Gesundheit und Politik

Die App auf Rezept ist da

Von Selvi Ceyhan, Versorgungsmanagement und Jakob Aleyt, DEIT

Nach Monaten der intensiven Vorbereitung und Verhandlung zwischen Herstellern von digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA), Bundesministerium für Gesundheit (BMG) und der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) startet mit den DiGA die erste rein digitale Leistungsart in der GKV. Mit dem Inkrafttreten des Digitalen-Versorgung-Gesetzes (DVG) am 19. Dezember 2019 wurde die Rechtsgrundlage für die Versorgung mit digitalen Gesundheitsanwendungen geschaffen. Versicherte haben nun seit dem 6. Oktober 2020 einen Anspruch auf DiGA, die von Ärzten und Psychotherapeuten verordnet und durch die Krankenkasse erstattet werden, die sogenannte „App auf Rezept”. Versicherte, die ihrer Krankenkasse einen Nachweis über eine entsprechend vorliegende Indikation vorlegen, erhalten eine gewünschte DiGA auch ohne ärztliche Verordnung. 

Frau Zeigt App auf ihrem Handy

DiGA sind Medizinprodukte niedriger Risikoklasse, deren Hauptfunktion wesentlich auf digitalen Technologien beruht. Sie sollen die Versicherten oder die Leistungserbringer in der Versorgung unterstützen. Ihr Einsatz hilft bei der Erkennung, Überwachung, Behandlung oder Linderung von Krankheiten, Verletzungen oder Behinderungen. Als „digitale Helfer” eröffnen sie den Patientinnen und Patienten vielfältige Möglichkeiten auf dem Weg zu einer selbstbestimmten gesundheitsförderlichen Lebensführung.

Das könnte eine DiGA in der Zukunft leisten: medizinischen Nutzen, bessere Verfahren und Strukturen. 


Medizinischer Nutzen: 

  • Verbesserung des Gesundheitszustands: DiGA, die die Diabetesremissionsrate bei Adipositas-Patienten im Vergleich zu Nichtanwendern steigert
  • Verbesserung der Lebensqualität: DiGA, die Schmerzpatienten coacht, weniger auf Schmerzen zu fokussieren
  • Verkürzung der Krankheitsdauer: Aufmerksamkeitstraining-DiGA, die die Dauer von Migräneattacken verkürzt.

Verbesserte Verfahren und Strukturen:

  • Reduktion krankheitsbedingter Belastungen:  DiGA, die logopädische Übungen für zu Hause inkludiert und die Belastung von Vor-Ort-Terminen reduziert
  • Koordination der Therapie: Lotsen-DiGA, die jugendlichen Diabetikern (Typ 1) spielerisch hilft, die Behandlung in Erwachsenenmedizin zu überführen
  • Versorgungszugang: DiGA, die die Diagnose von stigmatisierenden Krankheiten außerhalb einer Praxis ermöglicht
  • Gesundheitskompetenz: DiGA, die Diabetikern Auskunft über die Auswirkungen von Nahrungsmitteln auf den Insulinspiegel gibt
  • Adhärenz: Bewegungstagebuch-DiGA, die spielerisch Bewegungsanreize setzt
  • Patientensicherheit: Sensorik-DiGA, die Feedback bezüglich der korrekten Ausführung physiotherapeutischer Übungen gibt.

Hersteller müssen positive Versorgungseffekte nachweisen

DiGA-Hersteller sind verpflichtet, einen „positiven Versorgungseffekt” ihres Produktes nachzuweisen. „Positive Versorgungseffekte” können sich etwa ergeben aus

  • einem medizinischen Nutzen (Verbesserung des Gesundheitszustandes, Verkürzung der Krankheitsdauer, Verlängerung des Überlebens, Verbesserung der Lebensqualität) und/oder
  • einer patientenrelevanten Struktur- und Verfahrensverbesserung (Reduktion krankheitsbedingter Belastungen, Therapie-Koordination, Versorgungszugang, Patientensicherheit, Gesundheitskompetenz etc.)

DiGA sind qualitätsgeprüfte Apps

Mit der DiGA greift das Bundesgesundheitsministerium ordnungspolitisch mutig in den bisher kaum regulierten Markt für digitale Versorgungsangebote ein. Die Ziele hat das BMG in der Digitalen-Gesundheitsanwendungen-Verordnung (DiGA-V) beschrieben. Im  DiGA-Leitfaden des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) werden sie näher ausgeführt:

  • Klare Anforderungen an digitale Gesundheitsanwendungen, insbesondere hinsichtlich Sicherheit, Qualität, Datenschutz und Datensicherheit
  • Verlässliche und nachvollziehbare Vorgaben für Methoden und Verfahren zum Nachweis positiver Versorgungseffekte 
  • Einrichten eines funktionalen, nutzerfreundlichen und transparenten Verzeichnisses für digitale Gesundheitsanwendungen
  • Ein unabhängiges, strukturiertes und verlässliches Prüfverfahren, das die Einhaltung der Anforderungen an digitale Gesundheitsanwendungen zu jederzeit gewährleistet

Das übergeordnete Ziel, das das BMG mit der neuen Leistungsart verfolgt, ist somit, eine Positivliste staatlich qualitätsgeprüfter Anwendungen zu etablieren, an der sich Patienten und Leistungserbringer künftig orientieren können.

Digitaler Fortschritt findet in der Realität statt.

So kommt die App zum Versicherten

Mit dem Inkrafttreten des DVG war klar, dass binnen weniger Monate die ersten Anwendungen in das neue DiGA-Verzeichnis aufgenommen würden und diese dann verordnungs-fähig und von der GKV zu erstatten sind. Unklar war jedoch, wie der Versorgungsprozess aussehen würde: Wo löst der Patient sein App-Rezept ein – in der Apotheke, beim App-Store, beim Arzt, auf einer neuen Verordnungsplattform, die speziell für die DiGA entwi-ckelt wird? Die gesetzlichen Krankenkassen haben daher frühzeitig in Rücksprache mit dem Health Innovation Hub (HIH) und dem BMG einen Modellvorschlag zur Umsetzung des Abrechnungsprozesses erarbeitet. Dieser fand die Zustimmung des BMG und wurde von den Krankenkassen umgesetzt – in enger Abstimmung mit  DiGA-Herstellerverbänden und mit den Abrechnungs- und Softwaredienstleistern der GKV.  
Die Versicherten erhalten – entweder nach Einreichung eines Rezeptes oder nach einem Antrag auf Genehmigung einer  DiGA – einen Rezeptcode von der Krankenkasse. Damit kann die kostenlos aus dem App-Store heruntergeladene DiGA auf dem Smartphone oder Tablet freigeschalten werden. Gut geregelt ist, dass die DiGA-Nutzer mit der Abrechnung nichts zu tun haben: Der Rechnungsstellungs- und Abrechnungsprozess verläuft unbemerkt vom Versicherten im Hintergrund.

FAST-TRACK-Verfahren beim BfArM 

Seit dem Launch des BfArM Antragsportals Ende Mai 2020  können Hersteller von digitalen Medizinprodukten, die die eingangs genannten Bedingungen erfüllen, eine Prüfung durch das BfArM auf Aufnahme ihrer Anwendungen in das DiGA-Verzeichnis beantragen. Im SGB V (§ 139e Abs. 3) ist festgelegt, dass das BfArM binnen drei Monaten über Herstelleranträge zu entscheiden hat. Bei der Aufnahme einer Anwendung in das DiGA-Verzeichnis wird unterschieden in eine dauerhafte Aufnahme und eine Aufnahme zur Erprobung. Anwendungen können dauerhaft in das  DiGA-Verzeichnis aufgenommen werden, wenn sie einen  positiven Versorgungseffekt bereits hinreichend nachgewiesen haben. Für zu erprobende DiGA hat der Hersteller dem BfArM spätestens nach Ablauf des Erprobungszeitraums (max. 24 Monate) die Nachweise für positive Versorgungseffekte der erprobten digitalen Gesundheitsanwendung vorzulegen. 
Ab dem Zeitpunkt der Aufnahme in das DiGA-Verzeichnis ist eine Anwendung grundsätzlich durch Ärzte/ Zahnärzte, Psychotherapeuten oder Ärzte im Krankenhaus verordnungsfähig. Damit genießen Versicherte ab diesem Zeitpunkt auch einen gesetzlichen Anspruch auf Versorgung mit  DiGA  nach § 33a SGB V.  Für die ersten 12 Monate gilt der tatsächliche Preis der Hersteller als Grundlage für die Erstattung. Nach diesem Zeitraum wird zwischen dem GKV-Spitzenverband  und den Herstellern ein endgültiger Vergütungsbetrag verhandelt. Am 6. Oktober 2020 hat das BfArM das DiGA-Verzeichnis veröffentlicht, das zum Start zwei  DiGA enthält. Diese beiden ersten  DiGA für GKV-Versicherte erweitern nun die Optionen für die Behandlung von Angststörungen (Velibra) sowie für die Therapie von Tinnitus (Kalmeda). Beide Anwendungen zeigen, worum es bei den DiGA geht: Patienten mit belastenden Erkrankungen Erleichterung durch den Einsatz digitaler Innovationen zu verschaffen.

Rahmenvereinbarung setzt weitere Eckpunkte

Mit den maßgeblichen Verbänden der  DiGA-Hersteller  hat  der  GKV-Spitzenverband  bereits eine Schiedsstelle  gebildet. Diese besteht aus einem unparteiischen Vorsitzenden, aus jeweils zwei Vertretern der Krankenkassen und der Hersteller digitaler Gesundheitsanwendungen, sowie zwei weiteren unparteiischen Mitgliedern (§ 134 Absatz 3 SGB V). Zudem ist eine Rahmenvereinbarung zwischen beiden Parteien abzuschließen. In dieser können Höchstpreise für DiGA festgelegt werden, für die Herstellerpreise während der ersten 12 Monate gelten oder auch Bagatellgrenzen für preisgünstige Apps, unterhalb derer nach 12 Monaten keine Preisverhandlungen zu führen sind.

Forderungen der Betriebskrankenkassen

Mit Blick auf die weiteren Verhandlungen zur Rahmenvereinbarung sowie spätere Preisverhandlungen fordern die Betriebskrankenkassen, dass ersichtlich sein muss, ob eine DiGA-Verordnung in dem vorgesehenen Verordnungs- bzw. Genehmigungszeitraum (beispielsweise einem Quartal) vom Versicherten eingelöst und die DiGA auch tatsächlich genutzt wird. Es ist nicht wirtschaftlich, wenn eine Gesundheits-App zwar verordnet und von den Krankenkassen bereitgestellt und bezahlt wird, diese aber in der gesundheitlichen oder pflegerischen Versorgung der Versicherten nicht angewendet wird.

Ein nicht zu unterschätzendes Novum im deutschen Gesundheitswesen: DiGA werden ohne evidenzbasierten Nutzennachweis in den GKV-Regelleistungskatalog aufgenommen und erstattet, sofern der Hersteller beim BfArM eine Aufnahme der Anwendung in das DiGA-Verzeichnis zur Erprobung beantragt. 
Die Betriebskrankenkassen halten es für zwingend notwendig, digitale Versorgungsprodukte und -anwendungen einer kritischen Prüfung ihres Versorgungsnutzens inklusive entsprechender Evidenzanforderungen zu unterziehen. Der endgültige Vergütungsbetrag, der für die DiGA nach Ablauf der ersten 12 Monate gilt, muss zudem eng an den vom Hersteller nachgewiesenen Versorgungsnutzen gekoppelt sein. 
Aus Sicht der Betriebskrankenkassen ist es richtig, dass der Zugriff auf die Daten der Versicherten in einer DiGA für Krankenkassen nicht möglich ist. Da in der DiGA-Verordnung keine zusätzliche, staatliche Prüfmöglichkeit durch das BfArM vorgesehen ist, besteht aus Sicht der Betriebskrankenkassen der Bedarf, das Prüfverfahren mit Blick auf die Gewährleistung von Datenschutz- und Datensicherheit  für die Versicherten  nachzubessern. Das BfArM sollte zumindest die Möglichkeit erhalten, aus begründetem Anlass zusätzliche Prüfungen zu Datenschutz- und Datensicherheit veranlassen zu können. Diese Forderung hat aktuell einiges an Brisanz gewonnen, weil bereits  kurz nach dem Start des DiGA-Verzeichnisses über mehrere – zwischenzeitlich behobene – Sicherheitslücken der Anwendung Velibra in mehreren Zeitungartikeln berichtet wurde.

Offene Fragen rund im die DiGA 

Über die Preisfindung und die Details der Rahmenvereinbarung hinaus werden rund um die DiGA in der Praxis noch viele leistungsrechtliche Fragen zu beantworten sein. Ein Beispiel: Können Krankenkassen auf Wunsch des Versicherten eine DiGA-Genehmigung verlängern, wenn kein Arzt zur Beurteilung des gesundheitlichen Effekts der vorherigen Genehmigung eingebunden ist? Insbesondere wird auch spannend, wie DiGA von Leistungserbringern und Versicherten akzeptiert werden. Gerade im ersten Jahr könnte aufgrund organisatorischer Hürden das Verordnungsverhalten der Ärzte mit Blick auf DiGA von Zurückhaltung geprägt  sein. So sind die Informationen aus dem DiGA-Verzeichnis zum Start übergangsweise nur in den Arzneimitteldatenbanken verfügbar. Eine Schnittstelle des BfArM zum DiGA-Verzeichnis ist geplant, aber noch nicht vorhanden. Einzelne Kassenärztliche Vereinigungen rufen Ärzte zudem zur Zurückhaltung bei der Verordnung von DiGA auf, weil sie mangelnde medizinische Evidenz sehen und Bedenken wegen möglicher Haftungsrisiken höher bewerten als die Chancen eines solchen Einstiegs in die digitale Medizin.
Vor diesem Hintergrund muss sich zeigen, wie stark sich die Nachfrage Versicherter mit Blick auf die neue Leistungsart entwickelt. Diese Nachfrage dürfte maßgeblich auch von der medialen Berichterstattung und vom Auftreten oder Ausbleiben von Datenschutzvorfällen beeinflusst werden.
Insgesamt haben DiGA eine realistische Chance, zukünftig zu einer wertvollen Ergänzung für herkömmliche Therapien zu werden – in manchen Fällen sogar zu einem Substitut. Voraussetzung hierfür ist, dass die noch bestehenden Fragen rasch beantwortet werden und das Regelwerk anhand der Erfahrungen aus der Praxis pragmatisch weiterentwickelt wird.

Kontakt

Selvi Yildiz
Referentin Digitalisierung/ Versorgung

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Kontakt

Jacob Aleyt
Referent Digitalisierung / E-Health

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