch wie beurteilen Beschäftigte, die Homeoffice nutzen, vielleicht nutzen könnten, diese besondere Form der Arbeit?

OT2 Ein großer Teil spricht sich für Homeoffice-Arbeit aus. Allerdings gibt es bei einigen Arbeitgebern und einigen Betrieben durchaus noch Widerstände dagegen. Fragt man diejenigen, die im Homeoffice arbeiten könnten, dies aber nicht tun, was der Grund dafür ist, dann gibt mehr als ein Drittel an, dass der direkte Vorgesetzte oder der Arbeitgeber Homeoffice-Arbeit nicht unterstützt. Hingegen wünschen sich im Kontrast fast 30 Prozent der Befragten als Unterstützung durch den Arbeitgeber die Möglichkeit im Homeoffice zu arbeiten. Etwa genauso viele äußerten auch den Wunsch nach flexibleren Arbeitszeiten.

FRAGE 3 Flexiblere Arbeitszeiten – birgt sich darin nicht auch eine Gefahr?

OT3 Mehr als jeder vierte Beschäftigte gibt an, dass sich das eigene Unternehmen gut oder sogar sehr gut auf die Herausforderungen der Coronavirus-Pandemie eingestellt hat. Gleichzeitig sagt aber auch etwa ein Viertel der Befragten, dass die Arbeitsmotivation, genauso wie der Zusammenhalt in der Belegschaft schlechter geworden ist. Beim Gesundheitszustand zeigt sich eine Verschlechterung mit zunehmender Dauer der Pandemie. In der Befragung im Jahr 2020, einige Monate nach Beginn der Pandemie, waren die gemachten Angaben kaum anders als vor der Pandemie. Hingegen ein Jahr später, im Jahr 2021, gaben deutlich mehr Personen an, dass ihr körperlicher oder psychischer Zustand sich verschlechtert hätte.

FRAGE 4 Alles in allem ein recht komplexes Bild. Frage zum Schluss: Wie schauen die Beschäftigten auf ihre Arbeitswelt von morgen?

OT4 Arbeit wird zukünftig deutlich digitaler und sie wird häufiger mobil oder im Homeoffice erbracht werden, das sahen jedenfalls die Befragten in unserer Studie so. Entsprechend wird das bisher meist tägliche Pendeln dann auch deutlich zurückgefahren werden. Zukünftig auf neue Krisen vorbereitet sehen sich die Beschäftigten eigentlich sehr gut. Auch das eigene Unternehmen ist gut vorbereitet auf zukünftige Krisen. Die Arbeitswelt in Deutschland an sich wird allerdings schlecht bewertet. Etwa 44 Prozent antworteten auf die Frage danach, ob die Arbeitswelt auf Krisen gerüstet ist mit schlecht oder sehr schlecht.

Kontakt

Andrea Röder
Referentin Strategische Unternehmenspolitik Verbandsarbeit, Gremien, Netzwerkbüro

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