BKK Gesundheitsreport

Pressematerial zum BKK Gesundheitsreport 2022

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Seniorin mit pflegender Angehöriger

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Der Podcast zum BKK Gesundheitsreport 2022: Pflegefall Pflege?

BKK Gesundheitsreport 2022

Thema: Pflegefall Pflege

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Prof. Dr. Holger Pfaff: Institut für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft, Universität Köln

Dr. Bernadette Klapper: Bundesgeschäftsführerin, Deutscher Berufsverband für Pflegeberufe – Bundesverband e.V.

Franz Knieps: Vorstandsvorsitzender BKK Dachverband e.V., Berlin

Dr. Matthias Richter: Referent Gesundheitsberichterstattung BKK Dachverband e.V., Berlin

Dirk Rennert: Projektleiter Gesundheitsberichtserstattung BKK Dachverband e.V., Berlin

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SPRECHERIN: Wir wertschätzen die Pflege von Kontakten in unserer Arbeits- und Lebenswelt. Aber wie steht es um die Wertschätzung der Pflege von Bedürftigen, der Alten und Kranken, um die, die beruflich dafür Sorgen tragen? Diesen Menschen, den Pflegenden, und deren Belastung hat sich nun der diesjährige Gesundheitsreport der Betriebskrankenkassen gewidmet unter dem Titel „Pflegefall Pflege“. Also ist die Pflege von Menschen selbst ein Pflegefall? Ja, sagt Prof. Holger Pfaff. Er ist Direktor des Instituts für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft der Universität zu Köln:

Prof. Holger Pfaff: Wir haben sehr viele Belastungsfaktoren, körperliche Belastungsfaktoren, schwere körperliche Arbeit, aber auch psychische Belastungsfaktoren in Richtung Arbeitsverdichtung. Viele Pflegekräfte haben das Gefühl, dass sie heute mehr und intensiver arbeiten müssen als früher. Und viele haben dann auch das Gefühl, dass diese Verdichtung der Arbeit dazu führt, dass die Qualität der Versorgung leidet, dass sie nicht mehr so die Qualität bringen können wie früher.

SPRECHERIN: Die Konsequenz: Unter Pflegenden macht sich Unzufriedenheit breit! Dr. Matthias Richter, Referent für die Gesundheitsberichterstattung beim BKK Dachverband in Berlin:

Dr. Matthias Richter: Mehr als 40 Prozent der Altenpflegekräfte genauso wie der Gesundheits- und Krankenpflegekräfte gibt an, dass sie sich aktuell den Anforderungen ihrer Arbeit nur teilweise oder gar nicht gewachsen sehen. Da ist es wenig verwunderlich, dass beispielsweise jeder vierte Beschäftigte in der Gesundheits- und Krankenpflege darüber nachdenkt in den nächsten zwei Jahren den Arbeitgeber zu wechseln. Mehr als jeder Fünfte denkt sogar darüber nach den Beruf komplett aufzugeben. Ein weiteres Problem ist: Jede dritte Altenpflegekraft und etwa ein Viertel aller Gesundheits- und Krankenpflegekräfte hat eine negative Prognose, ob sie überhaupt bis zur Rente ihren Beruf ausüben können.

SPRECHERIN: Weniger der Beruf selbst, sondern vor allem die Verhältnisse im Beruf sind es, die Pflegenden heute zu schaffen machen, unterstreicht Dirk Rennert, Leiter der Gesundheitsberichterstattung beim BKK Dachverband:

Dirk Rennert: Die überwiegende Mehrheit aller Befragten sagt zwar, dass der Pflegeberuf eine anspruchsvolle Tätigkeit und ein zukunftssicherer Beruf ist. Andererseits ist die Mehrheit der Meinung, dass sowohl die Bezahlung in der Pflege nicht angemessen ist als auch die Vereinbarkeit von Beruf und Familie in diesem Berufsfeld nicht oder nur schlecht gegeben ist. Zudem würde die Hälfte aller Befragten den Pflegeberuf nicht als Ausbildungsberuf weiterempfehlen und ist der Meinung, dass der Pflegeberuf leider keine hohe gesellschaftliche Anerkennung genießt.

SPRECHERIN: Doch nicht nur gesellschaftlich sei die Arbeit von Pflegenden wenig anerkannt, sondern auch innerhalb der Kliniken und Heime, sagt Dr. Bernadette Klapper. Sie ist Bundesgeschäftsführerin des Deutschen Berufsverbands für Pflegeberufe in Berlin.

Dr. Bernadette Klapper: Wenn man heute die Situation anguckt, fühlt man sich wirklich erinnert an Familienverhältnisse der 50ger Jahre. Ich nenne das immer gerne die Pflegefamilie, also Vater-Mutter-Kind. Und wir haben hier Arzt, Pflege und Patient in der Analogie. Und dann ist es eigentlich so, dass der Vater als Haushaltungsvorstand, in dem Fall die Medizin, ansagt, was richtig und wichtig ist in Sachen Gesundheit, als einzige, die das sagen dürfen. Die Mutter kümmert sich irgendwie um die Kinder, sieht zu dass der Laden läuft, macht alles drum herum, hat aber auch eine relativ diffuse Aufgabe. Und sie muss ihren Mann fragen, ob sie arbeiten gehen darf, sprich, sie wird also in jedem Schritt gesteuert und darf nicht eigenständig sein. Und die Kinder haben eigentlich nicht so groß das Wort. Und das sieht man auch, wenn man auf unsere Patienten, Patientinnen guckt. Ich weiß, das ist ein ganz schön krasser Vergleich, aber ich halte ihn nicht für ganz falsch, zumal ja die Strukturen unserer Selbstverwaltung just in den 50ger, 60ger Jahren angelegt wurden und eigentlich noch genauso erhalten sind.

SPRECHERIN: Eine Maßnahme zur Verbesserung der Verhältnisse sei, das Berufsbild von professionell Pflegenden aufzuwerten:

Dr. Bernadette Klapper: Es erfordert natürlich grundsätzlich eine gute Bildung, gute Qualifizierung auf allen Ebenen, die wir haben, das heißt, erst einmal wirklich eine starke generalistische Ausbildung. Und dann wirklich gut das auszuführen, was wir auch im Pflegeberufegesetz jetzt haben, nämlich einen Berufszugang über primär qualifizierende Hochschulstudiengänge, sprich, einen Bachelor in Pflege und nachher für die Spezialisierung im Feld auch Masterstudiengänge.

SPRECHERIN: Franz Knieps, Vorstandsvorsitzender des BKK Dachverbands, geht noch einen Schritt weiter. Er sieht ein grundsätzliches Umdenken bei der Kranken- und Altenpflege von Nöten. Seine Forderung: Weniger stationäre Aufenthalte hin zu mehr ambulanter Pflege:

Franz Knieps: Wir müssen ja zum einen feststellen, dass der größte ambulante Pflegedienst die Familie ist! Aber auch da ändern sich Strukturen. Wir haben heute in den Ballungsgebieten mehr als 50 Prozent Ein-Personen-Haushalte. Da wird das schwieriger. Deshalb muss das System viel durchlässiger werden. Wir haben heute Vorstellungen, dass, nach Pflegegraden gestaffelt, entsprechende Angebote gemacht werden. Die müssen viel früher greifen, also das, was man früher als Pflegestufe Null bezeichnet hat. Und die müssen viel flexibler nach dem individuellen Bedarf gestaltet sein. Die Hilfsbereitschaft in der Familie, in der Nachbarschaft, im Haus, ist viel größer als wir glauben!

SPRECHERIN: Für Franz Knieps ist die Pflege älterer und kranker Menschen nicht bloß ein gesundheitspolitischer sondern ein gesamtgesellschaftlicher Auftrag. Sein Fazit:

Franz Knieps: Wir haben auch in der Pflege eine Zeitenwende! Die Babyboomer gehen in Rente und damit kommen sie der Pflegebedürftigkeit näher. Auf der anderen Seite: Die Fortschritte in der Medizin und in der Pflege führen dazu, dass die Aufenthalte in Pflegeheimen auf kurze Zeiten beschränkt werden können. Wenn wir also viel im häuslichen Umfeld ambulant behandeln können, ist das eine Chance sowohl für die Gepflegten als auch für die Pflegenden, entspannter mit der Situation umgehen zu können.

SPRECHERIN: Irgendwie scheint die Welt aus den Fugen geraten. Was wir gewiss meinten, weicht einem Neuen. Und das Neue verändert uns, unsere gesamte Lebens- und Arbeitswelt. Ein winziges Virus schafft Distanz. Und beschleunigt doch nur den Wandel, der sich längst anbahnte. Häufig erleben und begegnen wir einander nur noch im digitalen Raum. Aber wo bleibt der Mensch? Dieser Frage geht auch der diesjährige Gesundheitsreport der Betriebskrankenkassen nach. Franz Knieps zieht Bilanz. Er ist Vorstand des Dachverbands Betriebskrankenkassen in Berlin:

Franz Knieps: Wir erleben, dass die früher scharfe Trennung zwischen Selbständigkeit und abhängiger Beschäftigung zunehmend ineinander übergeht. Wir erleben, dass früher die klaren und tief gestaffelten Hierarchien zunehmend aufgeweicht werden. Die Welt der Arbeit und die Welt der Wirtschaft wandelt sich. Die frühere Situation, dass Menschen lebenslang bei einem Arbeitgeber beschäftigt sind, wird eher die Ausnahme. Und last but not least die digitale Transformation erfasst natürlich auch die Wirtschaft und das Arbeitsleben. Neue Skills werden benötigt, um digital mithalten zu können. Aber diese neuen Skills führen auch dazu, dass Entfernung und Entfremdung von der Arbeit größer werden können. Die Gliederung der Arbeit in Raum und Zeit wird zunehmend aufgeweicht. Und das kann, muss aber nicht zu Problemen führen.

SPRECHERIN: Paradigmatisch für diese Aufweichung steht die Arbeit im Homeoffice, lange ein Trend, doch durch Corona fast schon Normalität, die so manchem Beschäftigten zusetzt. Dr. Matthias Richter, Referent für die Gesundheitsberichterstattung beim BKK Dachverband:

Dr. Matthias Richter: Mehr als jeder vierte Beschäftigte gibt an, dass sich das eigene Unternehmen gut oder sogar sehr gut auf die Herausforderungen der Coronavirus-Pandemie eingestellt hat. Gleichzeitig sagt aber auch etwa ein Viertel der Befragten, dass die Arbeitsmotivation, genauso wie der Zusammenhalt in der Belegschaft schlechter geworden ist. Beim Gesundheitszustand zeigt sich eine Verschlechterung mit zunehmender Dauer der Pandemie. In der Befragung im Jahr 2020, einige Monate nach Beginn der Pandemie, waren die gemachten Angaben kaum anders als vor der Pandemie. Hingegen ein Jahr später, im Jahr 2021, gaben deutlich mehr Personen an, dass ihr körperlicher oder psychischer Zustand sich verschlechtert hätte.

SPRECHERIN: Gefühlt birgt sich das Virus überall. Und die Gefahr ist real. Vor allem für die Menschen, die nicht aufs Homeoffice zurückgreifen können – durch alle Personengruppen, sagt Dirk Rennert, Leiter der Gesundheitsberichterstattung beim BKK Dachverband:

Dirk Rennert: Vor allem die jüngeren Beschäftigten sind häufiger von einer Arbeitsunfähigkeit aufgrund von COVID-19 betroffen. Aber je älter die Beschäftigten sind, desto länger sind sie im Durchschnitt wegen Covid-19 krankgeschrieben. Zudem zeigt sich, dass beschäftigte Frauen häufiger von Fehlzeiten wegen Covid-19 als ihre männlichen Kollegen betroffen sind. Das liegt vor allem daran, dass Frauen besonders häufig in Berufen und Branchen mit erhöhtem Infektionsrisiko arbeiten.

SPRECHERIN: Etwa in Pflegeberufen, nur als Beispiel. Unter Masken wird das Gesicht unkenntlich und der Wunsch nach Begegnung desto größer, weiß BKK Vorstand Franz Knieps:

Franz Knieps: Je länger natürlich die Pandemie dauert, desto größer wird die Sehnsucht wieder zu Gewohntem, zu kollegialer Kooperation zurückzukehren. Man darf ja nicht vergessen, es ist ja nicht nur die Arbeit, der Betrieb ist ja auch ein sozialer Ort, wo Freundschaften stattfinden, wo gute Nachbarschaften stattfinden, wo gemeinsam etwas erarbeitet wird. Und das ist schwieriger, wenn man nur auf die Kachel des Bildschirms schaut.

SPRECHERIN: Der Betrieb als Ort des Sozialen. Den Gedanken unterstreicht auch Prof. Holger Pfaff, Professor am Institut für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft der Universität zu Köln:

Prof. Holger Pfaff: Das Unternehmen muss so eine Art Gemeinschaftsgefühl wieder erzeugen. Das geht jetzt verloren, weil wir sind in gewisser Weise atomisiert. Und das führt dazu, dass das Gemeinschaftserleben wegbricht. Und das ist ein großer Teil der Emotion und auch der Motivation für Leute zur Arbeit zu gehen. Es ist nicht so sehr die Arbeit selbst, sondern es ist auch dieses Unter-Leuten-sein, sich mit Leuten austauschen können, mal gemeinsam Lachen.

SPRECHERIN: Folgt man Prof. Pfaff trägt nicht bloß die Arbeit an Inhalt und Strategie zur Resilienz, zur Widerstandsfähigkeit von Unternehmen bei, sondern auch und vor allem der beiläufige Kontakt miteinander:

Prof. Holger Pfaff: Wir entdecken auch den Wert der Gespräche neben der eigentlichen Sache, also das Gespräch nach einer Sitzung, wo man sich noch kurz austauscht. Da werden auch die geheimen Informationen, wenn man so will, ausgetauscht. Aus organisationswissenschaftlicher Sicht haben wir ja zurzeit eine Formalisierung der ganzen Arbeit. Und das Informelle, was die Arbeit auch ausmacht, das wird jetzt geringer, weil es gar nicht gelebt werden kann.

SPRECHERIN: Bei aller Sehnsucht nach dem Gewohnten, die Welt schreitet fort, transformiert sich in Richtung des Digitalen. Dem pflichten auch die im Gesundheitsreport der BKK Befragten bei. Die Frage bleibt, wie das Neue mit dem Alten zu verbinden sei und im Sinne einer gesunden Lebens- und Arbeitswelt – nicht zuletzt eine Frage des politischen Willens. Franz Knieps:

Franz Knieps: Ich wünsche mir von einer neuen Regierung, dass sie mal innehält und sagt, was wollen wir eigentlich politisch längerfristig erreichen. Man nennt das neudeutsch ‚Ordnungspolitik‘. Ich bin von Hause aus Jurist. Da müsste man meinen, dass Juristen das kleinteilige Gesetze-machen lieben. Ich halte aber diesen Weg für falsch. Ich glaube, wir brauchen weniger Regulierungsmenge und eine geringere Regulierungsdichte. Ich bin nahezu süchtig danach, Spielräume für Innovationen und Experimente zu bekommen, denn das altehrwürdige Gesundheitssystem ist in die Jahre gekommen und muss den Herausforderungen angepasst werden. Deshalb hat für mich absolute Priorität, integrative Leistungserbringung zu fordern und zu fördern und digitale Transformation zu beschleunigen und auch in den eigenen Reihen dafür zu werben, sich auf diese digitale Welt einzustellen.

Kontakt

Andrea Röder
Referentin Strategische Unternehmenspolitik Verbandsarbeit, Gremien, Netzwerkbüro

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