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BKK Gesundheitsreport 2020 – Mobilität – Arbeit – Gesundheit

In den vergangenen Monaten hat vor allem ein Mobilitätsaspekt, das mobile Arbeiten, an Bedeutung gewonnen. Gemeint sind damit Beschäftigte, die zeitlich und räumlich flexibel außerhalb ihres regulären Arbeitsplatzes auch mittels neuer Informationstechnologien tätig sind. Fast jeder zweite Beschäftigte in Deutschland arbeitet mittlerweile, verstärkt durch die Corona-Pandemie, ganz oder teilweise mobil und die Tendenz ist steigend. Doch Mobilität in der Arbeit ist mehr als nur Homeoffice. Seit 2008 steigt auch das arbeitsbedingte Pendeln stark an. Pendeln kann dabei sowohl positive als auch negative Auswirkungen auf das Sozialleben und die Gesundheit von Beschäftigten haben. Diese Arbeitsbereiche durchleuchtet der diesjährige BKK Gesundheitsreport und gibt wichtige Impulse zur gesundheitsförderlichen Gestaltung von Mobilität in der Arbeitswelt.

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Andrea Röder
Referentin Strategische Unternehmenspolitik Verbandsarbeit, Gremien, Netzwerkbüro

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Der Podcast zum BKK Gesundheitsreport 2020

SPRECHERIN: Blicken wir zurück auf unsere Arbeitswelt, sagen wir von vor 50 Jahren, lässt sich bloß staunen über deren rasanten Wandel. Beispiel Mobilität. Wir pendeln zur Arbeit, oft lange Strecken, oder wir arbeiten von zuhause, im digital-virtuellen Raum. Aber was macht das mit uns? Diese Frage stellt sich der diesjährige Gesundheitsreport der Betriebskrankenkassen unter dem Motto Gesund mobil arbeiten. Dirk Rennert hat die Ergebnisse zusammengetragen. Er ist Leiter der BKK Gesundheitsberichterstattung beim BKK Dachverband:

OT1 Dirk Rennert: Durchschnittlich brauchen Berufstätige 17 Kilometer beziehungsweise 25 Minuten für ihren meist täglichen Weg zur Arbeit. Am häufigsten pendeln beispielsweise Männer, junge Beschäftigte, höher Qualifizierte und Menschen in Dienstleistungsberufen. Dabei legen sie längere Strecken mit mehr Zeitaufwand zurück.

SPRECHERIN: Längere Strecken, mehr Zeitaufwand, eben das schafft Probleme, sagt Holger Pfaff, Professor am Institut für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft der Universität zu Köln:

OT2 Prof. Pfaff: Das geht in Richtung psychosomatischer Beschwerden. Das kann ein geringes Wohlbefinden beinhalten, die Müdigkeit steigt, Kopfschmerzen steigen, Nackenschmerzen, Schlafschwierigkeiten, all das ist nachgewiesen. Insgesamt muss man jedoch die Gesamtsituation einer Person betrachten. Es kann also sein, dass diese Probleme entstehen, aber man das Ganze macht, damit ein anderes Problem nicht entsteht, zum Beispiel Trennung von der Familie.

SPRECHERIN: Pendeln, das ist die eine Seite mobiler Arbeit. Für jeden zweiten von der BKK Befragten ist das Homeoffice, die mobile, digitale Arbeit von zuhause, schon heute Normalität. Maßgeblich dafür, die Covid-19-Pandemie. Dr. Matthias Richter, Referent für die Gesundheitsberichterstattung beim BKK Dachverband:

OT3 Dr. Richter: In unserer Beschäftigtenumfrage gab etwa die Hälfte der Befragten an, dass für sie das Arbeiten im Homeoffice deutlich zugenommen hat. Auf der anderen Seite hat gleichzeitig das Pendeln zur Arbeit für etwa ein Drittel abgenommen. Eine Auswirkung auf ihre Gesundheit sehen die meisten nicht. Etwa jeder Zehnte sieht sogar positive Auswirkungen. Dagegen gibt mehr als ein Viertel der Befragten an, dass die Coronavirus-Pandemie sich negativ auf ihr gesamtes Arbeitsleben insbesondere auf ihre psychische Gesundheit ausgewirkt hat.

SPRECHERIN: Mobiles Arbeiten kann Konflikte schaffen, unterstreicht auch Simone Kauffeld. Sie ist Professorin am Institut für Arbeits-, Organisations- und Sozialpsychologie der Technischen Universität Braunschweig:

OT4 Prof. Kauffeld: Die mobile Arbeit wird vor allem mit weniger Kontrolle für die Führungskraft gleichgesetzt, spätes Feedback bei Unregelmäßigkeiten und mit einem höher länger angestauten und häufiger unentdeckten Konfliktpotential in Verbindung gebracht. Auch technische Schwierigkeiten werden häufig genannt. Für Mitarbeitende gibt es aber auch Schattenseiten. Dort wird die mangelnde Trennung von Arbeit und Privatleben, die hohen Anforderungen an die Fähigkeit zur Selbstorganisation, Termin- und Zeitdruck, zum Beispiel durch Informationsüberflutung, genannt oder auch die reduzierte, soziale Unterstützung durch KollegInnen und Vorgesetzte.

SPRECHERIN: So sehr mobiles Arbeiten belastet, es birgt auch Chancen. Und die stellen sich vor allem mit dessen Rahmenbedingungen, sagt Franz Knieps, Vorstand des Dachverbands der Betriebskrankenkassen:
OT5 Franz Knieps: Ob mehr Chance oder mehr Last hängt sehr von den Rahmenbedingungen für mobiles Arbeiten ab. Sind die Räumlichkeiten beengt zuhause? Ist jemand alleinerziehend? Sind Dinge wie Schule oder Kita geschlossen? Dann entwickelt sich mobiles Arbeiten sehr schnell zu einer großen Last. Hat der Arbeitnehmer gutes Equipment, sind die Raumverhältnisse zuhause so, dass ein separates Arbeitszimmer vorhanden ist, lebt man in großen Wohnungen und hat man eh eine Neigung mobil zu arbeiten, dann begünstigt das eher die Gesundheit. Alles hängt davon ab, wie die Führung der Mitarbeiter organisiert ist.

SPRECHERIN: Wie eine gesunde Führung mobil Beschäftigter sich darstellen könnte, beschreibt die Arbeits- und Sozialpsychologin Prof. Simone Kauffeld:

OT6 Prof. Kauffeld: Die Führung „mobil Arbeiten“ erfolgt ergebnisorientiert. Dafür ist es wichtig, Bedingungen so zu gestalten, dass mobil Beschäftigte die vereinbarten Ziele auch tatsächlich erreichen können. Darüber hinaus ist es wichtig, Führungsfunktionen im Sinne einer geteilten Führung oder sich selbst organisierender Teams an das Team zu delegieren und personale Führung durch strukturelle Führung, also zum Beispiel durch die Implementation von Feedback-Mechanismen in IT-Tools zu ergänzen.

SPRECHERIN: Geteilte Führung – auch BKK Vorstand Franz Knieps sieht Führende in Unternehmen zunehmend als Coach gefragt, der Grenzen erkennt und im Zweifel gegensteuert:

OT7 Franz Knieps: Die Führungskräfte müssen erst einmal selber lernen, dass mobiles Arbeiten neue Herausforderungen bedeutet. Sie müssen sehen, wo die Grenzen von mobilem Arbeiten liegen, beispielsweise in der Zeit, beispielsweise im Raum. Sie müssen sich stärker als bei den Präsenzarbeitsmöglichkeiten darauf einstellen, dass die einzelnen Mitarbeiter sehr unterschiedliche Potenziale für mobiles Arbeiten haben und dass an unterschiedlichen Punkten Gefahren lauern, beispielsweise einer Überforderung durch die Entgrenzung der Arbeitszeit. Also hier müssen die Führungskräfte lernen, unter anderen Verhältnissen ihre Mitarbeiter zu coachen.

SPRECHERIN: Fazit: Je beweglicher, mobiler sich unsere heutige Arbeitswelt gestaltet, desto dringender wird der Gedanke von Autonomie – sowohl bei der zeitlichen als auch der räumlichen Gestaltung von Arbeit. In diesem Sinne müssen sich beide Seiten bewegen, Beschäftige und Führende gleichermaßen. Franz Knieps:

OT8 Franz Knieps: Grundsätzlich sind Mobilität und Flexibilität von Arbeitsverhältnissen eine positive Sache, wenn die Interessen von Arbeitgebern und von Arbeitnehmern berücksichtigt werden. Kein Mensch macht gern eine Arbeit nach strikten Vorgaben, in Monotonie, nach klaren Zeit- und Ortsvorgaben, sondern jeder wünscht sich, dass man bei der Arbeit Autonomie hat, dass man sie beeinflussen kann und dass man auch gewisse persönliche Dinge in die Arbeit einbringen kann. Von daher sehe ich flexibles und mobiles Arbeiten prinzipiell mal als eine Erweiterung der Autonomie der Arbeitnehmer.

Interview mit Franz Knieps zum Gesundheitsreport 2020

Franz Knieps ist Vorstand des BKK Dachverbands und Herausgeber des BKK Gesundheitsreports.

FRAGE 1: Herr Knieps, die heutige Arbeitswelt prägen vor allem zwei Begriffe, Flexibilität und Mobilität. Letzterem widmet sich der diesjährige Gesundheitsreport der Betriebskrankenkassen. Mehrere Tausend Menschen wurden befragt. Welche Vorteile oder auch Gefahren stellen sich durch die wachsende Mobilität in unserer Arbeitswelt dar?

OT1 Franz Knieps: Grundsätzlich sind Mobilität und Flexibilität von Arbeitsverhältnissen eine positive Sache, wenn die Interessen von Arbeitgebern und von Arbeitnehmern berücksichtigt werden. Kein Mensch macht gern eine Arbeit nach strikten Vorgaben, in Monotonie, nach klaren Zeit- und Ortsvorgaben, sondern jeder wünscht sich, dass man bei der Arbeit Autonomie hat, dass man sie beeinflussen kann und dass man auch gewisse persönliche Dinge in die Arbeit einbringen kann. Von daher sehe ich flexibles und mobiles Arbeiten prinzipiell mal als eine Erweiterung der Autonomie der Arbeitnehmer. Auf der anderen Seite haben wir natürlich Interessen des Arbeitgebers an einer gewissen Konstanz, an einer Stabilität. Aber auch der Arbeitgeber kann Vorteile durch Mobilität haben.

FRAGE 2: Wo genau sehen Sie die Vorteile auf Seiten der Arbeitgeber?

OT2 Franz Knieps: Die Arbeitgeber haben vor allen Dingen dann Vorteile, wenn das mobile Arbeiten Produktivität erhöht, wenn also Beschäftigte an den Ort kommen, an dem sie gerade benötigt werden, wenn Beschäftigte flexibel in der Zeit sind, wenn Beschäftigte auch von unterwegs Arbeitsergebnisse an den Betrieb übermitteln können, dann sind das alles Vorteile für den Arbeitgeber. Außerdem ist ein Arbeitsergebnis häufig nicht nur auf einen Arbeitnehmer zurückzuführen, sondern auf ein Team. Und ein Team kann nicht nur dann produktiv sein, wenn alle Leute in einem Raum sitzen, sondern wenn Mitarbeiter zugeschaltet werden, wenn sie ihre Arbeitsschritte zu unterschiedlichen Zeiten, an unterschiedlichen Orten erbringen.

FRAGE 3: Die Corona-Pandemie hat unsere Mobilität stark beeinflusst, auf allen Ebenen. Bezogen auf die Arbeitswelt, wo sehen Sie wesentliche Veränderungen?

OT3 Franz Knieps: Durch die Pandemie hat die Mobilität einen gewaltigen Schub genommen. Dinge die früher für unvorstellbar gehalten wurden, können jetzt auf einmal im Homeoffice wahrgenommen werden durch Zuschaltung von Mitarbeitern in Webkonferenzen organisiert werden. Das, was viele für unmöglich gehalten haben, dass mobiles Arbeiten von Zuhause Produktivität erhöht, ist eingetreten. Auf der anderen Seite: Eine Stahlhütte kann nicht mit mobilem Arbeiten von Zuhause aus betrieben werden. Es hängt also sehr stark von der Branche ab, es hängt sehr stark vom Betrieb und der konkreten Aufgabe ab. Aber in einer Dienstleistungsgesellschaft kann sehr viel mehr als früher durch mobiles Arbeiten erledigt werden.

FRAGE 4: Begünstigt mobiles Arbeiten die Gesundheit der Beschäftigten oder belastet es sie eher – Chance oder Last, in welche Richtung tendieren Sie?

OT4 Franz Knieps: Ob mehr Chance oder mehr Last hängt sehr von den Rahmenbedingungen für mobiles Arbeiten ab. Sind die Räumlichkeiten beengt zuhause? Ist jemand alleinerziehend? Sind Dinge wie Schule oder Kita geschlossen? Dann entwickelt sich mobiles Arbeiten sehr schnell zu einer großen Last. Hat der Arbeitgeber gutes Equipment, sind die Raumverhältnisse zuhause so, dass ein separates Arbeitszimmer vorhanden ist, lebt man in großen Wohnungen und hat man eh eine Neigung mobil zu arbeiten, dann begünstigt das eher die Gesundheit. Alles hängt davon ab, wie die Führung der Mitarbeiter organisiert ist.

FRAGE 5: Wie sollte die Führung organisiert sein? Vor welcher Herausforderung stehen Unternehmensführungen mit Blick auf ein gesundes mobiles Arbeiten?

OT5 Franz Knieps: Die Führungskräfte müssen erst einmal selber lernen, dass mobiles Arbeiten neue Herausforderungen bedeutet. Sie müssen sehen, wo die Grenzen von mobilem Arbeiten liegen, beispielsweise in der Zeit, beispielsweise im Raum. Sie müssen sich stärker als bei den Präsenzarbeitsmöglichkeiten darauf einstellen, dass die einzelnen Mitarbeiter sehr unterschiedliche Potenziale für mobiles Arbeiten haben und dass an unterschiedlichen Punkten Gefahren lauern, beispielsweise einer Überforderung durch die Entgrenzung der Arbeitszeit. Also hier müssen die Führungskräfte lernen, unter anderen Verhältnissen ihre Mitarbeiter zu coachen.

FRAGE 6: Mehr „mobiles Arbeiten“ und im digitalen Raum. Welche Auswirkungen sehen Sie für unser Gesundheitssystem, wie stellt sich medizinische Versorgung künftig dar?

OT6 Franz Knieps: Die digitale Transformation wird Versorgungsstrukturen und Versorgungsprozesse verändern. Beispielsweise – heute müssen Pflegebedürftige zu einer medizinischen Untersuchung in die Arztpraxis oder im Notfall ins Krankenhaus gekarrt werden. Künftig wird die Diagnose sehr stark durch Telemedizin gemacht werden können. Zweites Beispiel: Heute müssen Menschen nach einem schweren medizinischen Vorfall, nach Herzinfarkt oder Schlaganfall, zur Überwachung immer wieder zum Arzt beziehungsweise ins Krankenhaus zurückgebracht werden. In Zukunft wird diese Überwachung digital erfolgen, durch Direktübertragung so genannter Vitaldaten in ein telemedizinisches Zentrum mit der Information an Patientinnen und Patienten, an Ärztinnen und Ärzte, wenn eine Intervention geboten ist.

Interview mit Prof. Dr. Holger Pfaff zum BKK Gesundheitsreport 2020

Prof. Pfaff ist Direktor des Instituts für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft (IMVR) der Humanwissenschaftlichen Fakultät und der Medizinischen Fakultät der Universität zu Köln und Herausgeber des BKK Gesundheitsreports

FRAGE 1: Herr Prof. Pfaff, richten wir zunächst mal den Fokus aufs Pendeln. Welche gesundheitlichen Auswirkungen sehen Sie für die Beschäftigten?

OT1 Prof. Holger Pfaff: Es gibt Untersuchungen, die zeigen, dass tägliches Pendeln auf jeden Fall gesundheitliche Probleme mit sich bringen kann. Das geht in Richtung psychosomatischer Beschwerden. Das kann ein geringes Wohlbefinden beinhalten, die Müdigkeit steigt, Kopfschmerzen steigen, Nackenschmerzen, Schlafschwierigkeiten, all das ist nachgewiesen. Insgesamt muss man jedoch die Gesamtsituation einer Person betrachten. Es kann also sein, dass diese Probleme entstehen, aber man das Ganze macht, damit ein anderes Problem nicht entsteht, zum Beispiel Trennung von der Familie.

FRAGE 2: Mal umgekehrt gefragt, wie lässt sich gesundes „mobiles Arbeiten“ beschreiben – welcher Voraussetzungen, Bedingungen bedarf es dazu?

OT2 Prof. Holger Pfaff: Gute Bedingungen sind einerseits, dass hauptsächlich meine Bedürfnisse befriedigt werden durch die konkrete Mobilität. Der zweite Punkt ist: Ich brauche natürlich, wenn ich jetzt so pendle, die technischen Voraussetzungen, ich brauche also gute Verkehrsverbindungen. Wenn ich Homeoffice mache, brauche ich eine entsprechende Infrastruktur zuhause, wo alles klappen muss, nicht dass der Rechner immer zusammenbricht. Und ich brauche auf der Seite des Arbeitgebers das prinzipielle Einverständnis, dass diese Mobilität wirklich auch vom Arbeitgeber gewollt ist. Wir brauchen also eigentlich eine win-win-Situation zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer.

FRAGE 3: Wohin sehen Sie unsere Arbeitswelt künftig steuern – eher in eine Präsenz- und Pendelkultur der „Vor-Corona-Zeit“ oder in Richtung des Homeoffice?

OT3 Prof. Holger Pfaff: Ganz konkret gibt’s ja viele Mitarbeiter, die sagen, ich will soziale Kontakte haben, ich merke, ich arbeite auch nicht nur, um Geld zu verdienen, sondern eben um soziale Kontakte zu haben. Es gibt auch viele Dinge in Unternehmen, die setzen voraus, dass die Leute kooperieren und dass sie mal kurz sich austauschen. Die Sachen werden auf der Strecke bleiben, wenn man nur Homeoffice macht, weil bei Homeoffice meistens formal geredet wird. Das Informelle, was oft nach diesen Sitzungen stattfindet, wo man noch kurz was klären kann, wo man auch noch klären kann, wenn man den anderen gerade angefahren hat, wo man praktisch noch mal sagen kann, Du, es war nicht so gemeint, all das wird schwieriger über die Distanz zu machen. Ich befürchte, dass Homeoffice am Schluss das Sozialkapital, also das Vitamin B, was zwischen den Beziehungen liegt, das wird leiden auf Dauer, wenn wir nur Homeoffice machen, weil wir zur Vereinzelung kommen und es dann schwer ist noch Gemeinsamkeiten, Solidarität, Zusammenhalt zu demonstrieren und auch zu leben.

FRAGE 4: Also ein Plädoyer für die Präsenzkultur?

OT4 Prof. Holger Pfaff: Der Mittelweg zwischen Präsenzkultur und Homeoffice besteht darin, dass zumindest es einen oder zwei Tage in der Woche gibt, wo man sich trifft an so genannten jour-fix-Tagen, wo man fixe Termine hat, wo man klar weiß, der Dienstag und der Mittwoch, da bin ich im Büro, da kann man sich austauschen. An den Resttagen kann ich Homeoffice machen.

Interview mit Prof. Dr. Simone Kauffeld zum BKK Gesundheitsreport 2020

Prof. Dr. Simone Kauffeld hat den Lehrstuhl für Arbeits-, Organisations- und Sozialpsychologie, Technische Universität Braunschweig inne.

FRAGE 1: Frau Prof. Kauffeld, virtuelles Zusammenarbeiten, Homeoffice, erlebt mit der Covid-19-Pandemie eine bislang nie gekannte Beschleunigung. Welche Chance erkennen Sie darin?
OT1 Prof. Simone Kauffeld: Es kann gemeinsam zeit- und ortsunabhängig an Lösungen gearbeitet werden und Teammitglieder können nach ihrer fachlichen Qualifikation statt nach der räumlichen Verteilung zusammengestellt werden. Kosteneinsparungen können ein Resultat sein, beispielsweise durch weniger Dienstreisen und Büroflächen. Regionen mit geringerer Infrastruktur werden attraktiver aufgrund geringerer Büromieten und Personen mit geringerer Mobilität können integriert werden und Arbeitsprozesse können leichter dokumentiert werden genauso wie Arbeitsergebnisse. Aber auch für Mitarbeitende ergeben sich Chancen mobil zu arbeiten. Zum Beispiel ist ein ungestörteres, konzentrierteres Arbeiten auf dem Homeoffice möglich, eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben wird von Mitarbeitenden genannt, die Einsparung von Fahrtzeiten und Kosten durch geringeren Pendelaufwand.

FRAGE 2: Jeder Chance ist auch eine Schattenseite – wo sehen Sie die Probleme?

OT2 Prof. Simone Kauffeld: Die mobile Arbeit wird häufig/vor allem mit weniger Kontrolle für die Führungskraft gleichgesetzt, spätes Feedback bei Unregelmäßigkeiten und mit einem höher länger angestauten und häufiger unentdeckten Konfliktpotential in Verbindung gebracht. Auch technische Schwierigkeiten werden häufig genannt. Für Mitarbeitende gibt es aber auch Schattenseiten. Dort wird die mangelnde Trennung von Arbeit und Privatleben, die hohen Anforderungen an die Fähigkeit zur Selbstorganisation, Termin- und Zeitdruck, zum Beispiel durch Informationsüberflutung, genannt oder auch die reduzierte, soziale Unterstützung durch KollegInnen und Vorgesetzte.

FRAGE 3: Welche Herausforderungen stellen sich auf Seiten der Führung von Unternehmen, ein zugleich wirtschaftlich effizientes und gesundes mobiles Arbeiten für die Mitarbeitenden zu ermöglichen?

OT3 Prof. Simone Kauffeld: Die Führung „mobil Arbeiten“ erfolgt ergebnisorientiert. Dafür ist es wichtig, Bedingungen so zu gestalten, dass mobil Beschäftigte die vereinbarten Ziele auch tatsächlich erreichen können. Darüber hinaus ist es wichtig, Führungsfunktionen im Sinne einer geteilten Führung oder sich selbst organisierender Teams an das Team zu delegieren und personale Führung durch strukturelle Führung, also zum Beispiel durch die Implementation von Feedback-Mechanismen in IT-Tools zu ergänzen.

FRAGE 4: Die virtuelle Arbeit im Homeoffice schafft physische Distanz – wie lässt sich der Gedanke einer Arbeit im Team dennoch aufrechterhalten?

OT4 Prof. Simone Kauffeld: Es ist vorteilhaft, wenn die Teammitglieder direkt zu Beginn die Rollen im Team klären und Aufgaben klar verteilen. Sollten Vereinbarungen zur virtuellen Kommunikation im Team aufgestellt werden und etabliert werden, dazu gehören auch regelmäßige Reflexionen und Feedback. Es sollte Zeit für nicht aufgabenbezogene, beziehungsorientierte Kommunikation eingeplant werden, um die Beziehungsgestaltung und somit gemeinsam geteilte Teamemotion im Sinne von Vertrauen und psychologischer Sicherheit zu fördern.

Interview mit Dirk Rennert zum BKK Gesundheitsreport 2020

Dirk Rennert ist Referent in der Abteilung Datenmanagement, Empirie, IT und Projektleiter Gesundheitsberichterstattung im BKK Dachverband e.V.

FRAGE 1: Herr Rennert, erst mal der Blick aufs allgemeine Gesundheitsgeschehen. Betrachten wir die Fehltage auf Arbeit, welche Krankheitsarten schlagen derzeit am häufigsten zu Buche?
OT1 Dirk Rennert: Insgesamt waren die Beschäftigten im Jahr 2019 im Schnitt 18,4 Tage krankgeschrieben. Davon gehen allein viereinhalb Tage auf Muskel-Skelett-Erkrankungen zurück. Mit rund drei Tagen werden die zweitmeisten Fehltage durch psychische Störungen verursacht. Auf Platz drei finden sich mit 2,7 Tagen in diesem Jahr die Atemwegserkrankungen. Zusammen sind allein diese drei Krankheitsarten für 10,2 Fehltage oder anders ausgedrückt für die Hälfte aller Ausfallzeiten verantwortlich.

FRAGE 2: Seit mehr als zehn Jahren beobachten Sie die Fehltage in den Betrieben. Wie hat sich das Krankheitsgeschehen seither entwickelt, sehen Sie Veränderungen?

OT2 Dirk Rennert: In den vergangenen zehn Jahren sind die Fehltage der Beschäftigten um mehr als ein Drittel angestiegen. Ganz konkret heißt das: Im Jahr 2009 waren Beschäftigte im Durchschnitt noch rund 14 Tage krankgeschrieben. Im Jahr 2019 sind es mit 18,4 Tagen schon über vier Tage mehr.

FRAGE 3: Der Schwerpunkt des BKK Gesundheitsreports in diesem Jahr lautet Mobilität. Wie gestaltet sich Mobilität heute? Sie haben dazu mehrere Tausend Beschäftige befragt …

OT3 Dirk Rennert: … durchschnittlich brauchen Berufstätige 17 Kilometer beziehungsweise 25 Minuten für ihren meist täglichen Weg zur Arbeit. Am häufigsten pendeln beispielsweise Männer, junge Beschäftigte, höher Qualifizierte und Menschen in Dienstleistungsberufen. Dabei legen sie längere Strecken mit mehr Zeitaufwand zurück. Beschäftigte im IT-Bereich sind im Schnitt etwa eine halbe Stunde täglich unterwegs, bei den Bauberufen sind es nur knapp 20 Minuten.

FRAGE 4: In welcher Weise wirkt sich das Pendeln zur Arbeit auf die Gesundheit der beschäftigten Menschen aus?

OT4 Dirk Rennert: Auf den ersten Blick unterscheiden sich Pendler und Nicht-Pendler hinsichtlich ihrer Gesundheit gar nicht so stark. Schaut man sich die Entfernung und die Zeit, die Pendler für den Weg zur Arbeit aufwenden, genauer an, gibt es allerdings deutliche Unterschiede. Je länger der Weg und die Zeit zur Arbeit ausfallen, desto negativer wirkt sich das auf die seelische und körperliche Gesundheit und auf das Sozialleben der Pendler aus.

FRAGE 5: Lassen sich regionale Unterschiede bei der Häufigkeit/Frequenz des Pendelns und der jeweiligen gesundheitlichen Belastung ausmachen?

OT5 Dirk Rennert: Landkreise, die in unmittelbarer Nähe zu wirtschaftlichen Ballungszentren oder Großstädten liegen, haben die größten Pendleranteile. Zum Beispiel im Landkreis Leipzig: Hier sind mehr als zwei Drittel der Beschäftigten Pendler. In der Stadt Leipzig liegt der Anteil hingegen nur bei einem Viertel. Die größten Strecken zur Arbeit legen Beschäftigte in Ostdeutschland zurück. Auch in grenznahen Regionen ist der Weg zur Arbeit besonders lang.

Interview mit Dr. Matthias Richter zum BKK Gesundheitsreport 2020

Dr. Matthias Richter ist Referent in der Abteilung Datenmanagement, Empirie, IT im BKK Dachverband e.V. 

FRAGE 1: Herr Dr. Richter, wie gestaltet sich Mobilität heute? Sie haben dazu mehrere Tausend Beschäftige befragt …

OT1 Dr. Matthias Richter: … durchschnittlich benötigen die Berufstätigen 17 Kilometer beziehungsweise 25 Minuten zur Arbeit. Meistens pendeln dabei die Beschäftigten täglich. Am häufigsten pendeln beispielsweise Männer, junge Beschäftigte, Hochqualifizierte und Beschäftigte in Dienstleistungsberufen. Auch Homeoffice kann unter mobiles Arbeiten gezählt werden. Und dies ist für mehr als die Hälfte der Befragten schon heute Normalität.

FRAGE 2: Bleiben wir mal beim Pendeln. In welcher Weise wirkt sich dies auf die Gesundheit der Menschen aus?
OT2 Dr. Matthias Richter: Vergleicht man Pendler und Nichtpendler hinsichtlich ihrer Gesundheit, so unterscheiden die sich auf den ersten Blick gar nicht so stark. Schaut man genauer hin und differenziert nach Weg zur Arbeit und nach der Zeit, die sie für dieses Pendeln brauchen, dann gibt es schon deutliche Unterschiede. Je länger jemand pendeln muss, desto mehr wirkt sich das negativ auf psychische und physische Gesundheit, aber auch vor allen Dingen auf das Sozialleben aus.

FRAGE 3: Kommen wir zum Homeoffice, die andere Form mobiler Arbeit. Dies dürfte gerade in Zeiten der Covid-19-Pandemie gelten, oder?

OT3 Dr. Matthias Richter: In unserer Beschäftigtenumfrage gab etwa die Hälfte der Befragten an, dass für sie das Arbeiten im Homeoffice deutlich zugenommen hat. Auf der anderen Seite hat gleichzeitig das Pendeln zur Arbeit für etwa ein Drittel abgenommen. Eine Auswirkung auf ihre Gesundheit sehen die meisten nicht, genauso wie sie keine Auswirkungen auf das Arbeitsleben sehen. Etwa jeder Zehnte sieht sogar positive Auswirkungen. Dagegen gibt mehr als ein Viertel der Befragten an, dass die Umstände der Coronavirus-Pandemie sich negativ sowohl auf ihr gesamtes Arbeitsleben als auch insbesondere auf ihre psychische Gesundheit ausgewirkt hat.

FRAGE 4: Welchen Anteil hat eigentlich Covid-19 gemessen an den bisherigen Fehltagen in den Betrieben?

OT4 Dr. Matthias Richter: Wir hatten im April eine erste Spitze von mehr als 100 Fehltagen je 10 Tausend Beschäftigte. Danach nahmen diese Kennzahlen deutlich ab über den Sommer. Seit September ziehen sie aber wieder an. Der Anteil der Arbeitsunfähigkeitsfälle und –tage aufgrund von Covid-19 ist aber am Gesamtgeschehen sehr gering. Das schwankt als Anteil so zwischen 0,3 und einem Prozent.

FRAGE 5: Vor welche Herausforderungen sehen Sie die Unternehmen durch mobiles Arbeiten künftig gestellt?

OT5 Dr. Matthias Richter: Beschäftigte wünschen sich am häufigsten als Unterstützung von ihrem Arbeitgeber, dass sie flexible Arbeitszeiten bekommen und die Möglichkeit haben im Homeoffice zu arbeiten. Das birgt viele Risiken, aber auch viele Chancen. Mitarbeitende können nun flexibel arbeiten, müssen aber mehr als zuvor sich selbständig organisieren. Gesunde Arbeitsbedingungen für Mitarbeitende sind aber auch Führungsaufgabe. Dies im Auge zu behalten wird für Führungskräfte dadurch schwieriger, dass man selten oder nie zur gleichen Zeit, am gleichen Ort arbeitet. Auch wird die Kommunikation auf Distanz oft förmlicher. Befinden und Emotion, Gruppengefühl im Team im Auge zu behalten wird sicher für Führungskräfte eine neue Herausforderung sein.

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