Gesundheit und Politik

Alle haben den Ernst der Lage erkannt

Einen Ausnahmezustand, wie wir ihn derzeit erleben, kennt das deutsche Gesundheitssystem nicht. Franz Knieps, Vorstand des BKK Dachverbandes, blickt im Interview darauf, wie gut Kliniken, Praxen und Krankenkassen auf die Corona-Epidemie vorbereitet sind und was wir für die Zukunft lernen können.

Herr Knieps, Sie kennen das Gesundheitssystem seit vielen Jahren. Wie gut sind wir auf die jetzige Situation vorbereitet?

Auf einer Skala von eins bis zehn zwischen sieben und acht. Wir haben ein großzügig ausgestattetes Gesundheitssystem mit vielen Behandlungsangeboten. Im Normalfall haben wir an vielen Stellen sogar ein Überangebot. Aber eine zehn kann ich nicht vergeben, da wir auf die Pandemie so nicht eingestellt sind, trotz der Pandemiepläne, die es gibt. Das sind eben doch sehr futuristische, theoretische Pläne, die schwer durchdringen bis in jeden Pflegedienst und jede Hausarztpraxis. Es gibt keine einheitliche Vorstellung davon, wie man mit einer Pandemie umgeht. Die derzeitige Entwicklung hat einfach unvorstellbare Ausmaße, da sie beinahe das gesamte soziale Leben und weite Teile der Wirtschaft lahmlegt.

Was sind derzeit die dringlichsten Schritte?

Am wichtigsten ist jetzt, die medizinischen Versorgungsstrukturen aufrechtzuerhalten. Hierfür müssen wir die Effektivität erhöhen und Prioritäten setzen. Das heißt, nicht dringende Behandlungen auszusetzen, Überflüssiges wegzulassen, damit Kapazitäten auch für diese Belastung freiwerden. Es braucht eine gemeinsame Vorstellung darüber, was jetzt notwendig ist – und zwar vom Pflegedienst über die Hausarztpraxis bis zum Maximalversorger. Wir sehen ja gerade, dass Entscheidungen getroffen werden müssen und dass das auch passiert. Einige wenige Ignoranten gibt es immer. Aber generell haben wir eine sehr gute Zusammenarbeit des Bundesministeriums für Gesundheit mit den Gesundheitsministerien der Länder bis hinunter in die Gesundheitsämter vor Ort.

Am 27. März wurde das Krankenhaus-Rettungsschirm-Gesetz verabschiedet. Was soll damit erreicht werden?

Ziel des Gesetzes ist es, den Kliniken und Praxen, die das Rückgrat unserer Akutversorgung sind, unter die Arme zu greifen. Es soll dafür sorgen, dass sie sich um die Patientinnen und Patienten kümmern können, gerade die mit schwerem oder schwerstem Verlauf, ohne unter ökonomischen Druck zu geraten. Sie sollen sich zum Beispiel nicht darum sorgen müssen, womöglich keine Gehälter mehr bezahlen zu können. Im Großen und Ganzen ist das ein gelungenes Gesetz, auch wenn man über bestimmte Einzelheiten – wie immer im Gesundheitssystem – streiten kann.

Apropos Finanzierung: Reichen die Reserven der Kassen, um eine Situation wie diese zu schultern?

Aus meiner Sicht ja! Die Finanzierung ist sicher, hier ist der Gesundheitsfonds ein unglaublicher Segen. Da die Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung im Fonds gesammelt und dann an alle Krankenkassen ausgeschüttet werden, verteilt sich das Risiko. Denn wenn z. B. Selbstständige nicht mehr zahlungsfähig oder Menschen in Kurzarbeit von der Beitragspflicht befreit sind, gäbe es echte Einnahmeprobleme. Diese müssten die Kassen dann über die Beitragshöhe auszugleichen versuchen. Diese Probleme haben wir zum Glück nicht. Das fängt der Gesundheitsfonds auf, weil er den Kassen Monat für Monat die gleichen Summen zuweist. Das Einnahmerisiko trägt zu einem großen Teil also der Fonds bzw. der Staat. Das Risiko von Einnahmeausfällen beim kassenindividuellen Zusatzbeitragssatz liegt allein bei der Kasse. Deshalb ist es nicht auszuschließen, dass es schon bald zu Beitragssatzerhöhungen kommt. Auch ist klar: Es gibt jetzt deutliche Mehrausgaben. Wenn die Zahl der Intensivbetten aufgestockt wird, also Betten für Patientinnen und Patienten mit Covid-19 umgewandelt oder freigehalten werden, dann kostet das viel Geld. Hier hat der Bund richtig erkannt, dass das aus Staatsmitteln finanziert werden muss, damit es leistbar ist. Das Grundrisiko ist besser abgedeckt, als ich mir das hätte vorstellen können.

Zahlen die Kassen eigentlich Corona-Tests für jedermann?

Nein und das ist auch richtig so. Wir haben begrenzte Testkapazitäten. Und je mehr Fälle wir haben, desto weniger flächendeckend kann man testen. Auch möchten wir falsche Testergebnisse vermeiden. Dafür ist es nötig, die Tests auf Risikofälle und Menschen mit Beschwerden zu fokussieren. Zu Beginn wurde versucht, für jeden Einzelfall die potentielle Infektionskette zurück zu verfolgen. Je mehr Infizierte wir haben, umso unmöglicher wird das. Nicht jede oder jeder, der derzeit verständlicherweise Sorgen, aber keine entsprechenden Symptome hat, kann deshalb zur Teststelle laufen, denn er oder sie müsste dann am nächsten Tag gleich wieder kommen usw. Das würde das System überlasten und keine verwendbaren Informationen liefern.

Im Vergleich zu anderen EU-Ländern oder den USA: Was sind die Vorteile unseres Krankenversicherungssystems?

Wir sind gut abgesichert und haben ein System, um das wir in der Welt beneidet werden. Das Besondere an unserem System ist zum einen, dass das öffentliche Gesundheitswesen mit Elementen der Privatwirtschaft verknüpft ist. Bei uns ist jede und jeder versichert und alle haben Zugang zur Gesundheitsversorgung. In einer Krisensituation wie der jetzigen wird zwar strenger gesteuert, damit die Menschen an die richtigen Stellen gehen. In der aktuellen Lage kann nicht jede oder jeder unvermittelt in der Notaufnahme auftauchen und sagen, ich habe Husten. Aber wir haben eine gute Verantwortungsteilung zwischen ambulanter und stationärer Versorgung, zwischen Bund, Ländern und Kommunen. Natürlich haben wir auch Schwachstellen. Die Länder haben beispielsweise den öffentlichen Gesundheitsdienst kaputtgespart. Dennoch, wir haben ein Solidarsystem, das seine Leistungsfähigkeiten in schwierigen Situationen immer schon unter Beweis gestellt hat. Es hat bisher alle Krisen überwunden, seien es die Weltkriege oder die Herausforderungen der deutschen Einheit. Das ist schon bemerkenswert.

Das Gesundheitssystem ist oft Gegenstand vieler Debatten und unterschiedlicher Interessen. Ein Blick auf die Lage derzeit: Ziehen alle an einem Strang?

Alle wissen, dass die Stunde geschlagen hat. Alle haben die Ernsthaftigkeit der Lage erkannt. Die Versorgungssituation bestimmt dabei die Prioritäten, das steht außer Frage. Wenn ich mal außer Acht lasse, dass hier eine Kassenart versucht hat, mit den Krankenhäusern einen Vorschlag zu machen, der nicht mit den anderen Kassenarten abgestimmt war, dann ist die Kommunikation sehr gut und kooperativ. Keiner versucht die Krise für eigene Interessen zu nutzen. Alle sind sich bewusst, dass nicht alles perfekt läuft und man immer wieder nachsteuern muss. Es geht etwa darum, dass auch Arztpraxen genügend Schutzausrüstungen haben, dass Krankenhäuser gezielter genutzt werden und z. B. nur besonders schwere Fälle in die Charité kommen. Ich erlebe ein Handeln im gegenseitigen Respekt und dem gemeinsamen Ziel, diese Krise zu überwinden.

Worüber wird hinter den Kulissen diskutiert?

Das gemeinsame Ziel ist unstrittig. Aber natürlich werden in Hintergrundrunden Fragen diskutiert wie: Was wissen wir? Wie aussagekräftig sind die Statistiken, die im 24-Stunden-Rhythmus auf uns niederprasseln? Sind wir auf dem Weg in eine „Virokratie“? Bewährt sich der Rechtsstaat? Darf alles dem Infektionsschutz untergeordnet werden? Ich glaube, Letzteres ist eine Illusion. Auch über die Kommunikationswege im System wird diskutiert. Wir fragen uns etwa: Warum ist die John-Hopkins-Universität mit ihren Zahlen schneller und präziser als das Robert-Koch-Institut? Wieso haben wir kaum Zahlen über die geheilten Menschen? Ist unsere Epidemiologie schlagkräftig genug? Hier müssen wir nach dem Ende der Krise Bilanz ziehen, ob unsere Informations- und Entscheidungswege ausreichend funktionieren und wo man nachbessern muss. Das sind wichtige Fragen, die wir klären müssen.

Wenn Sie einen Ausblick wagen: Wird die Krise verändern, wie wir in Zukunft über solidarische Krankenversicherungssysteme denken?

Das glaube ich ganz fest. Die Diskussionen über weniger Staat und mehr privat in der Gesundheitsversorgung haben sich überlebt. Zuvor hatten wir Stimmen, die mit einem System geliebäugelt haben, dass zugespitzt nach dem Motto funktionieren sollte: „Wenn jeder an sich selbst denkt, ist an alle gedacht.“ Ich glaube, diese Debatte ist mit der Krise beendet. Mir ist wichtig, dass wir künftig noch stärker vorsorgen für neue Krisen. Das heißt, wir müssen uns Gedanken darüber machen, welche Strukturen wir für vergleichbare Situationen brauchen. Muss es sein, dass kleine Krankenhäuser mit viel Aufwand aus einem Intensivbett zwei machen? Wir müssen darüber nachdenken, welche Strukturen in der Lage sind, Krisen auszuhalten, aber auch, welche Menschen wir dafür benötigen und wie wir sie mobilisieren können. Meines Erachtens braucht das mehr zentrale Planung und staatliches Eingreifen. Die gesetzliche Krankenversicherung kann solche infrastrukturellen Investitionen nicht stemmen, es ist auch nicht ihre Aufgabe. Hier wird man grundlegende Diskussionen mit der Politik führen müssen, welche Änderungen nötig sind.

Wir müssen darüber nachdenken, welche Strukturen in der Lage sind, Krisen auszuhalten, aber auch, welche Menschen wir dafür benötigen und wie wir sie mobilisieren können.

Wir werden auch die psychosozialen Folgen der Krise spüren. Was müssen die Kassen hier leisten?

Ich mache mir tatsächlich Sorgen um die Zunahme der häuslichen Gewalt und der Scheidungsraten, wie wir es ja schon aus China hören. Die sozialen Dimensionen der Krise werden uns deshalb noch viel beschäftigen. Neben der derzeitigen Akutversorgung müssen wir uns künftig überlegen, wie wir in die Langzeitversorgung von psychosozialen Problemen investieren können. Wir müssen darüber nachdenken, approbierte, aber derzeit nicht zugelassene Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten kurzfristig zu vergüten, wenn sie Behandlungsformen anbieten, die sich mit den psychosozialen Folgen der Krise befassen. Aber das kann nicht allein Aufgabe der gesetzlichen Krankenversicherung sein. Wir müssen uns als Gesellschaft Gedanken darüber machen, wie wir Menschen beraten, die durch die Krise z. B. in Existenznöte gekommen sind. Dass die Bundesregierung jetzt riesige finanzielle Hilfen auf den Weg bringt, zeigt glücklicherweise, dass wir solidarisch sein können. Das hat auch mich in dieser Geschwindigkeit positiv überrascht.

Wie gehen Sie selbst mit der Krise um? Was hilft Ihnen, nicht den Überblick zu verlieren?

Mir ist sehr bewusst, dass ich privilegiert bin. Ich möchte mir gerade nicht vorstellen, wie es wäre, wenn uns diese Pandemie vor 20 Jahren erwischt hätte – ohne moderne Kommunikationsmittel. Die nutze ich im Moment intensiv. Auch habe ich jede Menge Bücher zu Hause. Da wir nun im Homeoffice sind, ist der Austausch mit Kolleginnen und Kollegen aber nicht einfacher geworden. Ich musste mich zunächst in der Fülle von Informationsquellen orientieren. Netzwerke, die ich über Jahre aufgebaut habe, sind in einer solchen Situation extrem hilfreich. Auch, um mal kritisches Feedback zu bekommen und andere Sichtweisen zu erfahren. Ansonsten ist es für uns alle sicher nicht einfach, jetzt zu Hause zu sitzen und soziale Distanz zu wahren, da wir als Menschen eigentlich Nähe und Austausch suchen. Das fehlt auch mir. Aber die Einsicht in die Notwendigkeit der Maßnahmen hilft, das auszuhalten. Einen Lagerkoller habe ich noch nicht, da hilft auch die Arbeit.

Welche anderen Fragen treiben Sie derzeit um?

Mich beschäftigen sehr die grundlegenden Fragen, was die Situation mit unserer Gesellschaft und unserem Rechtsstaat macht. Ich versuche, das aufmerksam zu verfolgen und es beschleicht mich ein ungutes Gefühl, wenn ich die Rufe nach dem „starken Mann“ höre, der künftig alles allein regeln soll. Dabei geht es mir gar nicht um die Person, sondern um die Folgen für unsere demokratischen Systeme. Bei allem Bewusstsein für den Ausnahmezustand, bei aller Notwendigkeit zur Geschwindigkeit – Pluralität ist auch in Krisenzeiten existenziell. Manche Abstimmungen brauchen aus gutem Grund etwas länger, weil sie sicherstellen, dass die Maßnahmen aus allen Perspektiven beleuchtet wurden. Hier wünsche ich mir eine nüchternere, kritischere Debatte in der Berichterstattung.

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