Unternehmen

Am Puls der Chefs

von Sarah Kramer, Politik und Kommunikation

Die Wieland BKK wertet im Pilotprojekt „Gesund führen – Resilienz“ zusammen mit dem Ulmer Kompetenzzentrum für seelische Gesundheit am Arbeitsplatz die Herzratenvariabilität von Führungskräften des Trägerunternehmens Wieland aus. Ziel ist es, die individuelle Belastbarkeit und Regenerationsfähigkeit zu messen – und die eigenen Ressourcen zu stärken.

Frau hält Präsentation mit Flipchart

Mit dem menschlichen Herzen ist es so eine Sache: Im Regelfall pocht es tagein, tagaus völlig unbeachtet  vor sich hin. Dabei schlägt eine gesunde „Pumpe“ nicht gleichförmig, der Abstand zwischen den einzelnen Schlägen des Herzens variiert. Beim Einatmen etwa steigt der Puls, beim Ausatmen wird er langsamer. Wissenschaftler können anhand dieser sogenannten Herzratenvariabilität (HRV) analysieren, wie belastbar und regenerationsfähig Individuen sind. Eine hohe Variabilität des Herzens steht für ein gut funktionierendes System, das mit Körper und Seele flexibel und adäquat auf innere und äußere Anforderungen reagieren kann. Niedrige HRV-Werte treten der Forschung zufolge dagegen in Zusammenhang mit erhöhtem Stress, vielen Erkrankungen und schlechtem Schlaf auf.

Diese Erkenntnisse machen sich vor allem Sport- und Arbeitsmediziner zunutze. Elisabeth Balint etwa untersucht im Rahmen der Betrieblichen Gesundheitsförderung beim schwäbischen Kupferverarbeiter Wieland, wie die Herzen von Führungskräften schlagen. Die Arbeitsmedizinerin hat zusammen mit der Betriebskrankenkasse Wieland BKK ein auf zwei Jahre angelegtes Pilotprojekt entwickelt, das die psychische Widerstandskraft von leitenden Beschäftigten vom Schichtführer bis zum CEO beim Trägerunternehmen Wieland sichtbar machen und fördern soll. Wieland ist mit weltweit rund 9.000 Mitarbeitern und 7.000 Beschäftigten allein in Ulm und Umgebung der größte Arbeitgeber in der schwäbischen Region. Das Unternehmen liefert Kupferteile, die unter anderem in der Automobilherstellung, beim Hausbau und in der Telekommunikationsbranche benötigt werden. Die Mehrzahl der Beschäftigten in den beiden Wieland-Werken in Ulm (Baden-Württemberg) und Vöhringen (Bayern) hat einen technisch-handwerklichen  Hintergrund, sei es als Ingenieur, Gießerei-Facharbeiter, Materialwissenschaftler oder Zerspanungsmechaniker.

„Es war uns wichtig, dass sich die Affinität der Mitarbeiter zur Technik in unserem Präventions-Projekt widerspiegelt“, sagt Jürgen Schneider, Vorstand der Wieland BKK. Die Betriebskrankenkasse, die Schneider seit 2002 leitet, nimmt insbesondere  psychische  Erkrankungen und den Umgang mit Stress im Rahmen des betriebli- chen Gesundheitsmanagements seit Jahren in den Blick. Durch diese Fokussierung ergab sich eine enge Zusammenarbeit mit dem Leadership Personality Center Ulm (LPCU). Das Kompentenzzentrum für seelische Gesundheit am Arbeitsplatz bietet seit 2017 innovative Aus- und Weiterbildungen für Arbeitnehmer in Leitungspositionen an. Praxisnahe Seminare und Beratung sollen die leitenden Beschäftigten dabei unterstützen, ihre Mitarbeiter durch Führungsverhalten zu motivieren, ein angenehmes Arbeitsklima zu schaffen und dadurch die Produktivität ihres Unternehmens zu steigern.

 

Der vorhandene Druck auf Unternehmen und Mitarbeiter wurde erhöht.

Auch wenn der Firmenumsatz bei Wieland in den vergan- genen Jahren stets gewachsen ist:  Mit  dem  Erfolg  steigt bei dem Traditionsunternehmen der Druck, sich auch in Zukunft gegen die Konkurrenz auf globalen Märkten zu behaupten. Erst vor kurzem hat der Ulmer  Kupferspezialist im Zuge  seines  weltweiten  Expansionskurses  Firmen aufgekauft und 20 Millionen US-Dollar in eine neue Produktionsstätte in den USA gesteckt  –  Investitionen, die erwirtschaftet werden  müssen. Die  Corona-Pandemie mit Shutdowns rund um den Globus und teilweise unterbrochenen Lieferketten haben den ohnehin schon vorhandenen Druck auf Unternehmen und Mitarbeiter zusätzlich erhöht.

Wie groß die Belastung für den einzelnen ist, können insgesamt 100 Führungskräfte der schwäbischen Wieland-Werke vom Meister über den Schichtleiter bis hin zur obersten Managementebene seit Herbst vergangenen Jahres mithilfe von zwei aufeinander folgenden HRV-Testungen analysieren lassen. Nach jeder Testung werden die individuellen Ergebnisse im LPCU mit jedem Mitarbeiter einzeln besprochen. Der Fokus richtet  sich  hierbei auf die eigenen Ressourcen und die Frage: Gehe ich gut mit mir selber um? Ein weiterer Baustein des Präventionsprogramms sind Gruppengespräche zum Umgang mit psychisch belasteten Mitarbeitern. In diesem Setting stellen die Führungskräfte etwa schwierige Konstellationen und Konflikte in Rollenspielen nach, die sie im Arbeitsalltag mit psychisch belasteten Kollegen schon einmal selbst erlebt haben.

Bislang haben 50 Wieland-Mitarbeiter das von der Wieland BKK organisierte und finanzierte Programm zur Betrieblichen Gesundheitsförderung durchlaufen, 50 weitere sollen im Juni folgen. Aufgrund der Corona-Pandemie werden die HRV-Testungen in dieser Runde in Videokonferenzen besprochen, Gruppengespräche bis auf weiteres verschoben. Ein Präsenztermin soll zu einem späteren Zeitpunkt und gegebenenfalls mit Mundschutz und reichlich Abstand nachgeholt werden.

Wieland-Vorstand Erwin Mayr war einer der ersten, der seine Belastbarkeit und Stressresistenz im Rahmen des Programms testen ließ. Um entsprechende Daten zu er- heben und auszuwerten, werden die Teilnehmer zu Beginn eines Arbeitstages bei der Betriebskrankenkasse von Wieland auf dem Ulmer Werksgelände des Unternehmens mit Elektroden verkabelt. Sie zeichnen über 24 Stunden den Herzschlag des Beschäftigten auf. Dieser protokolliert, welchen Tätigkeiten er während dieser 24 Stunden nachgegangen ist und beantwortet zudem einen Fragebogen zu seinem allgemeinen Gesundheitszustand. Anschließend werden Elektrokardiogramm, Tätigkeitsprotokoll und Fragebogen am LPCU ausgewertet und einzeln mit den Teilnehmern besprochen. Im Beratungsgespräch liegt der Fokus auf der Bedeutung von Erholungsphasen nach Stress unter Berücksichtigung der eigenen Ressourcen.

Der blau-gelb-rot gezackte Graph, den Elisabeth Balint im Besprechungsraum des LPCU mit dem Beamer an die Wand wirft, wirkt auf den ersten Blick wie die Aneinanderreihung von hunderten brennenden Streichhölzern. „Fire of Life“ – „Feuer des Lebens“ nennen Wissenschaftler diese grafische Darstellung eines schlagenden Menschenherzens, gemessen über mehrere Stunden. Vergleichbar mit einer Batterieladeanzeige  lassen  sich  im Farbspektrogramm der Herzratenvariabilität die individuelle Belastung, aber auch das individuelle Erholungsverhalten sehr gut  sichtbar  machen. So verdeutlicht eine derartige Grafik sehr gut, dass  ein  gering  geladener „Akku“ bei der nächsten Belastung  rasch leer ist und dann überproportional länger braucht, um wieder aufzuladen.

„Wir haben gesehen, dass viele  Führungskräfte einen fast pausenlosen  Arbeitstag haben  und  von Meeting zu Meeting hecheln“, sagt Elisabeth Balint mit Blick auf erste Ergebnisse des Pilotprojektes. Die Mehrheit der Teilnehmer sei durch guten Schlaf und ausreichende Erholungsphasen aber dazu in der Lage, „verblüffend viele Stunden Leistung zu bringen“. Es gebe aber auch Manager, die sich in ihrem Job völlig verausgabten und auch nach Feierabend keine Ruhe fänden, sagt Balint. „Wenn sie den natürlichen Rhythmus des Körpers ignorieren, kann das zum Problem werden.“

Eine HRV-Analyse macht sichtbar, zu welchem Zeitpunkt die individuelle Erschöpfung anfängt und wann die Er- holung aufhört. Betrachtet man die  jeweilige  HRV-Kurve zusammen mit dem Beschäftigungsprotokoll, ergibt sich daraus ein umfassendes Bild von Stress- und Erholungsphasen. „Wir geben keine Ratschläge, welche Konsequenzen sich daraus für die Arbeit des Einzelnen ergeben“, erläutert Balint. „Wir zeigen lediglich Zusammenhänge auf.“ Führungskräfte seien meist selbst in der Lage, Wege aus besonders stressigen Situationen zu finden. So berichteten Wieland-Führungskräfte, die eine HRV-Messung und  Beratung erhalten hatten, seltener von überforderndem, unkontrollierbarem Stress sowie Nervosität, Ängstlichkeit und Sorgen. Auch in den Einstellungen zeigten sich Veränderungen:  Die Wahrnehmung der Auswirkung von Körperzuständen auf  das Befinden stieg an. Ebenso gaben die Teilnehmer drei Monate nach der ersten Beratung an, ihrem Körper eher zu geben, was er braucht. Dieser Effekt blieb auch neun Monate nach der ersten Beratung noch bestehen.

Für Jürgen Schneider ist dies ein weiterer Beleg dafür, dass sich zielgruppenspezifische Gesundheitsförderung am Ende auszahlt. Wenn es nach dem Vorstand der Wieland BKK geht, könnte das Pilotprojekt in Zukunft  weiter ausgerollt werden – für die gesamte Wieland-Belegschaft in Schwaben.

 

Das Leadership Personality Center Ulm (LPCU) wurde 2017 als Kompetenzzentrum für seelische Gesundheit am Arbeitsplatz gegründet. Sein interdisziplinäres Team entwickelt wirksame und wissenschaftsbasierte Strategien und Programme für körperliche und seelische Gesundheit am Arbeitsplatz. Mit praxisnahen Schulungen und Fortbildungen und der Entwicklung, Erprobung und systematischen Evaluation betriebsnaher, innovativer Interventionen zur Frühbehandlung psychisch und psychosomatisch Erkrankter sowie Forschungsprojekten, Fachtagungen und Publikationen will das Zentrum dazu beitragen, psychische Krankheiten am Arbeitsplatz zu vermeiden und das Thema zu destigmatisieren. Dabei orientiert sich das LPCU an den Erkenntnissen der Humanmedizin, der psychosomatischen Medizin und Psychotherapie sowie der Arbeitspsychologie und Arbeitssoziologie.

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